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Mut zur Lücke!

Man nehme Buch und Schere, schneide sich durch Seiten und Sätze – und schreibe so eine neue Geschichte. Jonathan Safran Foer bastelt nicht nur sein Besteck selbst, sondern auch seine Bücher. Ein Gespräch über die kreative Neuordnung der Wortwelt und die tröstliche Existenz von Lexika.

Herr Foer, Sie sind ein internationaler Bestsellerautor, der bis anhin dafür bekannt war, Romane mit erheblichem Seitenumfang – und inhaltlich dazu passend: mit durchaus «schweren» Inhalten – zu verfassen. Wenn wir nun aber Ihr neues Buch aufschlagen, finden wir darin mehr Löcher in den Seiten als Worte darauf. Was ist passiert?

(lacht) Im Grunde genommen habe ich ein bereits vorhandenes Buch genommen und – statt es weiter mit Buchstaben zu füllen – durch das Herausstreichen von Wörtern eine neue Geschichte geschrieben.

Bisher bestand Ihre Technik weniger im Reduzieren denn im Anhäufen, und auch Ihre Protagonisten litten meist unter etwas wie einer Sammel- und Kategorisierungswut: Jonathan aus «Alles ist erleuchtet» etwa steckt alles, was er findet, in kleine Plastiksäcke und formt damit eine Art Karte auf seiner Zimmerwand. Haben Sie sich von diesem, Ihrem Jonathan entfernt?

Ein Stück weit. Ich glaube, ich habe mich in meinem Leben immer stärker vom Zusammentragen und Aufbewahren wegbewegt und immer mehr begonnen, mich für das Herstellen eigener Dinge zu interessieren: Ich will nicht mehr die Welt in mein Haus reintragen und sie dort aufbewahren, sondern mich selbst in mein Heim einbringen, indem ich selbst herstelle, was mich umgibt.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie gleich die elementaren Werkzeuge: Instrumente wie Messer, Gabeln und Löffel halten wir mehrmals täglich in unseren Händen und Mündern, benutzen sie für die fundamentalste aller menschlichen Aktivitäten – und lassen sie von anderen Leuten herstellen! Dieser Gedanke ist mir je länger, desto unbehaglicher geworden.

Denkt man ihn weiter, verändert sich freilich der Horizont des einzelnen Lebens dramatisch: Gäbe es keine Arbeitsteilung, also keine Fremdproduktion von Besteck oder Kleidern, würde Ihnen vermutlich kaum noch Zeit zum Schreiben bleiben.

Tatsächlich hat der Gedanke etwas sehr Ausuferndes, der Kunst steht er aber nicht im Weg. Es gibt dieses wunderbare Buch «Calder at Home», das zeigt, wie Alexander Calder alles, wirklich alles, selber gemacht hat: seine Teppiche, seine Lampen, den Schmuck seiner Frau – ich finde, das ist eine schöne Art zu leben. Ich möchte möglichst viel Zeit in Umgebungen verbringen, die ich als mir angemessen, bestenfalls sogar durch mich geprägt empfinde. Das klingt beinahe vermessen, bedeutet aber, dass ich mit Dingen und Produkten umgehe, die ich nicht bloss aus Bequemlichkeit benutze, sondern die meinen ganz individuellen Fingerabdruck tragen. In gewisser Weise ist das gerade das Gegenteil des anhäufenden Sammelns, nach dem Sie gefragt haben.

Einen individuellen Fingerabdruck wiesen auch Ihre beiden Bestseller auf. Sie waren von einer schier überbordenden Einfallsvielfalt geprägt, von einem Reichtum an Ideen, der bis zum Überfluss aus den Figuren quoll…

…und damit ist es keineswegs vorbei! Das Frei- und Grosszügige interessiert mich noch immer sehr, die Vorstellung eines maximal expansiven Buches ist mir nach wie vor die liebste. (lacht) Oder anders gesagt: Wenn als Antwort auf die Frage nach dem Inhalt meiner Bücher jeweils nur eine Zusammenfassung der äusseren Vorkommnisse folgen würde – das wäre ein Albtraum. Ich wünsche mir, dass meine Bücher Erfahrungen sind, die sich auf keine Ereigniskette, auf keinen Bauplan reduzieren lassen, sondern von ihrem Vorstellungsreichtum leben und beim Leser möglichst viele Assoziationsräume öffnen.

