Moskau – Kijew einfach
Wem gehört die Krim? Wem die Ukraine? Wer so fragt, muss auch fragen: Wann? Denn: Kijew war schon eine reiche Metropole, als Moskau noch nicht einmal den Rang einer Stadt hatte. Ein historischer Streifzug durch das Dickicht nationaler Besitzansprüche.
«Konstantinopel gehört zu uns!» Mit dieser imperialistischen Devise hat sich in den 1870er Jahren der Grossschriftsteller Fjodor Dostojewskij, der auch ein militanter Nationalist war, in den Chor jener eingereiht, denen die «Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit» als Vorwand für militärisches Eingreifen in Bulgarien und auf dem Balkan dienen sollte. Für Dostojewskij und seinesgleichen stand fest, dass Konstantinopel (Byzanz) als «Wiege der russischen Orthodoxie» und damit als integraler Bestandteil der russischen Geschichte wie auch des grossrussischen Weltbilds zu gelten hatte.
«Die Krim gehört zu uns!» Auch dieser – nicht ganz so weit reichende – Slogan, der ja nun in jüngster und kürzester Zeit zu einem politischen Faktum geworden ist, wird mit Rückgriff auf die Geschichte legitimiert – die Halbinsel im Schwarzen Meer habe schon immer «naturgemäss» beziehungsweise «organisch» zu Russland gehört, und man habe das Territorium nun eben, in Übereinstimmung mit dem mehrheitlichen «Volkswillen», heimgeholt. Genau so, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen, argumentiert die tatarische Minderheit, die sich darauf berufen kann, die Krim einst besiedelt und zu einer blühenden Landschaft gemacht zu haben. Worauf die Grossrussen entgegnen, sie hätten diese Landschaft trotz tatarischer Besetzung als «russische Erde» kultiviert. Die offizielle Ukraine wiederum beruft sich auf die geschichtliche Tatsache, dass ihr die 1783 vom russischen Imperium annektierte Krim zur Sowjetzeit legal via Moskau zugeschlagen worden sei.
Da wie dort, damals wie heute scheint es also tatsächlich in erster Instanz um die «Wiederherstellung» einstiger territorialer Gegebenheiten und eben damit der «historischen Gerechtigkeit» zu gehen. Dass die fraglichen Gegebenheiten vielfach von Mythen- und Legendenbildungen verschattet sind, beflügelt die akuten Querelen um Recht und Gerechtigkeit umso mehr, erschwert aber auch jeden rationalen Problemlösungsversuch. Der gegenwärtige Status der ukrainisch-russischen Beziehungen scheint jedenfalls – auf beiden Seiten – eher von pseudohistorischen Phantasmen bestimmt zu sein als von vernünftigen, zukunftsgerichteten Überlegungen und Argumenten.
Dass die «Wiederherstellung» einer wie immer gearteten geschichtlichen «Gerechtigkeit» durch die Rückforderung oder Rückeroberung von ehemaligen Staatsterritorien, die längst in andere nationale Zusammenhänge eingegangen sind, heute völlig indiskutabel ist, wird auf russischer Seite offenkundig ignoriert. Gleichwohl nimmt die Anzahl prorussischer Sympathisanten in der Ukraine wie auch bei westlichen Rechts- und Linksparteien markant zu, ganz zu schweigen von der ohnehin schon überwiegenden Mehrheit der Gefolgsleute Präsident Putins in der Russländischen Föderation. Die Befürworter einer militanten Reintegration vormaliger russischer Staatsgebiete – nicht nur der ukrainische Osten, auch Warschau und ein Grossteil Polens gehörte einst dem Zarenreich an – berufen sich vorzugsweise auf die sogenannte Kijewer Rus mit der heutigen ukrainischen Hauptstadt als fürstlichem Machtzentrum, um ihre Ansprüche zu begründen und geltend zu machen: Kijew sei die «Mutter Russlands», die «Wiege» der russischen Orthodoxie wie auch der weltlichen russischen Kultur.
