(5) Mythendämmerung
Die Begriffe «Globalisierung» und «Wissensgesellschaft» sind mehrdeutige Wieselworte. Im Zeichen der post-modernen Beliebigkeit beherrschen sie den wissenschaftlichen und wirtschaftspoliti-schen Diskurs. Durch die Widerlegung von Vorurteilen und Irrtümern will der Autor einen Beitrag zur Begriffsklärung und zur Versachlichung der Debatte leisten.
«Globalisierung» und «Wissensgesellschaft» werden heute als die entscheidenden Herausforderungen der Politik wahrgenommen. Dieser Befund ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz neu und vor allem nicht ganz klar. Adam Smith, Wilhelm Röpke und Friedrich August von Hayek haben das Phänomen der internationalen Arbeits- und Wissensteilung schon analysiert, bevor es in den letzten Jahren zum Modethema wurde. Der heutige Diskurs wird von Vorurteilen und Mythen dominiert. Besonders im «alten Europa» glaubt man in der Regel an Variationen der folgenden Mainstream-Theorie:
– Globalisierung ist ein neuartiges Phänomen, eine spezielle «Herausforderung» unserer Tage und gleichzeitig ein unumkehrbares «Schicksal».
– Globalisierung produziert die weltweite Herrschaft des globalen Marktes, begleitet von der Ohnmacht der Politik und dem Rückzug des Staates.
– Globale Marktherrschaft ist schädlich oder zumindest moralisch minderwertig (weil profitgesteuert). Globalisierung nützt den Reichen und schadet den Armen.
– Eine politische Antwort auf die Globalisierung ist nötig oder zumindest moralisch überlegen (weil gemeinwohlorientiert). Politik zähmt die Starken und schützt die Schwachen.
– Weil die «Wirtschaft» global geworden ist, muss auch die Politik global werden, um Gemeinwohlimperative durchsetzen zu können.
Die beiden ersten Thesen sind bestenfalls Halbwahrheiten und die drei letztgenannten sind gefährliche Irrtümer.
Der erste Mythos beruht auf der Behauptung, Globalisierung sei etwas Neues. Dies trifft nicht zu. Schon im frühen 19. Jahrhundert gab es weltweit einen regen Handel, etwa mit Stahl, Eisen, Getreide und zahlreichen Konsumgütern. Er war nicht die Folge «globaler Initiativen», sondern basierte auf der Einsicht der damaligen Welthandelsmacht Grossbritannien, dass eine unilaterale Marktöffnung für sie selbst von Vorteil sei.
Auch diese Globalisierung wurde durch neue Technologien vorangetrieben: in der Produktion durch die Dampfmaschine, im Transportwesen durch die Eisenbahn, in der Kommunikation durch den Telegraphen. Die internationalen Arbeitsmärkte waren offener als heute. Ohne Globalisierung wären im 19. Jahrhundert in Irland Hunderttausende verhungert; die globalen Arbeitsmärkte ermöglichten jedoch die Auswanderung in die USA. Heute bedeutet Globalisierung für Irland etwas anderes: einen bemerkenswerten Erfolg im Standortwettbewerb um ausländische Direktinvestitionen, der im ehemaligen «Armenhaus Europas» innerhalb weniger Jahre ein höheres Pro-Kopf-Einkommen ermöglicht, als dies in Deutschland, Grossbritannien oder Frankreich erzielt wird.
Die Zunahme der internationalen Arbeits- und Wissensteilung ist jedoch kein naturgegebenes Schicksal. 1914 weicht diese Internationalisierung einem stark protektionistischen und neo-merkantilistischen Regime, das über 40 Jahre andauert. Die ersten Globalisierungsgegner waren kriegslüsterne Kaiser und Könige, später rückten Faschisten und Kommunisten nach. Auch nach 1945 fand die «Reglobalisierung» des Westens nur in bescheidenem Ausmass statt. Erst in den 1980er Jahren befreiten sich die Weltmärkte weitgehend vom Protektionismus der Kriegswirtschaft. Globalisierung ist also weder neu noch unumkehrbar.
Der zweite Mythos hängt mit dem Wohlfahrtsstaat zusammen, dessen taumelndes Be-harren nicht nur in Deutschland zu den brennendsten aktuellen Problemen gehört. Der Wohlfahrtsstaat verschlingt in Deutschland fast die Hälfte des insgesamt erwirtschafteten Geldes. Vor allem die Sozialbudgets vermelden jährlich neue Rekordstände. Gleichzeitig gilt als ausgemacht, der Staat habe zuwenig Geld und sei vor allem wegen der Globalisierung im ungeordneten Rückzug begriffen. Der Mythos von der Ohnmacht des Staates und der neuen Hegemonie des Marktes ist ebenso verbreitet wie verfehlt.