In «Tree of Codes», dem ausgeschnittenen Buch, sind diese Assoziationsräume nun in Form von Löchern manifest geworden. Wieso haben Sie gerade Ihr Lieblingsbuch, Bruno Schulzens «Die Zimtläden», derart mit der Schere bearbeitet?

Die Idee, per Stanztechnik aus vorhandenem Material eine völlig neue Geschichte herauszuarbeiten, hat mich schon lange umgetrieben. Ich habe mich am Telephonbuch oder auch an Lexika versucht, aber das Resultat war leider nie befriedigend. Dann nahm ich «Die Zimtläden» zur Hand, jene Geschichten, die ich schon so oft gelesen habe – und es kam etwas wirklich Neues dabei heraus. Als sich bei einem neuen Verlagshaus die Gelegenheit bot, ein solch aussergewöhnliches Buch produzieren zu lassen, habe ich mich der Herausforderung endlich ganz gestellt.

Was hat Sie zum Experimentieren verleitet? Ihre Romane waren immens erfolgreich, galten aber auch als – Entschuldigung – ziemlich brav. Wollten Sie sich ein neues, avantgardistischeres Image zulegen?

Nein. Ich experimentiere nicht, um experimentell zu erscheinen. Wenn ein Buch aus der Ambition heraus entsteht, ein – künstlerisches oder auch politisches – Statement abzugeben, verliert es in meinen Augen dadurch gerade das, was es zum Kunstwerk macht.

Wenn kein Statement für eine bestimmte Form von Kunst, so ist Ihr Werk doch so etwas wie ein Statement fürs gedruckte Buch: Die Seiten mit den ausgeschnittenen Worten sind von einer Fragilität, die ein digitales Produkt schwerlich vermitteln könnte. Was bedeuten Ihnen «richtige» Bücher?

Ich liebe die Körperlichkeit von Büchern, den Geruch ihrer Seiten, die Kerben in ihren Rücken – die Idee, ein Buch zu schaffen, das seinen Körper auf keinen Fall verleugnen oder vergessen kann, hat mich an dem Projekt stark fasziniert. Aber dass dieses eine, teuer zu produzierende und zu kaufende Werk irgendetwas zum Erhalt der physischen Bücher beiträgt, das glaube ich nicht. Es ist ja auch schwierig zu sagen, in welcher Form Literatur in 50 Jahren erscheinen wird. Klar ist aber, dass sie bis anhin und noch immer jene künstlerische Erscheinung ist, die ihre Form am stärksten bewahrt hat. Wenn Sie zum Beispiel an die Entwicklungen der bildenden Kunst denken, merken Sie, was ich meine: Was heute in einer Galerie hängt, hat kaum mehr etwas mit dem gemein, was man dort vor 100 Jahren gefunden hätte. Im Buchladen hingegen warten immer noch dieselben oder doch zumindest gleichförmige Produkte auf Sie wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Hat der Roman also einfach seine ideale Form gefunden?

Das wird gern behauptet und es ist wohl etwas Wahres dran. Es gibt aber auch eine andere, mehr auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen bezogene Erklärung für die Beständigkeit: Im Unterschied zur bildenden Kunst sind Romane nämlich «demokratische» Kunstformen. Wer als bildender Künstler erfolgreich sein will, braucht eine kleine Handvoll extrem reicher Leute, die die produzierten Werke als wertvoll erachten und dafür hohe Preise zu zahlen bereit sind. Um als Romancier Erfolg zu haben, braucht man dagegen zehn- oder eher hunderttausende von Leuten, die den Sinn oder den Wert einer Geschichte entdecken. Und diese Entstehungshintergründe inspirieren naturgemäss zwei ganz unterschiedliche Schaffensarten: Während die erste Situation eher einige wenige neue Avantgarden beflügelt, fördert die zweite in der Regel Formen, die näher bei den vielen potentiellen Lesern, also mehrheitsfähiger und wohl auch konservativer sind. Es gibt ja immer noch mehr Leser als Kunstsammler.

Das Leseverhalten hingegen ändert sich fundamental: E-Books sind auf dem Vormarsch, Buchläden verschwinden, Bibliotheken digitalisieren ihre Bestände. Erlebt die «konservative» Literatur gerade ihre Revolution?

