«Müssig geht der Pfau»
Wie die Kunstform des Schauspiels Texte mittels Körpereinsatzes zum Leben erweckt. Und der Körper sogar als Gedächtnis fungiert.Ein Gespräch über Sprache und Spiel.
Herr Hunger-Bühler, Ihr Beruf heisst «Schauspieler». Darin stecken das (Nach-)Spielen und das «Zurschaustellen» vor anderen. Die Sprache fehlt – dabei ist sie doch Ihr täglich Brot.
Indem ich etwas «nach»-spiele, spiele ich dem Zuschauer etwas «vor», also wird Vergangenheit mit Zukunft gemischt, und so ergibt sich beim Schauspieler die unnachahmliche Gegenwart. Der Rhapsode bei den alten Griechen ist der mit Sprache gefüllte Sänger der Sprache. Da ist der Schauspieler der Geschichtenerzähler. Er ist Sänger und Rezitator zugleich. Die Sprache ist ja, bevor sie überhaupt gesprochen ist, eine Körpersprache, sie ist im Körper. Ich hatte das Glück, dies schon weit vor dem Ergreifen des Schauspielberufes entwickeln zu dürfen.
Wie kam das?
Ich hatte die Gnade, eine hochdeutschsprechende Mutter im Haushalt zu haben, dazu einen Vater, der auch sehr sprachaffin war. Wir haben ständig über Wortschöpfungen philosophiert, nicht im akademischen Sinn, sondern eher einfach so aus Lust an der Sprache. Meine Mutter hat mir dann schon vor der Schule das Lesen beigebracht, und so konnte ich leicht mit den Worten umgehen und habe gemerkt: Damit bin ich zumindest bis zum Gymnasium unschlagbar und kann auch meine Schwächen in Mathematik und Algebra wettmachen.
In Ihrem Buch «Den Menschen spielen» erzählen Sie, auch Ihr Deutschlehrer habe eine wichtige Rolle gespielt bei Ihrem Schauspielerwerden.
In der Bezirksschule sollten wir in der sechsten oder siebten Klasse ein freies Referat halten – das konnte ein Gedicht sein, eine Geschichte, ein Essay. Ich habe ein Buch von Hermann Buhl gewählt, der den Nanga Parbat als erster bestiegen hat, ein Österreicher. Diese autobiografische Beschreibung des Gipfelsturms habe ich, ohne es zu wissen, komplett auswendig gekonnt und 20 Minuten lang in voller Länge vorgetragen. Danach war Stille im Raum. Der Lehrer, Heinrich Stirnemann, hat dann gesagt, dafür gebe es einen Beruf. Ich war ganz begeistert, denn Stirnemann war auch Fussballer beim FC Aarau und sowieso der Grösste für mich. Als ich dann in Aarau meine ersten Theateraufführungen gesehen habe, hat mich das so fasziniert, dass ich schliesslich in den Nachtzug nach Wien gestiegen bin, um Schauspieler zu werden.
Der Schauspieler «erweckt den Text zum Leben», heisst es in einer klassischen Umschreibung – sozusagen augmented literature. Sind Sie Literaturvermittler?
Ich würde mal hochtrabend sagen, ich bin der Philosoph des Wortes oder, um es mit Roland Barthes zu sagen, der Verwalter des Wortes, wenn das Wort eine Augenscheinlichkeit bekommt. Selbst wenn ich es lese, ist es noch nicht in sprechbarem Zustand, aber schon da wird das Wort eigentlich einverleibt und gewinnt Gestalt. Und ich mache nichts anderes, als dem durch mein Tönen und durch meine Artikulation nochmals eine andere Höhe zu geben, eine Höhe der Verständlichkeit oder sogar des Genusses.
Manchmal beschleicht einen das Gefühl, Verständlichkeit sei im heutigen deutschsprachigen Theater nicht immer das oberste Gebot. Einverstanden?
Ja, wir sind in einem endlosen postmodernen Prozess, dessen Ende immer noch nicht abzusehen ist. Es ist, als habe man Angst vor der leeren Bühne und dem von mir schon oft zitierten einen Scheinwerfer. Ein Schauspieler darunter, allein mit der Macht des Wortes. Dann würde die sogenannte Verständlichkeit sofort viel höher. Man braucht auch keine Angst zu haben, dass das zu trivial wird, im Gegenteil. Genau das würde die Magie wiederbringen.
Ihr Theater hätte also weniger Bühnenbild, weniger Action, weniger Musik, weniger Video?
Das kann alles sein, aber immer rückgeführt und gesichert durch die lebendige und vitale Zeitgenossin, die da auf der Bühne steht. Das ist das Unschlagbare am Theater. Die ersten Aufführungen, die Sie in Ihrem Leben gesehen haben, da tauchen doch Urbilder auf – ein Geschmack, ein Geruch, eine Farbe, ein Klang einer Stimme.