Schon im späteren 19. Jahrhundert ging Globalisierung mit einer Ausweitung der Staatsaufgaben einher: Sozialversicherungen und Fabrikgesetze schufen den Grundstein europäischer Sozialstaaten, ohne mit dem wachsenden Welthandel und der Migration in Konflikt zu geraten. Die Staatsquoten blieben freilich noch bescheiden. 1913, am Ende des goldenen Zeitalters des «Gladstone-Liberalismus», schwankten sie für Frankreich, Deutschland, Grossbritannien oder den USA zwischen acht und 18 Prozent.
Die Zahlen von 1938 (zwischen 20 Prozent in den USA und 42 Prozent in Deutschland) spiegeln die Folgen der Antiglobalisierungs- und Antikapitalismuspolitiken der Zwischenkriegszeit; doch auch die Marktöffnung nach dem Krieg führte nicht etwa zu einem Rückzug, sondern zu einem Fortschreiten des Fiskalstaates. 1973 hatte die Bundesrepublik noch immer eine Staatsquote von 42 Prozent, während die USA auf 31 Prozent «aufholten». Hier ist ein klarer Sperrklinkeneffekt am Werk: in Kriegs- und Krisenzeiten bittet der Staat zur Kasse. Der Leviathan lässt sich aber nach Krieg und Krise nicht mehr auf das alte Normalniveau zurückstutzen. Der globalisierungsbedingte «Rückzug des Staates» müsste spätestens 1999 erkennbar geworden sein. Doch selbst Thatcher und Reagan haben die Staatsquoten nicht nachhaltig senken können. In Deutschland und Frankreich ist der Staatseinfluss selbst gegenüber Zeiten der Globalsteuerungs- und Wohlfahrtsstaatseuphorie (der 70er Jahre) unbeirrt weiter gestiegen.
Von einem Rückzug des Staates kann also zumindest im Westen (wo man am meisten davon spricht) keine Rede sein. Doch bieten globale Kapitalmärkte den Bürgern weltweite Rückzugsgelegenheiten. Auch das ist im Grunde nichts Neues. So wusste schon Adam Smith («Wohlstand der Nationen», 1776, V, 2), dass der Kapitalbesitzer «gleichsam als Weltbürger nicht an ein einzelnes Land gebunden» werde, sondern in der Lage sei, das Land zu verlassen, «das ihn lästigen Nachforschungen aussetzt, um ihn zu einer drückenden Steuer heranzuziehen, und er würde sein Vermögen in irgendein anderes Land bringen, wo er entweder sein Geschäft ungestört betreiben oder sein Vermögen unbehelligt nutzen könnte». Der Bourgeois, der Besitzer mobiler Produktivkräfte, ist «Weltbürger», Handel überwindet mit Leichtigkeit nationalstaatliche, sprachliche und kulturelle Barrieren. Schliesslich – auch das ein Aspekt des kollektivistischen Globalisierungsmythos – treiben nicht Länder Handel, sondern Individuen.
Der Citoyen, der Besitzer politischer Mitbestimmungsrechte, ist dagegen an seine Jurisdik-tionsscholle gebunden. Das ist wohl das eigentliche Ärgernis für diskursive Kollektivisten (wie etwa Jürgen Habermas, «Der europäische Nationalstaat unter dem Druck der Globalisierung», Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999). Märkte und ökonomische Transaktionen können sich bequem und ungeplant ins Globale ausdehnen, Diskurse und politische Interventionen nicht. Der relevante Markt erzeugt sich selbst und spontan aus freiwillig nutzbaren Tauschgewinnen. Das relevante Herrschaftsgebiet kollektiver Erzwingung muss vorab im Hinblick auf Staatsgebiet und Staatsvolk eingegrenzt werden.
