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Mythen zum Alter

Früher war alles besser und mit 65 ist man ein Greis: Wir haben viele falsche Vorstellungen vom Alter im Kopf. Es lohnt sich, einige davon zu korrigieren.

Mythen zum Alter

Altwerden ist ein Segen, und Altwerden ist ein Fluch: In der europäischen Kulturgeschichte ist die Wahrnehmung des Alters doppeldeutig. Einerseits wurde und wird bis heute das Alter mit körperlichem und geistigem Zerfall, mit Gebrechlichkeit und Nähe zum Tod in Verbindung gebracht. Seit der Renaissance und ihrer Orientierung an der altgriechischen Ästhetik junger Körper werden alternde Körper in Europa stark negativ beurteilt, insbesondere bei Frauen. Andererseits hebt bereits der römische Intellektuelle Cicero in seiner Schrift «De Senectute» die positiven Entwicklungen des Alters hervor. Er rühmt die Weisheit und Gelassenheit alter Menschen und das Alter als Erfüllung des Lebens. Die lateinischen Begriffe «senex, senis» und «vetus (-eris)» tragen bereits das Doppelgesicht des Alters in sich, das in ihrer heutigen Verwendung sichtbar wird: eine positive Bewertung im Sinne von «Senator/Veteran», eine negative Bewertung im Sinne von «Senilität» beziehungsweise «senil».

Diese Ambivalenz des Altersbildes eignet sich in Kombination mit kulturpessimistischen Zeitströmungen ideal als Projektionsfläche für Mythen. Sie betreffen die Vergangenheit wie die Zukunft und werden in unserer Gesellschaft immer wieder zitiert. Einige davon sind harmlos. Andere aber können schwerwiegende politische Fehlentscheide nach sich ziehen. Es lohnt sich darum, einige der verbreiteten Zerrbilder zum Alter zu korrigieren. 

1. Früher schätzte man die Alten noch – der Nostalgiemythos

Was die Vergangenheit des Alters betrifft, sind bis heute zwei Mythen zum Alter weit verbreitet. Eine häufig wiederholte mythische Vorstellung zum Alter ist diejenige, dass früher das Ansehen alter Menschen besser gewesen sei als heute – wobei sich das «früher» jeweils auf eine zeitlich unbestimmte Zeitepoche bezieht. Man beklagt, dass früher die Erfahrung alter Menschen geschätzt worden sei und alte Menschen sozial eingebettet gelebt hätten, wogegen heute nur das Neue etwas gelte und Einsamkeit im Alter zum Lebensschicksal gehöre.

Doch sowohl das rosige Bild von gestern als auch das düstere von heute zeigt so pauschal nicht die Wirklichkeit. Sozialhistorische Analysen belegen, dass in früheren Jahrhunderten höchstens statushohe Männer mit Besitz auch im höheren Lebensalter ein hohes soziales Ansehen genossen, während eine Mehrheit alter Frauen und Männer – sofern sie überhaupt alt wurden – arm und sozial isoliert ihr Leben fristeten. Der Erfahrungswert alter Menschen verlor in Europa schon mit dem Buchdruck und später mit dem Durchbruch der Volksschule seine Bedeutung und die «Weisheit des Alters» wurde schon im 18. Jahrhundert als Mythos verspottet. Im 19. Jahrhundert wurde die geringe soziale Stellung alter Menschen durch medizinische Theorien – welche das Altern einseitig als degenerativen Prozess interpretierten – sozusagen wissenschaftlich untermauert. Selbst die im 19. Jahrhundert einsetzende Aufwertung der Grosselternrolle war faktisch mit einer sozialen Entmachtung alter Familienmitglieder verbunden: Alte Menschen waren nicht mehr Autoritätspersonen gegenüber ihren erwachsenen Kindern, sondern höchstens noch gegenüber unselbständigen Kindern, ihren Enkelkindern. Die Figur des Grossvaters wurde im Lauf dieser Entwicklung von einer Autoritätsperson zum Märchenerzähler und das Bild der Grossmutter wurde mit häuslicher Biederkeit angereichert.