Kann nicht auch der Text allein genügen? Ich kann mich genau erinnern, wo ich war, als ich die berühmten Abschnitte rund um die Grossinquisitor-Episode in Dostojewskis «Die Brüder Karamasow» las – schlaflos und zitternd in einem rumänischen Nachtzug.
Das ist ein ganz ähnlicher Vorgang. Sie sind dabei aber ganz allein mit Ihrem Buch. Im Theater teilen Sie auch noch etwas mit anderen. (Hält inne.) Ich lese gerade zum zweiten Mal in meinem Leben «Nachsommer» von Adalbert Stifter. Es ist unglaublich wohltuend, in diese Welt, die es überhaupt nicht mehr gibt, die sogar für Stifter artifiziell war, einzutauchen. Bis er das Wort «Liebe» ausspricht, braucht es 300 Seiten. Dieses unglaublich Monotone, Gleichmässige, das Verharren in den Naturbeschreibungen, das tut so wahnsinnig gut. Wenn man sich das jetzt in meinem Alltag vorstellen würde, wäre das so absurd, man müsste darüber lachen. Das ist das Ungeheure, was das Lesen ausmacht. Das müsste auch das Theater viel mehr beschwören, in vergangene, andere Welten eintauchen und sich darin verlieren.
Ist das auch ein Wunsch nach weniger Streichungen und Änderungen in älteren Originaltexten?
Ja, schon. Es gibt ja heute die theatralische Form der «Überschreibung»: Man nimmt einen klassischen Text und macht daraus eine sogenannte «zeitgenössische» Fassung. Da überschreibt dann zum Beispiel Dietmar Dath einen Strindberg-Text oder «Frankenstein». Das kann gut gehen, aber wenn so einer seine Theorie auf ein Stück draufstülpt, tut es mitunter auch weh. Im Falle von «Frankenstein» ist ganz klar zu sagen, dass der Urtext von Mary Shelley einfach weit, weit besser ist als der von Dietmar Dath. Dichter haben eine «Sprache» – oder nicht.
Woran bemessen Sie das?
Das kann ich beurteilen, weil ich beide Texte gesprochen habe.
Was ist generell gute Sprache, gutes Deutsch auf der Bühne?
Es gibt diese zwei klassischen Pole: das eher weichere Wiener Hochdeutsch und das Hannoveraner Hochdeutsch, das irgendwie das reinste sein soll. Aber das sind letztlich Behauptungen. Ich finde, eine Sprache darf, ja soll bei jedem Schauspieler anders klingen, bei jedem schwingt sowieso ein regionales oder sogar ein ganz lokales Idiom mit. Und das ist doch wunderbar. Bruno Ganz ist das beste Beispiel. Bei ihm hat man das immer durchgehört. Wir – ich wegen meiner deutschen Mutter etwas weniger – mussten ja das Hochdeutsche als Fremdsprache noch einmal neu lernen.
Ist das Schweizersein deswegen ein Karrierehindernis im Schauspiel? Es gibt ja, jedenfalls auf den grossen Bühnen, kein schweizerdeutsches Theater.
…und das finde ich sehr schade! Meine Frau hat mal den «Kirschgarten» von Tschechow als «Chriesigarte» inszeniert, und ich habe die schweizerdeutsche Fassung gemacht. Da habe ich gemerkt: Was für ein Traum! Wie nahe ich diesem Tschechow komme, der auch nicht nur in russischer Hochsprache geschrieben hat! Man müsste das viel öfter machen. Das Problem ist, dass man glaubt, das sei dann zu regional und die Leute, die mit den Bussen aus dem Ausland kommen, verstünden dann gar nichts mehr. Aber man kann es ja übertiteln, wie bei Filmen.
Oder in der Oper.
Ich finde, man sollte viel mehr dazu stehen, was für einen unglaublichen Reichtum wir an Sprache haben, also was für unglaubliche Wortschöpfungen unser Helvetismus birgt. Wenn ich einem Deutschen gegenüber von «Erdäpfeln» spreche, lacht er mich aus. Aber ist das nicht enorm bildhaft? Der Erdapfel sieht einfach anders aus als die Kartoffel. Ich verbinde Worte, um sie mir merken zu können, oft mit meinem ursprünglichen Schweizer Ausdruck dafür. Weil die Sprachbilder oft näher sind. Kennen Sie das Wort «verschnäpfe»?
Nein.
Das heisst «ein Geheimnis verraten».
Interessant eigentlich, dass Hannover zum Orientierungspunkt wurde. Dort sprach man ja jahrhundertelang Niederdeutsch – Standardsprache wurde aber das Hochdeutsche aus dem Süden. Wir haben uns durchgesetzt!
Genau, wir sind der Ursprung, selbstverständlich (Lachen). Andererseits ist es schon stupend, wie die Deutschen ihre Sätze parat haben. So ein Fernsehmoderator – das ist schon ein gewaltiger Unterschied im Vergleich dazu, was bei uns so dahergestammelt wird.
