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(4) Musik als Dienstleistung?

Im Kontext internationaler Organisationen und Regelwerke wird das Produzieren und Reproduzieren von Musik neuerdings als «Dienstleistung»
bezeichnet. Das Nachdenken über die sprachliche Ökonomisierung auch dieses Lebensbereichs
mündet in eine Reflexion über die schwierige Kunst, selber hinzuhören.

«Dienstleistungen» sind attraktiv geworden. Noch vor hundertfünfzig Jahren – so legt das Grimmsche Wörterbuch nahe – meinten sie hauptsächlich Dienste, die jemand freiwillig lei-stete, wenn er nicht aufgrund eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines Amtes dazu verpflichtet war. Heute hingegen bietet Dienstlei-stungen an, wer etwas auf sich hält: Öffentliche Institutionen tun es, und erst recht die bereits autonom reformierten Universitäten. Manche Privatschulen schaffen es sogar, die Idee der Dienstleistung mit Erfolg im Sinne eines umfassenden, innovativen Konzeptes pädagogisch umzusetzen. Warum also sollte ausgerechnet die Musik, die immateriellste aller Künste, nicht zur Dienstleistung prädestiniert sein?

In der Tat wird im offiziellen Sprachgebrauch von WTO, Unesco und EU das Produzieren und Reproduzieren von Musik neuerdings generell als «Dienstleistung» klassifiziert. Von Kunst ist dort nicht die Rede. Vielmehr wird Musik hauptsächlich als jene immaterielle Tätigkeit aufgefasst, die analog zur Sachleistung («Produkt») konzipiert und primär auf «Kunden» bezogen wird, die diese Leistung konsumieren. So wird eine wirtschaftlich bequem manövrierbare Definition von Musik erzeugt, unter der sich die vielfältigen Ausprägungen verschiedenster Musikkulturen problemlos vereinigen lassen. Ein solches Verständnis von Musik ist nur deswegen übergreifend einsetzbar, weil es die wirtschaftlich schwer fassbare Frage nach der Qualität von «Kunst» überhaupt nicht stellt. Stattdessen fragt es primär nach dem Bedürfnis der Kunden: aus ökonomischer Sicht ist es die «Service-Qualität», die die Güte von Dienstleistung ausmacht.

So erstaunt es wenig, dass die Vorstellung von Musik als einer Dienstleistung unter Musikschaffenden nicht nur Begeisterung, sondern auch erhebliche Verwirrung hervorruft. Haben viele Interpreten, Komponisten und Musiklehrer es sich nicht längst schon zur selbstverständlichen Gewohnheit gemacht, ihre künstlerische Tätigkeit in der einen oder anderen Weise in den Dienst der Musik zu stellen? Es mag sogar sein, dass sie ihr Selbstverständnis und die Motivation für ihre herausragenden Leistungen zu einem entscheidenden Teil aus der persönlich-subjektiven Auffassung eben dieses Dienstes beziehen. Wen wundert es, dass Musikschaffende mit dem Wort Dienstleistung häufig etwas anderes verbinden als jenen wirtschaftlich gefassten Dienst am Kunden, mit dem ihre Lebenswelt sie neuerdings konfrontiert? Ist es vor diesem Hintergrund nicht geradezu unumgänglich, dass solche Konfrontationen immer wieder bitterböse Polemiken in Gang setzen? Wo Vertreter der Wirtschaft sich lediglich um eine praktikable Formulierung zu bemühen glauben, sehen Musiker nicht selten entscheidende Aspekte ihres Selbstverständnisses in Gefahr. So droht die Auffassung von Musik als Dienstleistung ein erhebliches Konfliktpotential zu enthalten, das die Kommunikation zwischen den Interessengruppen eher behindert als vereinfacht.

Doch nicht nur für Musikschaffende ist der wirtschaftlich gefasste Begriff der Dienstleistung prekär. Auch unter den Konsumenten scheint er merkwürdig unangemessene Verhaltensweisen zu generieren. Etwa jene skurrile Haltung, die Robert Pfaller – nicht ganz ohne Ironie – Inter-passivität nannte; als Gegensatz zur omnipräsenten Interaktivität konzipiert, markiert sie die Tatsache, dass Konsumenten von Kunst-Produkten zunehmend dazu tendieren, diesen Konsum gar nicht mehr selbst zu vollziehen, sondern ihn von jemand anderem oder von etwas anderem, zum Beispiel von einer Maschine, erledigen zu lassen. Als Paradigma eines solchen delegierten Konsums gilt das Dosengelächter (canned laughter) in Fernsehkomödien, die auf diese Weise ihre eigene Rezeption gleich mitvollziehen und es dem Zuschauer ersparen, selbst lachen zu müssen. Doch grundsätzlich kann jede Kunst-Rezeption auf diese Weise delegiert werden. Zu denken wäre beispielsweise an den Musikliebhaber, der seine CDs kauft, um sie ins Regal zu stellen, ohne sie je anzuhören. Oder an den leidenschaftlichen Konzertgänger, der seine Karten Freunden verschenkt, die an seiner Stelle hingehen. In solchen Fällen bleibt dank der Durchökonomisierung des Konsums schliesslich nur noch die Illusion einer aktiven Beteiligung am Kulturleben aufrechterhalten. Dort, wo Kultur sein sollte, scheint das Konsumverhalten letztlich Überdruss zu produzieren, ein schwarzes Loch, das lediglich die Illusion von Kultur erzeugt und ihre entscheidenden kreativen Aspekte zum Erliegen bringt.

