Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos
Die Mutigen von gestern: Seiltänzer-Truppe Bürgler-Tonelli in Kriens, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Photograph: Baumann, Heinz / Com_C11-142-001-004 / CC BY-SA 4.0.
Die Mutigen von gestern: Seiltänzer-Truppe Bürgler-Tonelli in Kriens, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Photograph: Baumann, Heinz / Com_C11-142-001-004 / CC BY-SA 4.0.

Mutig werden – so geht’s!

Wie die vorherrschende Vermeidungskultur überwunden werden kann. Eine Anleitung.

Das Verhalten von Menschen und Gesellschaften ist stets in den lokal vorherrschenden Annahmen begründet. Es sind gesellschaftliche Normen und Glaubenssätze, die bestimmen, woran wir uns orientieren, ob wir mutig sind oder uns mutlos verhalten. Während es in den USA vollkommen normal ist, in den Konkurs zu gehen, gilt gleiches Verhalten in der Schweiz als geächtet. Woran liegt das?

In der Schweiz gehören Understatement, Risikovermeidung und Konsens zu den gesellschaftlichen Eckwerten. In unserer Gesellschaft gelten Normen wie: «Wer fleissig arbeitet, wird es zu was bringen» – was nicht immer wahr ist. Oder: «Entscheide müssen basisdemokratisch gefällt werden» – was mitunter heisst, dass man es allen recht machen muss. Wir thematisieren es ungern: aber die Geisteshaltung in der Schweiz verhindert oft mutige Taten, und damit geht der Wirtschaft und der Gesellschaft viel Wert verloren.

Was ist nun eigentlich Mut? Im Buch «Mut – über sich hinauswachsen» definiert Andreas Dick Mut als «die Fähigkeit, aus einer überlegten und freien Entscheidung heraus eine persönliche Gefahr einzugehen oder auszuhalten aus Liebe zum Guten, in der Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang». Mut nach Dick umfasst die folgenden fünf Bausteine:

•  Mut entsteht durch einen freien Willensentschluss.

•  Wer mutig ist, nimmt ein Risiko auf sich und

verlässt seine Komfortzone.

•  Wer mutig ist, ist durch Klugheit zur Erkenntnis

gelangt, was in einem bestimmten Moment richtig

und was falsch ist.

•  Wer mutig ist, hat Hoffnung und Zuversicht auf

einen lohnenswerten und sinnvollen Ausgang

einer Aktion.

•  Mut beruht stets auf einem Motiv der Liebe.

Wenn wir versuchen, die fünf Bausteine in unserem Alltag zu finden, kommen doch einige Zweifel auf, ob in der Schweiz eine Kultur herrscht, die ein mutiges Verhalten fördert. Widmen wir uns jedem Punkt einzeln:

Der freie Willensentschluss

Wer für eine lange Zeit weder Krisen noch Rückschritte erfährt, betrachtet Wohlstand als Normalität. Tatsächlich mussten hiesige Arbeitnehmer schon lange nicht mehr mit grossen Schockwellen klarkommen. Die Erdölkrise ist lange her. Und die Subprime-Krise in den USA hat die Schweiz so wenig in ihren Grundfesten erschüttert wie der vielzitierte Frankenschock von 2015. In der Schweiz herrscht de facto Vollbeschäftigung, und dies schon seit geraumer Zeit.

Der Wohlstand hat seinen Preis. Mit den Jahren hat sich ein Korsett an gesellschaftlichen Normen eingeschlichen, das uns zunehmend einschränkt: Wer hierzulande dazugehören will, lebt, um zu arbeiten. Das Streben nach einer ansteigend verlaufenden Karriere und den Anspruch, im Vergleich zu anderen immer besser zu werden und immer mehr zu verdienen, empfinden jedoch immer mehr Mitarbeiter als eine Belastung. Stress und Erschöpfung sind die Folgen und damit verbunden Kosten für die Unternehmen: Stress kostet die Arbeitgeber rund 5,7 Milliarden Franken pro Jahr, schätzt die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz.1 In dieser Verdichtung der Gesellschaft einen freien Willensentschluss zu erkennen, fällt schwer. Viel eher ist davon auszugehen, dass wir uns gedankenlos in einem Hamsterrad drehen. Ein Hamsterrad sieht von innen aus wie eine Karriereleiter. Weil wir glauben, wir würden aufsteigen, besteht kaum ein wirkliches Verlangen, daraus auszubrechen.

