Multikulti
«Multikulti» ist die so alberne wie despektierliche Verballhornung von «Multikulturalismus». Kritiker verorten dessen Ursprung wahlweise in linker Naivität, in Werterelativismus oder in der Hinterhältigkeit, die westliche Kultur abschaffen zu wollen. Dabei lässt sich dem eigentlich von bester liberaler Offenheit getragenen Konzept einiges abgewinnen, wenn man nicht den Rechtsrahmen unterschätzt und zugleich dem Sozialstaat in seiner befriedenden Wirkung zu viel zutraut, wie es im Ruf nach Teilhabe anklingt, wie ihn Charles Taylor erhebt.
Das Phänomen und die Politik des Multikulturalismus sind uralt. Schon in der Antike haben verschiedene Kulturen unter derselben Herrschaft koexistiert. Das Konzept des Multikulturalismus in der politischen Theorie stammt erst aus den 1960ern und ist aus Konflikten Kanadas gewachsen. Die Rivalität zwischen Anglo- und Frankophonen drohte in die Sezession Québecs zu münden. Das Konzept, nach dem verschiedene Kulturen nebeneinander gleichrangig bestehen können, half den Kanadiern, die Spannungen zu befrieden und Toleranz einzuüben.
Viele Europäer pochen auf Integration bis zur Assimilation oder verbarrikadieren sich hinter «Interkulturalität»; der amerikanische Schmelztiegelgedanke fusioniert alle Kulturen in einer neuen. Dagegen baut das kanadische Konzept, das als Grundrecht sogar Eingang in die Verfassung gefunden hat, behutsam eine Brücke. Der Slogan «Einheit in Vielfalt» drückt die Einsicht aus, dass es eines gemeinsamen identitätsstiftenden Narrativs und des individuellen Bekenntnisses zur Verfassung bedarf, vor allem zu den Menschenrechten. Die Einheit – aber auch nur diese – muss der Vielfalt Grenzen setzen, der Universalismus mithin dem Partikularismus der Werte. Nur solange die Angehörigen der ethnischen Gruppen, die aufeinandertreffen, einander nicht gewaltsam die Existenzberechtigung streitig machen, ist der Multikulturalismus eine Bereicherung. Aber dann darf man sich an der Buntheit der Gesellschaft vorbehaltlos freuen und gespannt darauf schauen, was sie mit einem macht.
Karen Horn
ist Dozentin für ökonomische Ideengeschichte, freie Autorin sowie Chefredaktorin und Mitherausgeberin der Zeitschrift «Perspektiven der Wirtschaftspolitik».