Sie sind für Ihre Monologe bekannt. Mögen Sie das auch am liebsten? Brauchen Sie gar keine Mitspieler?
Der Monologist ist entsetzlich einsam. Aber er hat auch die Autonomie der Mittel.
Ist eine gemeinsame Autonomie der Mittel im Ensemble nicht möglich?
Doch, natürlich! Lang hat’s gedauert, jetzt muss eine Fussballmetapher her. Wenn ein Ensemble oder eben eine Mannschaft gut eingespielt ist, dann gibt jede Volte eines Stürmers oder eines Aussenverteidigers einen Ruck durch die ganze Mannschaft: Die Volte wird von den anderen gelesen und übernommen. Da wird nicht gesagt: «Das haben wir im Training aber nicht geübt.» Es wird rochiert, links, rechts, ein Linksfüsser auf der halbrechten Position und so weiter. Das ist bei der Schauspielerei ähnlich.
Wie gross ist eigentlich die Überschneidung zwischen Schauspiel und Sport? Das Schauspiel ist extrem körperlich. Ist die Fitness ein entscheidender Faktor?
Die Sprache eines Schauspielers gerät erst durch den Körper in Bewegung. Ich hab das schon getestet, wenn ich ein Stück länger nicht mehr gespielt habe gehe ich auf die Bühne und erinnere ich mich an den Orten, an denen ich bei den letzten Aufführungen schon gewesen bin, auch an den Text. Mein Körper erinnert sich, es ist nicht eine Gedächtnisarbeit, keine kognitive Leistung, sondern es entwickelt sich dort eine Erinnerung, die über den Körper läuft.
Also nicht wie damals bei «Wetten, dass…», als sich ein Kandidat eine 600 Stellen lange Zahl merken und dann beliebige abgefragte Stellen aus dem Kopf aufsagen konnte? Er meinte, er merke sich die Ziffern in Dreiergruppen, für die er feste Bilder im Kopf gespeichert habe.
Das ist gut beschrieben. Mein grosser Zeichenmeister ist ja Roland Barthes: Es geht um das Beherrschen des sprachlosen Zustandes, das heisst sich immer wieder in einen «Reset»-Zustand zurückzuversetzen, um das Ganze neu aufzuladen. Wie bei einem Palimpsest. Es geht einfach nicht, dass man ständig nur immer weiter auffüllt. Wir halten viel zu wenig die Schnauze.
Sie müssen Ihr Sprachreservoir also immer wieder leeren. Heisst das, dass Sie den «Faust» gar nicht mehr können?
Doch, der ist da! Löchrig, aber er ist da, abgespeichert auf einer Festplatte, der ist abgekoppelt.
Sie haben fast alle grossen Rollen gespielt. Gab es den einen Stoff, der Sie überfordert hat, der sprachlich übermächtig war im Vergleich zu Ihren Versuchen?
Immer wieder Shakespeare. Da habe ich jedes Mal das Gefühl, ich hätte einiges ordentlich geschafft, aber ich könnte es nochmals spielen, um das noch komplexer zu erfahren. Das sind Autoren, wo man merkt: Da wird man nie fertig. Aber die eben auch nie ihren Reiz verlieren. Das gilt auch für Haikus mit ihrer unglaublichen Strenge. Ich hab wieder mal eins geschrieben (zückt sein Notizbuch und blättert). Das heisst, ich schreibe dauernd welche, ich bin nur meistens nicht zufrieden damit.
Wenn Erinnerung beginnt,
verbrennt Gegenwart
im Licht der Kindheit.
Der ist gelungen. Haben Sie mitgezählt?
Ich habe mich ganz dem Inhalt hingegeben. Erinnert mich an eine Liedzeile von Tocotronic: «Im Blick zurück entstehen die Dinge, im Blick nach vorn entsteht das Glück.»
Sehr schön. Darf ich noch mal, wie beim Schachspielen, den nächsten Zug machen?
Bitte.
Müssig geht der Pfau
und schüttelt sein Gefieder
am Wildschwein vorbei.
Ein Schauspieler-Haiku?
(gespielter Protest) Jetzt drängen Sie mich natürlich sofort wieder in eine Rolle. Ich bin im übrigen auch kein Wildschwein.
Nicht mal eine Rampensau? Sie sind bald 67 Jahre alt. Was kommt noch?
Ich habe am Schauspielhaus Zürich meine sogenannte vertragliche Mission erfüllt und bin wieder frei. Aber: «Everybody has to serve somebody», sagt Bob Dylan, und ich diene jetzt einfach anderen Leuten. Es ist keine totale Freiheit, das wäre ja furchtbar.
Sie wollen noch spielen.
Wie soll ein Maler mit sechsundsechzig den Pinsel weglegen?