Die Risikoübernahme

Wer Mut hat, geht ein Risiko ein und ist bereit, auf Sicherheit oder Annehmlichkeiten zu verzichten. Weil es in der Schweiz vergleichsweise viel zu verlieren gibt, tun wir etwas, das risikoarm scheint, jedoch viel riskanter ist: Wir kontrollieren, dass uns nichts abhandenkommt. Wer das Pech hat, in einer Firma mit einem hohen Fremdkapitalanteil zu arbeiten, der kann davon ein Lied singen. Statt zu arbeiten, müssen Kapitalgeber befriedigt werden: Controlling, Planung, endlose Budgetierungsprozesse blockieren ganze Unternehmen. Führungskräfte sagen uns, dass sie weit mehr als die Hälfte ihrer Zeit dafür aufwendeten, um Risiken zu vermeiden, und dabei kaum noch zum Arbeiten kämen.

Um es auf eine simple Formel zu bringen: Management erstickt zunehmend Unternehmertum. So werden zwar Unmengen an Jobs geschaffen, die als Wertschöpfung Eingang in die Statistik finden. Tatsächlich aber schöpfen sie kaum Werte, sondern tragen dazu bei, die kollektive Erstarrung noch zu beschleunigen. Wer heute eine Bäckerei eröffnen will, braucht neben einer Bäckerin und einem Verkäufer schon bald zwei Compliance-Manager. In so einem Umfeld wird Mut generell vermieden, kaum noch etwas gewagt.

Die Klugheit

Die Schweiz ist ein Land von Diplomjägern. An kaum einem anderen Ort der Welt wird so viel in Aus- und Weiterbildung investiert, um sich mit vermeintlich sinnvollen Diplomen für den Markt fit zu machen. Der Aus- und Weiterbildungswahn, dem ganze Generationen frönen, stellt Diplome und Wissen über Erfahrung. Wenn jedoch Erfahrung durch Wissen substituiert wird, dann geht der Mut verloren. Ausbildung gipfelt dann in Einbildung – oft auch in einer überzogenen und arroganten Sicht auf die Dinge – und blendet das Undenkbare aus. Statt echte Probleme zu verhindern oder zu lösen, beschäftigt man sich lieber mit den Problemen, die man selbst erzeugt hat.

«Kluge Menschen lösen Probleme, weise Menschen verhindern sie», meinte schon Albert Einstein. Wer weise ist, erkennt, dass Entwicklung, welcher Art auch immer, nicht aus der Mitte, sondern aus dem Unerwarteten kommt. Wer mutig ist, weiss den Konsens hinter sich zu lassen, beschäftigt sich mit dem Speziellen und geht jenen Fragen nach, die ihn wirklich beschäftigen. Er richtet den Blick nicht nur auf das, was alle anderen machen, sondern auch auf die Ränder und findet dabei sogar mit Extremen, mit Ungenormtem einen produktiven Umgang.

Die Zuversicht

«Nicht weil es schwer ist, wagen wir’s nicht, sondern weil wir’s nicht wagen, ist es schwer», meinte schon der Philosoph Seneca. Doch was will man noch erreichen, wenn man schon alles hat? Die Angst vor dem Status- und Jobverlust ist bei vielen grösser als die Freude am Mut – vielleicht auch, weil die Aussicht auf lohnende Ziele fehlt. Mut aber entsteht aus Zuversicht: Wer nicht zuversichtlich ist oder sich gar fürchtet, wird nichts Mutiges tun.

Wenn also – wie Umfragen zeigen – eine schwer greifbare Angst vor einem Stellenverlust breite Teile der Bevölkerung durchdringt, so kann kaum davon ausgegangen werden, dass der Mut in dieser Gesellschaft eine Norm darstellt. Wer keine Ziele hat, die zu erreichen lohnenswert erscheinen, wird nichts tun, um sich zu verändern.