Natürlich findet das alles statt, substantiell ist diese Veränderung aber noch nicht: E-Books sind nichts anderes als Bücher, die auf Bildschirmen erscheinen. Und Bücher leben, egal ob gedruckt oder auf einem Display angezeigt, ganz entscheidend von ihrer Intimität. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Rezipienten enorm wenig vorgeben. Sieht beispielsweise ein Kinozuschauer auf der Leinwand einen Baum, dann erscheint der dort in fertiger Ausgestaltung und jede andere Person im Publikum sieht den mehr oder weniger gleichen Baum. In einem Buch hingegen stehen vier Buchstaben – B-a-u-m – und damit hat es sich. Der Rest geschieht in den Köpfen der Leser, in denen die vier Buchstaben völlig unterschiedliche Bilder hervorrufen, die fast immer mit einer persönlichen Geschichte verbunden sind. Genau diese enge intime Beziehung zu ihren Lesern verlören die Bücher aber, wenn sie in Zukunft zu besseren YouTube-Videos würden.

Konkreter? Wie muss man sich so ein weniger «intimes» YouTube-Buch vorstellen?

Ganz konkret kann ich das natürlich nicht beschreiben, bei den formalen Veränderungen am Bildschirm wird es sich aber früher oder später um Erneuerungen handeln, die den beschränkten Informationsgehalt der Bücher tangieren, das heisst: ihn erweitern. Ob es Verlinkungen mit anderen Texten, mit Videos, Musik oder Photos sind: Zunehmende Vernetzungen werden dazu führen, dass dem Leser mehr serviert wird und ihm als Produzent eigener Bilder, Klänge oder Assoziationen weniger abverlangt wird. Sicher wird die Lektüre so zu einer dynamischeren, vielleicht auch aufregenderen Sache – sicher aber auch zu einer weniger tiefen Erfahrung.

In Ihrem Literaturverständnis kommt dem Leser eine zentrale Rolle zu, Sie nannten sie eben gar «demokratisch». Die Aufnahme eines Textes, wie Sie sie beschreiben, setzt auf Seiten des Rezipienten den Willen zu aktiver Mitarbeit am Buch voraus – schwindet diese Bereitschaft in der Schnelllebigkeit unserer Zeit, wie man oft hört?

Na ja, ein Buch ist eben nicht lebendig – bis jemand es liest. Weil es den Leser braucht, um den Figuren eine Stimme zu verleihen, um die Bilder auszugestalten. Das ist natürlich Arbeit, und Arbeit behagt nicht allen – das war aber wohl nie anders, weswegen ich mir bezüglich der Schnelllebigkeit keine Sorgen mache! Grundsätzlich würde ich sogar noch weiter gehen und nicht nur von Mitarbeiter-, sondern auch von Co-Autorschaft sprechen, um das Verhältnis zwischen Leser und Buch zu beschreiben. Kurt Vonnegut sagte einst: Ein Leser steht zum Geschriebenen im selben Verhältnis wie ein Orchester zu den Musiknoten. Sie allein sind zwar existent, sie leben aber nicht.

Bei der Schneidarbeit an Schulz’ Buch waren Sie ja nun gewissermassen Leser und Autor in Personalunion. Was ist dabei zum Leben erwacht – ein genuines Werk von Jonathan Safran Foer oder ein neues Buch von Bruno Schulz?

Das Ergebnis ist mein Buch, insofern als meine Geschichte nichts mit der seinen zu tun hat – ausser, dass ich sie aus ihr herausgeholt habe. Ich würde es deshalb am liebsten so sagen: Ich führe Schulz’ Stück auf einem ganz anderen Instrument und in einer völlig veränderten Tonlage auf. Das klingt gut, oder?

Durchaus. Aber trotzdem verwenden Sie im erklärenden Nachwort zu Ihrem Buch für diesen Prozess der kreativen Neuordnung das ungleich morbidere Wort «Exhumierung» und suggerieren damit, dass wir von unendlich vielen toten Geschichten umgeben sind, die vielleicht, im Glücksfall, irgendwann von einem Autor geborgen werden. Das ist, mit Verlaub, eine ziemlich verstörende Vorstellung.

Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht an die genaue Wortwahl dieser Passage – hätte ich gewusst, dass sie so genau gelesen wird, wäre ich mit meinen Formulierungen vorsichtiger gewesen! (lacht) Aber ja, ich glaube, dass man den Schreibprozess auf zweifache Weise sehen kann: als Freilegung oder Ausgrabung eines Texts aus einem bestehenden Set von Worten oder Texten einerseits – die dann aber andererseits auch immer alle weiteren, ebenfalls möglichen Geschichten auslöscht. Mich interessiert sowohl die «positive» als auch die «negative» Seite dieser Sache. Verstörend ist das aber nicht, da kann ich Sie beruhigen: Es gibt einfach verschiedene Arten, über literarische Kultur nachzudenken. Man kann Autoren entweder als Individuen sehen, die brillante, idiotische oder mediokre Werke schaffen, oder aber die gesamte literarische Produktion als fortwährenden quasi kommunalen Prozess, als ständiges Weiterreichen, Ausweiten und Projizieren von Ideen verstehen. Ich mag diese zweite Sichtweise und die Vorstellung, dass ich mit meinen Werken an eben diesem Prozess teilnehme.

Schriftsteller haben in diesem Sinne weniger von einem Urschöpfer als von Viktor Frankenstein und seinem Flickwerkgeschöpf?

Sie bleiben bei der Morbidität? (lacht) Ich kann Ihnen sagen: Niemand schafft etwas aus dem Nichts. Dafür ein Beispiel: Eine Übung, die ich mit Studenten oft machte, bestand darin, sie ein Tier entwerfen zu lassen, das sich nicht als Kombination bekannter Formen präsentiert, also keine Nase wie eine Karotte und keine Füsse wie Wasserflaschen hat. Die rätselten dann vor sich hin und kamen zu keinem Ergebnis, der Auftrag ist unmöglich ausführbar. Und mit Büchern ist es nicht anders. Manchmal fühlt sich das Schreiben unglaublich schwierig, ja unmöglich an, alles erscheint mir dann zu gross, ich sehe keinen Weg, das Schreiben zu meistern. In solchen Momenten nehme ich das Wörterbuch zur Hand und sage mir: Jeder Autor, der je gelebt hat, hat einzig und allein jenes Set von Worten verwendet, das hier drin festgehalten ist, und alles, was verlangt ist, ist eine neue, richtige Ordnung für dieses Set. Danach geht es mir besser.

Die Orientierung am vorgegebenen Set schafft einerseits Geborgenheit, sie engt andererseits aber auch ein: Wie gingen Sie bei Ihrem «Schnipselprojekt» ganz praktisch mit den Zwängen eines vorgegebenen Wort- und Satzmaterials um?

Die konkrete Arbeit war unglaublich schwierig und nicht zu vergleichen mit der Art von Kreativität, die ich von meinen früheren Büchern kannte. Häufig kam es mir vor, als sässe ich vor einem riesigen Kreuzworträtsel, und natürlich war das einengend. Nur: manchmal bergen Beschränkungen ungeahnte Chancen!

Zum Beispiel?

Nun, in «Tree of Codes» gibt es viele Sätze, die ich wirklich mag, aber von mir aus, frei, nie so geschrieben hätte. Ich glaube zwar, dass Leute auch von sich aus zu sehr erstaunlichen Dingen fähig sind, denke aber nicht, dass irgendjemand in der Lage ist, ein wirklich grossartiges Buch – und damit meine ich jetzt nicht das meine! – in ganz «freier» Eigenregie zu verfassen. Joseph Brodsky sagte einst: «The rhyme is smarter than the poet.» Nicht selten ist es die Sprache selbst oder das enge Korsett, das sie einem im Fall des reimenden Dichtens auferlegt, was Wendungen und Lösungen herbeiführt, die der Dichter von sich aus nie geschaffen hätte.

Die Löcher in den Seiten von «Tree of Codes» öffnen nicht nur Assoziationsräume, sie geben der Lektüre auch einen Rhythmus vor, der auffällig poetisch ausfällt. Werden wir Sie künftig als Lyriker erleben?

Lustig, dass Sie das fragen! Tatsächlich habe ich vor ein paar Wochen entschieden, jeden Tag mit der Arbeit an ganz kurzen, drei- oder vierzeiligen Gedichten zu beginnen. Diese Art des Schreibens gefällt mir mittlerweile so gut, dass ich mir ernsthaft die Frage stelle, ob ich das nicht schon immer hätte tun sollen. (lacht) Nur arbeite ich daneben auch an einem Roman, und in Planung ist zudem ein nichtfiktionales Buch über Technologie.

Mit einer Anleitung zum Selberbasteln eines Mobiltelefons?

Bei aller Liebe für die Eigenproduktion: Da wäre ich chancenlos!


Das vorliegende Gespräch mit Jonathan Safran Foer wurde anlässlich des 18. Internationalen Literaturfestivals Leukerbad geführt. Wir danken der Festivalleitung für die freundliche Unterstützung.

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