Vieles spricht dafür, dass es die Konsumhaltung ist, die die verschiedenen Formen von Interpassivität überhaupt erst generiert. Wenn dies zutrifft, dann bedroht die Verbreitung der Auffassung von Musik als Dienstleistung den Musikbetrieb gleich in doppelter Hinsicht. Besagte Auffassung wäre eine Art Unglücksfall, den es einzugestehen gilt und der nicht zuletzt als deutliches Symptom von Dekadenz zu interpretieren wäre, ausgelöst durch einen Übergriff der Wirtschaft auf die Musikkulturen, dem sich selbst der konsumtrainierte Mensch allmählich durch ein «interpassives» Verhalten unbewusst zu verweigern beginnt.

Sitzen wir also bereits in der Falle? – Ausgeschlossen ist es nicht. Dafür könnte sprechen, dass die wirtschaftsorientierte Auffassung von Musik als Dienstleistung trotz zahlreichen Warnrufen inzwischen Fuss gefasst hat und im Musikbetrieb auch aus rechtlichen Gründen nicht mehr wegzudenken ist. Insofern bliebe nur noch die Flucht nach vorn.

Richten wir den Blick also nicht auf das, was im Moment zerstört wird. Halten wir aber umso deutlicher fest, dass das wirtschaftskonforme Verständnis von Musik als Dienstleistung zumindest für Musikschaffende, denen eine gewisse Qualität ihrer Kunst am Herzen liegt, ein merkwürdiges leeres Ungetüm darstellt – eine Umschreibung einer blossen Hülle für das, was aus ihrer Sicht eigentlich die Hauptsache ausmachen müsste: nämlich jenen «Mehrwert» der musikalischen Dienstleistung, der im allgemeinen Sprachgebrauch mit dem (in Fachkreisen höchst umstrittenen) Wort «Kunst» benannt – und im wirtschaftsbezogenen Diskurs zur Zeit vorzugsweise totgeschwiegen wird.

Soll es dabei wirklich bleiben? Wäre es nicht angebracht, diesen «Mehrwert» wieder erkennbar zu machen, ihm gleichsam eine Stimme in der Gegenwart zu verleihen? Eine, die sich auch im primär wirtschaftsorientierten Diskurs behauptet?

Auf den ersten Blick mag das unmöglich erscheinen. Musik ist bekanntlich die abstrakteste aller Künste, und gerade ihr «Mehrwert» gilt als besonders schwer greifbar, zumal er dazu tendiert, ausgesprochen subjektiv auszufallen: wer schafft es schon, überzeugend in Worte zu fassen, warum ein Stück Musik gefällt? Wer weiss anderen zu erklären, warum eine Interpretin begeistert? Hinzu kommt, dass die oft angesprochene «postmoderne Beliebigkeit» die Aussicht auf einen Konsens im Moment erst recht unglaubwürdig erscheinen lässt. So scheint es im Augeblick nicht realistisch, dem «Mehrwert» von Musik eine gemeinsame Stimme verleihen zu wollen. Bleibt demnach nur noch Schweigen?

Nein, im Gegenteil: die musikalischen «Mehrwerte» sind ja keineswegs verloren, sie sind vielfältiger denn je – nur sind sie zum grössten Teil zur Privatsache geworden. Doch in dieser Vielfalt liegt auch eine Chance. Denn da «Mehrwerte» generell im Schweigen zu versinken drohen, scheint im Moment nahezu jede Aktion angemessen, ja wünschenswert, die irgend einem musikalischen «Mehrwert» in der Öffentlichkeit Stimme verleiht und somit dazu beiträgt, den dominierenden ökonomischen Diskurs zu ergänzen, zu erweitern oder vielleicht sogar zu unterwandern. Je mehr und je lauter die Stimmen, desto besser. Die Vielfalt und Vielschichtigkeit gegenwärtiger Musikkulturen erweist sich in dieser Situation als Vorteil.