Tatsache ist, dass Kijew im 12. Jahrhundert eine der reichsten und grössten Städte Europas war, wirtschaftlicher und geistlicher Mittelpunkt eines mächtigen, international vernetzten Vielfürstentums, das sich von den Steppen des südlichen Dneprgebiets über Minsk und Rjasan bis ins nördliche Nowgoroder Land erstreckte, weit genug, um den wichtigsten Handelsweg zwischen Ostsee und Schwarzem Meer unter Kontrolle zu haben – dies zu einer Zeit, da Moskau noch nicht einmal den Rang einer Stadt, geschweige denn eines eigenständigen Fürstenreichs besass: Die erste Erwähnung der heutigen russischen Metropole ist auf 1147 zu datieren und bezieht sich lediglich auf eine kleine private Burg, die in der Folge ausgebaut und so zur Urzelle des Moskauer Kremls wurde. Da Kijew unter dem «Tatarenjoch» schwer zu leiden hatte und schon um 1240 von den anstürmenden Nomaden in Schutt und Asche gelegt wurde, bot sich dem inzwischen erstarkten und von der Okkupation weniger betroffenen Moskowitischen Reich die Chance, sich als neues Zentrum des Russentums zu etablieren und das Erbe Kijews – vorab die Orthodoxie, aber auch Errungenschaften der Architektur und Schriftkultur – in eigenem Interesse zu übernehmen.
Dass schon die alten Kijewer Fürsten ihr Staatsgebiet als «russische Lande» bezeichnet hatten, erleichterte den Moskauer und Petersburger Nachfolgemächten die Behauptung, die Ukraine (und mit ihr auch polnische und litauische Ländereien) seien schon immer russisch gewesen. Auf diese angeblich direkte Rückverbindung bezieht sich nun, im Verein mit dem Moskauer Patriarchat, auch Wladimir Putin, um die national- und kulturgeschichtliche Zugehörigkeit der ukrainischen Territorien zu Russland geltend zu machen – eine obsolete Argumentation, für die er den grossrussischen Belletristen und nationalistischen Ideologen Alexander Solschenizyn als Gewährsmann aufrufen kann.
Doch die grossrussisch-nationalistische Perspektive liesse sich, wenn schon von «historischer Gerechtigkeit» die Rede ist, problemlos umkehren, mit dem Ergebnis, dass dann aus Kijewer Sicht gesagt werden könnte, das Moskauer Reich wie auch das nachfolgende Petersburger Imperium hätten ihre Wurzeln in der Ukraine, von der sie sprachlich, konfessionell und zivilisatorisch zutiefst geprägt seien. Tatsächlich gibt es zahlreiche ukrainische Patrioten, für die Russland lediglich ein ausgedehntes halbasiatisches Hinterland ist, das sich nach seinem späten Eintritt in die Geschichte auf Kosten und zum Leidwesen Kijews zu einer repressiven Grossmacht entwickelt und die Ukraine für Jahrhunderte als «Kleinrussland» missachtet und ausgebeutet hat. Ein ukrainischer Patriot zu sein, ist angesichts der vielfältigen und wechselhaften Verflechtungen mit so verschiedenartigen Nachbarvölkern wie den Litauern, den Moldawiern, den römisch-katholischen Polen, den griechisch-katholischen Ruthenen oder auch den im polnisch-ukrainischen Grenzland (Galizien, Wolhynien) ansässigen Juden eine naturgemäss problematische Angelegenheit.