Das Motiv der Liebe

Was hat Liebe mit Mut zu tun? Wer seine eigenen Annahmen ergründen will, muss in sich hineinhören. Er muss sich im Klaren darüber sein, was ihn antreibt und welche Konsequenzen aus diesen Treibern entstehen. Wer sich beispielsweise daran orientiert, wie viel er verdient, wird nur dann zufrieden sein, wenn sein Gehalt höher ist als das der anderen. So ein Vergleich jedoch ist der sichere Weg ins Unglück.

Mut ist nicht der Vergleich mit dem Besitz der anderen, sondern vielmehr ein Appell an die Vielfalt, wie wir sie zwar fordern, aber in den wenigsten Fällen wirklich fördern. Stattdessen werden Schüler genormt und Mitarbeitende auf ein einheitliches Verhalten eingeschworen. Die Leitsprüche lauten: Bloss nicht auffallen. Den gängigen Leistungskriterien entsprechen. Keine Zeit und Energie verschwenden. Es ist ein Korsett, das Mut geradezu verhindert.

Der Weg vom Unmut zum Mut

Es ist nicht schwierig, festzustellen, dass in der Schweiz eine Vermeidungskultur und die Angst vor dem Verlust des Erreichten dominiert. Gerade deshalb müssen wir mutig voranschreiten: nur wer das Bestehende in Frage stellt und sich Gedanken macht, wie die Dinge anders laufen könnten, öffnet neue Perspektiven und schafft kulturelle Rahmenbedingungen, die mutiges Tun ermöglichen.

Hierfür braucht es drei Schritte – und zwar in dieser Reihenfolge:

1. Mut thematisieren

Der öffentliche Diskurs über die Ursprünge unseres Wohlstands fehlt weitgehend. Die Schweiz ist nicht reich geworden aufgrund ihres Bildungssystems. Sie hat ihren Wohlstand der Tatkraft und Innovation von tüchtigen Menschen zu verdanken, die etwas gewagt haben zu einer Zeit, als das Bildungssystem noch nicht den Stand von heute hatte. Bildung entstammt dem Reichtum – und nicht umgekehrt. In der heutigen Gesellschaft, in Unternehmen und Schulen, fehlt das Bewusstsein über die Wirkung solch selbsttäuschender Annahmen. Statt sicherzustellen, dass alle gute Noten machen, würden wir uns besser fragen, wie viel Normung in einer immer vielfältiger werdenden Welt Sinn macht. Statt uns von vergleichenden Pisa-Studien unter Druck setzen zu lassen, sollten wir uns fragen, wie wir unser Bildungssystem pragmatisch auf die Erfordernisse der künftigen Wirtschaft ausrichten könnten.

Auch Unternehmen können Mut thematisieren. Doch statt Millionen in jährlichen Budgetrunden zu verbrennen, wäre es vielleicht nützlicher, über die Sinnhaftigkeit gewisser Annahmen zu reflektieren, wie das etwa BMW in ihrem «Management House» macht. Eine der tragenden Säulen dort ist die Selbstreflexionsfähigkeit der Führungskräfte: Eine Führungskraft, die sich nicht selbst führen kann, sollte auch keine anderen Menschen führen. Es geht darum, die eigenen Grenzen anzuerkennen und das Bild des omnipotenten, allwissenden Machermanagers zu hinterfragen. Macher sind Engpässe für Entwicklung. Sie entmündigen ihr Umfeld, das sich irgendwann abgewöhnt, selbst Entscheidungen zu fällen. Macher machen Menschen unmündig.

Gut wäre auch ein Eingeständnis, dass es sich bei den wenigsten Menschen um Macher handelt. Weil es aber unserem gängigen Werteverständnis entspricht, sind sie dazu gezwungen, Macher zu spielen. Einen erheblichen Teil der geistigen Kraft darauf zu verwenden, sich zu verleugnen, um als Führungspersönlichkeit akzeptiert zu werden, ist unproduktiv für jede Firma und schwierig für den einzelnen. Am Ende schadet es der Innovationskraft und dem Wohlstand eines Systems.