Doch wirksam werden kann Musik erst dann, wenn sie in der Gegenwart, also bei einem aktiven Hörer ankommt. Stösst sie hingegen auf den passiv konsumierenden «Kunden» einer Dienstleistung, scheint sie auch ihre kreative Kraft, ihren Mehrwert, weitgehend einzubüssen. Denn wie gesagt, es muss damit gerechnet werden, dass Kunden dazu neigen, den Konsum von Musik entweder «interpassiv» zu delegieren oder in eine virtuelle Welt zu verlagern, die sie als Alternative zur realen Gegenwart begreifen. Ob Musik in diesem Fall irgendeine Art von «Mehrwert» aufweist, scheint in beiden Fällen weitgehend egal, weil der Konsument sich den kreativen Aspekten von Musik ohnehin verschliesst. Der Unterschied zwischen einem «Hörer», der selbst hinhört und einem «Kunden», der Musik gemäss seinen eigenen Vorstellungen konsumiert, ist subtil, aber entscheidend. Denn das Phänomen der Interpassivität droht nur dann, wenn Musik in einer realitätsfernen Sphäre so restlos konsumiert wird, dass sie zur Gegenwart gar nicht vordringt. Erlauben ihr die Rezipienten hingegen, auch ihre persönliche Gegenwart mitzugestalten und auf diese Weise wirksam zu werden, dann kann Musik wahrlich anregende und fruchtbare Veränderungen auslösen – so dass es selbst nicht ganz ausgeschlossen erscheint, dass es der einen oder anderen Stimme eines Tages gelingen wird, Einfluss auf den Verlauf jener übermächtigen wirtschaftsorientierten Diskurse zu nehmen, die weite Teile des gegenwärtigen Musikbetriebes in festem Griff zu haben scheinen.

Soll also der radikal wirtschaftsorientierten Auffassung von Musik als einer Dienstleistung entgegengewirkt werden, dann scheinen dazu insbesondere jene Arten von Musik geeignet, die sowohl ein «interpassives» Verhalten wie auch die Flucht in virtuelle Welten weitgehend unmöglich machen. Gleichzeitig scheint es angebracht, musikalische «Mehrwerte» in ihrer ganzen Vielfalt – und wo immer möglich – wirksam werden zu lassen und nach und nach auch einen möglichst dichten öffentlichen Diskurs darüber zu entfachen, was Musik eigentlich im Leben leisten kann – vorausgesetzt, dass sie nicht primär konsumiert wird. Dank der Vielfalt und Vielschichtigkeit bestehender Musikkulturen und ihrer Stimmen scheinen beinahe unendlich viele Möglichkeiten denkbar, solche Aufgaben zu realisieren. Ein gemeinsames Ziel hätte beim Versuch anzusetzen, im Publikum in erster Linie die Hörer zu erreichen, jene Rezipienten, die nicht nur konsumieren, sondern der Musik eine – körperlich-sinnliche – Präsenz in der Gegenwart ermöglichen. Faszinierende virtuelle Welten hin oder her: soll Musik in der Gegenwart wirksam werden und ihre Kraft entfalten, dann müssen ihre Rezipienten so in der Gegenwart verankert sein, dass sie beim Akt des Hörens nirgendwo sonst als im eigenen Körper präsent sind – und selbst hinhören.

«selbst hinhören» meint in diesem Sinn nicht zuletzt die Bereitschaft, sich auf ein emotionales Engagement einzulassen, das zumindest partiell von der Musik und ihren Interpreten ausgeht und insofern von Seiten des Hörers nie bis ins letzte Detail planbar sein kann. «selbst hinhören» heisst also auch, Musik nicht einfach zu konsumieren, sondern zu akzeptieren, dass der eigene Geschmack durch das Hören geformt und verändert wird, so dass er bisweilen sogar rätselhaft erscheinen mag.

Solange Musik «Mehrwerte» mit sich bringt, wird sie sich nie perfekt in die gegenwärtig vorherrschenden, durchökonomisierten Diskurse einfügen lassen. Doch in ebendieser Verweigerung liegt auch ein enormes kreatives Potential. Um dieses zu entfalten, verlangt jede Art von Musik vom Hörer eine eigene Offenheit gegen-über dem sinnlichen Erleben, das blossen Konsum übersteigt. Das Erlebnis, empfänglich zu sein, kann umgekehrt auch zur Erfahrung führen, dass der eigene bewusste Zugriff auf die Lebenswelt eng begrenzt ist. Gerade heute, angesichts der zahlreichen Konflikte, scheint es wichtiger denn je, Musik nicht nur zu hören, sinnlich zu erleben und wirken zu lassen, sondern sie überdies auch zur Sprache zu bringen. Der Versuch, sich dabei allgemein verständlich auszudrücken, und die damit verbundene Erfahrung, wie verschieden Musik von Mensch zu Mensch rezipiert wird, wirkt in der Regel ernüchternd genug, um auch jene Emotionen in die Schranken zu weisen, die immer wieder dazu tendieren, Universalität zu beanspruchen. Auf diese Weise könnte Musik schliesslich auch jene verantwortungsvolle «Bescheidenheit» oder «menschliche Grösse» lehren, die nötig ist, um Übergriffe zu vermeiden – und das Leben trotzdem zu geniessen: eine Erfahrung, die insbesondere jenen Vertretern aus der Wirtschaftswelt zu wünschen wäre, die die ökonomisierte Auffassung von Musik als einer Dienstleistung prägten.

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