Da man den mobilen Kapitalisten zwar gerne beschimpft, aber noch lieber besteuert, läuft ihm das Finanzamt teils hinterher, teils entgegen. Diese Entwicklung widerspricht nur scheinbar der Beobachtung wachsender oder rigider Staatsquoten (also dem Verhältnis von Staatsausgaben zum Sozialprodukt). In den USA stützen Steuersenkungen oft genug das Wachstum, aus dem wiederum Staatsausgaben finanziert werden können. Gleiches gilt für Irland, wo zudem die Halbierung der Körperschaftssteuersätze zu einer Vervielfachung der Steuereinnahmen führte. Das irische Abwerben von Unternehmen missfällt vielen konkurrierenden Kämmerern, die nun auf «Harmonisierung» drängen. In Deutschland bewirken die derzeit vorgenommenen kleineren Steuersenkungen lediglich grössere Löcher im Budget. Die Staatsausgaben werden durch Verschuldung finanziert; zusätzlich hält Stagnation die Staatsquote hoch.
So kann selbst ein «Exportweltmeister» wie Deutschland zu den momentanen Verlierern der Globalisierung gehören. Schuld daran sind aber nicht die Märkte der Welt, sondern die Politik zuhause. Die beste Globalisierungspolitik ist, wie schon Röpke wusste, eine liberale heimische Ordnungspolitik (siehe Wilhelm Röpke, «Internationale Ordnung», Zürich: Rentsch, 1945). Globalisierungsgegner sind typischerweise diejenigen, die eine liberale Ordnungspolitik ablehnen. Ihr soziales Gewissen stützt sich auf den blinden Glauben an den politisch äusserst erfolgreich kommunizierten Globalisierungsmythos, der be–hauptet, «die Schere zwischen reich und arm» gehe immer weiter auseinander.
Die These des sozialen global cooling wird jedoch von globalen Daten eindeutig widerlegt. Global geht es den Armen immer besser. Nach Zahlen des Entwicklungsprogramms der Uno (UNDP) stieg ihre Lebenserwartung von 1950 bis 1998 von 41 auf 65 Jahre, die Säuglingssterblichkeit der Armen sank seit 1950 um einen Drittel, der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung der Entwicklungsländer hat sich halbiert. Viele ehemalige Entwicklungsländer haben sich in den 80er Jahren aus der Armut her-ausentwickelt (etwa die berühmten asiatischen «Tigerstaaten» oder Chile).
Absolute Verbesserungen werden aber «Scheren»-Denker nicht beeindrucken, solange die Reichen stärker davon profitieren als die Armen. Im kollektivistischen Verteilungskampf gilt der kategorische Komparativ. Doch auch dieser Globalisierungsmythos beruht auf selektiv-anekdotischer Einzelfallevidenz. Insgesamt zeigt sich, dass Entwicklungsländer deutlich schneller wachsen als reiche Staaten, wenn sie sich in die globale Arbeitsteilung eingliedern. Die neuen «Globalisierer» (wie China, Indien, aber auch Ungarn oder Uruguay) sind massiv erfolgreich, wie die Tabelle zum durchschnittlichen Wachstum des realen Sozialprodukts (pro Kopf, bevölkerungsgewichtet) zeigt.
Eine Schere schliesst sich – zwischen sklerotischen Wohlfahrtsstaaten und sich liberalisierenden und globalisierenden Schwellenländern. Eine andere Schere weitet sich – zwischen liberalen Industriestaaten und despotischen Vampirstaaten (vor allem in weiten Teilen Afrikas). All dies hat mehr mit Politik als mit Wirtschaft zu tun.
Die Politik pflegt noch weitere Globalisierungsmythen. Früher haben Regierungen reicher Länder eine sogenannte «dritte Welt» hinter Handelsbarrieren gehalten und deren Regierungen für Planwirtschaft und Exportverzicht mit «Entwicklungshilfe» belohnt. Heute, da viele Entwicklungsländer sich tatsächlich entwickeln – nämlich zu Konkurrenten auf den Weltmärkten – ist man im Westen besorgt. Auch WTO und Weltbank stören den alten deal: Handelsbarrieren für Güter aus Entwicklungs- und Schwellenländern mit komparativem Kostenvorteil (im Agrarbereich, im Textilbereich und im Lower-Tech-Bereich) könnten abgebaut und kleptomanische Regime nicht mehr alimentiert werden.