Auch die Vorstellung, dass früher alte Familienmitglieder im Schoss ihrer Familie betreut und gepflegt wurden, ist verbreitet. Sie entspricht aber nur bedingt historischen Tatsachen. Namentlich in Nord- und Mitteleuropa wurde ein getrenntes Wohnen verschiedener Generationen schon ab dem 16. Jahrhundert zur kulturellen Norm. Als ideal galt (und gilt) ein Alter in Unabhängigkeit von einer Bevormundung durch die eigenen Kinder. Im Jahre 1637 führten beispielsweise 92 Prozent der über 60jährigen Zürcher Stadtbewohner ihren eigenen Haushalt, und 1720 umfassten in Genf weniger als 5 Prozent der Familienhaushalte mehr als zwei Generationen (sicherlich auch, weil nur wenige Menschen bis ins höhere Alter überlebten). Im damaligen Bauerndorf Herrliberg (Zürich) lag der Anteil der Mehrgenerationenhaushalte 1739 etwas höher (13 Prozent), aber auch in ländlichen Gebieten dominierten Kleinhaushalte. Erweiterte Familien, welche Verwandte in aufsteigender, absteigender oder seitlicher Linie umfassten, machten im 18. Jahrhundert nur 10 bis 20 Prozent aller Haushalte aus. Die Mehrheit der älteren Personen lebte auch früher in einem eigenständigen Haushalt, idealerweise in der Nähe von Nachkommen. Auch in den nachfolgenden Jahrhunderten war ein gemeinsames Zusammenleben erwachsener Kinder und alter Eltern – etwa nach einer Verwitwung – mehr eine wirtschaftliche Zwangsgemeinschaft, als dass es idealisierten Bildern über das Leben alter Menschen im Schosse der Familie entsprochen hätte.

Unsere Vorstellungen von harmonisch zusammenlebenden Dreigenerationenfamilien gehen auf eine sehr kurze Zeitspanne zurück. In einigen ländlichen Regionen der Schweiz wurden Dreigenerationenfamilien gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund der erhöhten Lebenserwartung und des Mangels an Knechten und Mägden häufiger. Doch nur für wenige Jahre: danach verstärkte sich auch in diesen Regionen der Trend zur Kernfamilie, und die Idee eines selbständigen Lebens der Generationen gewann weiter an Boden. Die Dreigenerationenfamilie war ein kurzfristiges und vorübergehendes Phänomen; doch sie hat bis heute den Mythos von der vorindustriellen Mehrgenerationenfamilie geprägt. Fakt ist hingegen, dass Modelle von «Intimität auf Abstand» (jede Generation wahrt ihre Selbständigkeit) eine wichtige Säule für ausgewogene familiale Beziehungen zwischen den Generationen darstellen.

2. Eine Gesellschaft voller Alter – der Alterungsmythos

Im Jahr 1889 definierte die «Zeitschrift für schweizerische Statistik» das Alter 65 als Beginn des «Greisenalters». Heute wählen wir weniger negative Begriffe – aber auch 128 Jahre später beginnt offiziell das Alter noch immer mit 65 Jahren. Nationale und internationale Statistiken zählen alle Frauen und Männer ab 65 zur Altersbevölkerung. Auf dieser altehrwürdigen chronologischen Bestimmung basieren alle Daten, Prognosen und Diskurse zur demographischen Alterung. Wenn wir hören, der Anteil der Alten in der Gesellschaft nehme drastisch zu, dann ist damit in aller Regel der Anteil der Über-65-Jährigen gemeint.

Doch diese fixe Altersgrenze – die dem Wandel des Alters in den letzten Jahrzehnten nicht Rechnung trägt – wird von wissenschaftlicher Seite schon seit längerem kritisch hinterfragt. Immer deutlicher wird, dass heutige Menschen sozial, psychisch und zum Teil biologisch deutlich später altern, als dies bei früheren Generationen der Fall war. Immer mehr 70jährige Frauen und Männer zeigen Lebensformen und Verhaltensweisen, die frühere Generationen mit 50 Lebensjahren schon hinter sich gelassen hatten. Heutige ältere Menschen leben nicht nur länger, sondern sie bleiben auch länger gesund, aktiv und innovativ. Das schlägt sich auch im Selbstverständnis der Menschen nieder. In einer 2014 durchgeführten europäischen Erhebung  stuften sich in der Schweiz die 65- bis 74jährigen Befragten als ebenso innovativ ein wie die 15- bis 24-Jährigen. Generell erweist sich das chronologische Alter zumindest bis zur Gruppe der 80-Jährigen – mit Ausnahme weniger biologischer Parameter (wie Reaktionsgeschwindigkeit, Lichtbedarf usw.) – als weitaus weniger bedeutsames Kriterium als andere Einflussfaktoren, wie Geschlecht, sozialer Status, Bildungshintergrund, bisheriger Lebensstil und Generationenzugehörigkeit.