2. Mut ausprobieren

Um die gängige Mutvermeidung zu überwinden, ist es hilfreich, Mut einfach mal auszuprobieren, möglichst gefahrlos. Am einfachsten probiert man Mut aus, indem man einfach mal etwas tut. Das Ausland scheint uns da manchmal voraus zu sein. Warum schafft man es in Hamburg, durch Schweizer Architekten die grossartige Elbphilharmonie zu bauen, während wir uns für den Neubau des Kongresshauses in Zürich in den Niederungen eines konsensorientierten Nihilismus herumschlagen? Wie wäre es, wenn wir es wagen würden, zumindest Teile unserer Bilanzen als Gemeinwohlbilanzen auszuweisen, und beobachten würden, welche Wirkung das hätte? Wie wäre es, ein bedingungsloses Grundeinkommen auszuprobieren und damit Erfahrungen zu sammeln, wie dies auch andere Länder schon tun?

Mut kann auch als Führungskraft ausprobiert werden. Allerdings nicht durch kollektiv zwangsverordnetes Bungee-Jumping oder Riverrafting auf dem Firmenausflug. Vielmehr geht es darum, mit sich und seinem Team bewusst auf die Annahmenebene zu gelangen, die eigenen Ängste und Unsicherheiten zu thematisieren und dadurch den Raum zu öffnen für Diskussionen, die über das klassische Zahlendenken hinausgehen. Eine Methode, die sich hierfür eignet, ist etwa «Immunity to Change» von Kegan und Laskow.2 Diese Methode – ein Klassiker weltweit – erlaubt es Teams und ganzen Belegschaften, Annahmen sicht- und gestaltbar zu machen, den eigenen Denkrahmen zu erweitern und so zu erfahren, dass man weitaus mutiger sein kann, als man dies gemeinhin glaubt.

3. Mut verankern

Sind genügend Erfahrungen mit dem Thema «Mut» gemacht, ist es an der Zeit, diese in ein neues Normengerüst einfliessen zu lassen. Gesellschaftlich kann dies bedeuten, dass wir in Zukunft in Schulen ein Fach «Mut und Verantwortung» einführen könnten. In Deutschland ist mit der Einführung des Schulfachs «Glück» an einzelnen Schulen ein Diskurs entfacht worden, der die Zivilgesellschaft stärkt. Warum sollten wir nicht auch dieses Experiment wagen? Unternehmen können neue Formen des Miteinanders umsetzen. Eine geeignete Form etwa ist ein holokratisches System, in dem sich Führungskräfte selbst zurücknehmen. So erst schaffen sie Raum für Mitarbeitende, sich selbst verantwortungsvoll in die Unternehmensentwicklung einzubringen. Auf diese Art wird Führung einfacher und wir erzielen mit weniger Aufwand mehr Wirkung.

Schlussfolgerungen

Menschen, die mutig sind, fürchten sich nicht. Sie glauben an sich selbst und legen den Fokus auf das Tun. Mutig sein heisst, seine eigene Meinung zu haben und nicht den Konsens als oberstes Primat für Entwicklung anzuerkennen, sondern den Individualismus – ein schwieriges Unterfangen in einer Kultur wie der schweizerischen, in der wir basisdemokratisch nach Homogenität streben.

Mut entsteht auch durch ein Hinterfragen der eigenen Wirkung. Wir dürfen dazu stehen, klein und anders zu sein. Der Schweizer Föderalismus bietet durchaus Hand zu individuellen Lösungen. Um das zu erreichen, müssen wir aber mit unreflektierten, globalen Wachstumsansprüchen anders umgehen. Wir müssen uns hinterfragen, ob der ewige Anspruch des «Big Is Beautiful» auch für uns zutrifft. Bei näherem Hinsehen gibt es wertvolle Alternativen.


 

1 Job-Stress-Index 2016, einsehbar unter gesundheitsfoerderung.ch
2 Robert Kegan und Lisa Laskow Lahey: Immunity to Change. How to Overcome It and Unlock the Potential in Yourself and Your Organization. Watertown, Massachusetts: Harvard Business Review Press, 2009.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!