Gleichzeitig bieten internationale Organisationen aber auch zunehmend Gelegenheiten für einen neuen Protektionismus, der mit der Rhetorik des Gutmenschen und der Absicht des Erpressers daherkommt: internationale Sozial-, Steuer-, Umwelt-, Gesundheitsstandards als Bedingungen für Handelsabkommen. Das tönt nach Schutz der Schwachen und sozialer Harmonie(sierung). Es bedeutet aber Schutz der Reichen und neue Handelskonflikte. Das Motiv ist schlicht: «raising rivals’ costs». Wenn ärmere Staaten zu kostentreibenden Konditionen, ähnlich denen in reicheren Staaten, produzieren müssen, um exportieren zu dürfen, sind ihre Kostenvorteile und Entwicklungschancen wieder auf ein Mass reduziert, das den Wohlfahrtsstaaten genehm ist.
Alten und neuen Protektionismus kombiniert beispielsweise die Zuckerpolitik der EU in perfider Perfektion. Nirgends auf der Welt wird Zucker so teuer produziert wie hier. Und doch ist die EU der weltgrösste Exporteur von Zukker. Würde sie ihn nicht zu durch Steuermittel gedrückten Preisen über die halbe Welt streuen, wäre der Weltmarktpreis etwa 40 Prozent höher und könnte auch armen Zuckerbauern ein Auskommen ermöglichen. Die von Globalisierungsgegnern verachtete WTO hat nun Klagen von Brasilien und anderen Entwicklungsländern recht gegeben. Deutscher Bauernverband, Zukkerwirtschaft und Nahrungsgewerkschaft haben derweil ein «Aktionsbündnis» geschlossen, um auf «existenzgefährdende Folgen» einer Reform aufmerksam zu machen. Mit der Öffnung des Marktes für «Billigzucker» aus Brasilien leiste die EU der «Sklavenarbeit» Vorschub (FAZ vom 11.11.2004). Wie viele Menschen verhungern aufgrund derart verlogener europäischer Handelspolitik? Nach Berechnungen des Centre for the New Europe sind es über 6’000 Menschen – täglich (http://www.cne.org).
Abschliessend sei noch das letzte Mantra der Globalisierungskritik unter die Lupe genommen: «Weltweite Märkte müssen durch weltweite Politik gezähmt werden.» Der Weltmarkt, so wird argumentiert, sei schliesslich nur deshalb so mass- und schrankenlos, weil ihm kein Weltstaat «auf Augenhöhe» begegne. Ein globaler Wohlfahrts- oder Lenkungsstaat ist nun keine sonderlich realistische Perspektive. Doch selbst als Vision ist er rundweg abzulehnen. Auch im günstigsten Fall – wenn die hier vorgebrachten Thesen zu wohltätigen Weltmärkten und verlogener Politik völlig falsch wären – könnte internationale Wirtschaftsplanung nur zu mehr Zwang und Elend führen.
Dies hat Friedrich A. v. Hayek schon 1944 in seinem «Weg zur Knechtschaft» (Kap. XV) klar erkannt: «Die Probleme der bewussten Lenkung des nationalen Wirtschaftsprozesses nehmen notgedrungen ein noch grösseres Ausmass an, wenn dasselbe auf internationaler Grundlage versucht wird. Der Gegensatz zwischen Planung und Freiheit kann, je uneinheitlicher der Standard und der Wertmassstab bei denen wird, die einem Einheitsplan gehorchen werden, sich nur um so mehr verschärfen […] mit zunehmender Grösse verringert sich die Übereinstimmung über die Reihenfolge der Ziele, womit die Notwendigkeit wächst, sich auf Macht und Zwang zu stützen.»
Übereinstimmung liesse sich bestenfalls darüber erreichen, welche schädlichen Akte nationalen Regierungshandelns man international ächten möchte. Frieden und Freiheit sind die beiden grossen «negativen» Werte, deren Universalisierbarkeit mit einer weitgehenden «Globalisierbarkeit» einhergehen kann. Wenn sich Regierungen im Rahmen militär- und handelspolitischer Abrüstungsverhandlungen gegenseitig auf den Verzicht gemeinwohlschädlicher Massnahmen einigen könnten, wäre viel gewonnen. Statt eines Weltstaates bedürfte es lediglich einer Instanz, die diese vereinbarten Verbote ungerechten Regierungshandelns auch durchsetzen könnte. Auch dies wird aber eine weitere Utopie bleiben müssen. Materielle Gerechtigkeitsideale, perfider Protektionismus und der Neid des kategorischen Komparativs dominieren nach wie vor die Agenden der Weltpolitik. Damit lässt sich kein Weltstaat machen. Die Weltwirtschaft freilich kann darunter leiden, solange die Globalisierungsmythen nicht entzaubert werden.