Damit suggeriert die traditionelle Fixierung der Altersbevölkerung auf alle über 65jährigen Menschen eine Alterung der Gesellschaft, die in weiten Bereichen fiktiv ist. Dynamische Ansätze zur Messung der demographischen Alterung führen zu ganz anderen Ergebnissen als die üblichen Messzahlen: Wird Alter 65 als Beginn des Alters betrachtet, zeigt sich zwischen 1950 und 2020 ein markanter Anteil der Altersbevölkerung von 10 Prozent auf 19 Prozent der Wohnbevölkerung. Wird hingegen eine dynamische Altersdefinition gewählt, und es werden nur jene Menschen zur Altersbevölkerung gezählt, deren restliche Lebenserwartung weniger als 10 Jahre beträgt, erhöht sich die Altersbevölkerung nur von 6 Prozent auf 10 Prozent – eine deutlich weniger dramatische Entwicklung!

Fixe Altersgrenzen, die Veränderungen der Lebenserwartungen und der Lebensformen von Frauen und Männern nicht berücksichtigen, führen zu einer klaren Überschätzung der demographischen Alterung. Damit heizen sie gesellschaftspolitische Diskussionen zur demographischen Entwicklung an, die von vornherein auf bevölkerungssoziologisch falschen Daten beruhen. Das kann schwerwiegende politische Folgen haben. Besonders absurd wird die Diskussion, wenn von Überalterung der Gesellschaft die Rede ist. Ähnlich wie der Begriff der Überfremdung suggeriert «Überalterung» eine sozial bedrohliche Entwicklung. So wird ein Anstieg an alten Menschen als Bedrohung erfahren, obwohl langfristig betrachtet ein hoher und ansteigender Anteil älterer und alter Menschen ein zivilisatorischer Fortschritt in Richtung einer Gesellschaft darstellt, in der Menschen zunehmend von einem langen und erfüllten Leben zu profitieren vermögen.

Basierend auf den falschen Messzahlen wird entsprechend auch der Effekt der demographischen Alterung auf die Zunahme der Gesundheitskosten überschätzt. Die demographische Alterung wird als zwangsläufige Hauptursache für den Anstieg der Gesundheitskosten und damit der Krankenkassenprämien dingfest gemacht. Je nach Berechnung sind demographische Faktoren jedoch nur für zwanzig bis dreissig Prozent des Anstiegs der Gesundheitsausgaben der letzten Jahrzehnte verantwortlich. Viel entscheidender sind medizinische Innovationen und erhöhte Ansprüche an das Gesundheitssystem. Hohe Gesundheitsausgaben ergeben sich zudem nicht primär im Alter, sondern im letzten Lebensjahr (vielfach unabhängig vom Alter).

3. Für immer leben: die Hightech-Hoffnungsmythen

Die letzten Jahrzehnte haben in Nord- und Mitteleuropa eindeutig zu besseren Lebensbedingungen und einer aktiveren Gestaltung der nachberuflichen Lebensphase (Rentenalter) geführt; mit der Folge, dass ein früherer Mythos – der Mythos vom Pensionierungsschock – mehr oder weniger von der Bildfläche verschwunden ist. Der Anteil der wirtschaftlich abgesicherten, gesunden und sozial integrierten Altersrentner und Altersrentnerinnen ist gestiegen, mit der Konsequenz, dass gegenwärtig in der Schweiz die 65- bis 74jährigen Frauen und Männer die höchste Lebenszufriedenheit aller Altersgruppen aufweisen.

Das macht vielen Menschen Hoffnung. Neue positive Leitvorstellungen zum Altern – wie aktives, kreatives und erfolgreiches Altern – haben sich etabliert. Dies allerdings, ohne dass damit defizitäre Vorstellungen zum Alter verdrängt worden wären. Im Ergebnis finden sich vielfach negative Allgemeinvorstellungen zu körperlich-kognitiven Abbauprozessen im Alter neben positiven Individualbeschreibungen älterer Menschen. Dabei werden Formen aktiven und kreativen Alters primär anhand prominenter Männer und Frauen illustriert. Älter werdende Menschen von heute ihrerseits reagieren auf negative Altersstereotype zunehmend dadurch, dass sie sich selbst nicht als «alt» einstufen. Negative Bilder zum Alter werden nicht in Frage gestellt, sondern die persönliche Betroffenheit wird verneint, etwa dadurch, dass das «wirkliche Altsein» für sich selbst später angesetzt wird. Die meisten über 65jährigen Menschen fühlen sich subjektiv deutlich jünger, als es ihrem gezählten Alter entspricht. Zentral ist bei heutigen Modellen zu einem aktiven Alter, dass Altersprozesse als beeinflussbar und gestaltbar wahrgenommen werden. Dazu gehört die Betonung der Chancen zur Ausdehnung einer gesunden Lebenserwartung durch Körper- und Geistestraining ebenso wie Kompetenzerweiterungen durch lebenslanges Lernen, persönliche Weiterentwicklung und aktive Gestaltung sozialer Beziehungen.

Tatsächlich lässt sich eine gesunde Lebenserwartung durch genügend Bewegung und Training, ausgewogene Ernährung und stimulierende Aktivitäten ausdehnen. Doch verbunden mit diesen Möglichkeiten entstehen hier neue, postmoderne Altersmythen: etwa wenn behauptet wird, dass körperliches Altern dank «Anti-Aging»-Produkten verhindert werden könne, dass spezielle Zusatzstoffe das Leben deutlich verlängerten oder dass digitale technische Hilfsmittel dazu beitrügen, länger zu Hause leben zu können. Es vergeht heute kaum eine Woche, ohne dass neue Produkte, Experimente oder Ernährungsformen ein verzögertes Altern versprechen. Hier ein Experiment, das belegt, dass Demenz genetisch verhindert werden kann (vorläufig allerdings nur bei Mäusen), da ein neuer Wirkstoff, der Zellen verjüngt oder die alternde Haut strafft – und so weiter.  «Kampf dem Alter» oder sogar «Kampf dem Tod» sind neue Fronten einer Gesellschaft, die alle Grenzen zu sprengen versucht.

Bei den neuen Hoffnungsmythen eines grenzenlos gestaltbaren Lebens spielt es oft weniger eine Rolle, ob die vorgeschlagenen Produkte und Verhaltensweise schon heute wirken, als dass sie zukünftig wirken könnten. So gibt es keine klaren Belege, dass technologische Hilfsmittel gegenwärtig ein längeres Verbleiben zu Hause bewirken, aber zukünftig kann sich dies, so die Hoffnung, schliesslich ändern. «Anti-Aging»-Produkte (vermehrt auch als «Pro-Aging»-Produkte angeboten) weisen heute wenn überhaupt nur eine sehr beschränkte Wirkung auf, doch auch dies könnte zukünftig anders sein. Auf diese Weise wird das Alter – wie übrigens auch die Säuglingspflege, Kindererziehung oder das ökologisch bewusste Konsumverhalten – zum Spielfeld für Optimierungsanweisungen, ständig ausgesprochen von einer sich rasch ausbreitenden altersbezogenen Interventionsindustrie.

Abschlussbemerkungen

Viele nostalgische Mythen zum Alter mögen die individuelle Wahrnehmung trüben, richten aber insgesamt wenig Schaden an. Einige der Vorstellungen jedoch haben das Potenzial, wirklich schwerwiegende Folgen nach sich zu ziehen. Insbesondere die Fixierung demographischer Messgrössen auf veraltete Altersgrenzen kann drastische politische Konsequenzen haben. Sie kann die Sicht auf tatsächliche Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen verstellen, etwa im Bereich der Kosten im Gesundheitswesen oder der öffentlichen Infrastruktur überhaupt. Sie kann ausserdem auch zu öffentlicher Abwertung des Alters führen und zu Fehlentscheiden, an denen viele Menschen leiden.

Die zunehmenden Hoffnungsmythen eines lange jungen und möglicherweise gar unendlichen Lebens stellen uns vor einige philosophische Fragen. Es liegt ein Paradox darin, dass viel geforscht, entwickelt und vermarktet wird, um letztlich den Fluss des Lebens einzufrieren.


François Höpflinger
ist Soziologe und Leitungsmitglied des Zentrums für Gerontologie an der Universität Zürich.

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