Dass die Problematik der nationalen Zugehörigkeit für manche Ukrainer – allen voran Kunstschaffende und Intellektuelle – zum Anlass für erhöhte patriotische Toleranz und zur produktiven Nutzung des «Fremden» führte, wäre mit zahlreichen Fallbeispielen zu belegen. Hingewiesen sei hier bloss auf den ukrainischen Nationalschriftsteller Iwan Franko, der als Galizier aus dem damaligen k.-k. Österreich stammte, der Ukrainisch, Polnisch, Deutsch gleichermassen beherrschte, sich aber als «internationalistisch» gesinnter ukrainischer Patriot in seiner Heimat nur gegen grosse Widerstände durchsetzen konnte. Ein anderes, weit bekannteres Beispiel gibt Nikolaj Gogol ab, der als Ukrainer zu einem Klassiker der russischen Erzählkunst avancieren konnte, weil er durch die Ukrainisierung des Russischen ein völlig neuartiges literarisches Idiom schuf, das für gut ein Jahrhundert – von Dostojewskij und Lesskow bis hin zu Andrej Belyj und Boris Pilnjak – vorbildlich blieb. Gogol wird in Russland bis heute bedenkenlos als «einheimischer» Autor rubriziert, doch als solchen könnte ihn durchaus auch die Ukraine beanspruchen – viele ukrainische Literaten schreiben russisch (oder sind zweisprachig: ukrainisch-russisch bzw. ukrainisch-polnisch), ohne deswegen mindere Patrioten zu sein. Betrachtete man die russische Belletristik unter diesem Gesichtspunkt, müsste auch eine lange Reihe herausragender Autoren der «russischen» Moderne der ukrainischen Literatur zugeschlagen werden – so Isaak Babel, Sigismund Krzyżanowski, Michail Bulgakow, Wassilij Grossman. Als «Sowjetschriftsteller» sind diese (wie auch zahlreiche andere) Autoren ungeachtet ihrer ukrainischen Herkunft in die Literaturgeschichte Russlands eingegangen, Autoren übrigens, die allesamt der stalinistischen Kulturvernichtung zum Opfer gefallen sind und die erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU, 1956, allmählich rehabilitiert wurden, und dies – wohlverstanden – unter der Ägide des neuen, aus der Ukraine stammenden Ersten Sekretärs und Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow.
Mit Blick zurück auf die künstlerische Moderne Russlands insgesamt und auf die Innovationsleistungen der revolutionären Avantgarde im besonderen kann man über den Beitrag ukrainischer Kunstschaffender nur staunen: Was schon immer unterm Stichwort «Avantgarde» subsumiert wurde, ist zu einem guten Teil – dem Umfang wie der Qualität nach – als singuläre Kulturleistung der Ukraine gutzuschreiben. Ukrainischer Herkunft waren Dawid Burljuk (Wortführer des Kubofuturismus), Alexander Schewtschenko (Wortführer des Neoprimitivismus), Kasimir Malewitsch (Begründer und Theoretiker des Suprematismus), El Lissitzky (Wortführer des Konstruktivismus), Sonja Terk-Delaunay (Mitbegründerin des Orphismus), Alexandra Ekster (führende kubofuturistische Malerin und Designerin) und viele andere mehr. Dazu kommen führende ukrainische Intellektuelle wie Nikolaj Berdjajew, Lew Schestow, Sergej Bulgakow, die im vorrevolutionären Kijew wesentlich zur internationalen Anerkennung der «russischen» philosophischen Kultur beigetragen haben und von denen gleichwohl niemand sagen würde (oder auch bloss wüsste), dass sie Ukrainer sind.
Das trifft im übrigen gleichermassen auf manch einen zeitgenössischen «russischen» Literaten ukrainischer Herkunft zu, auf Eduard Limonow wie auf Andrej Kurkow, doch niemand in der Ukraine hat oder hätte die Ambition, die einheimischen, russisch schreibenden Autoren für die Nation oder auch nur für die Nationalliteratur zu beanspruchen. Warum eigentlich nicht? Wie kommt es, dass sich eigenständige, oftmals höchst innovative ukrainische Kunstschaffende mit fast schon irritierender Selbstverständlichkeit von der grossrussischen Kulturszene vereinnahmen lassen, obwohl sie doch viele gute Gründe hätten, ihre eigenen Leistungen herauszustellen? Hat die Ukraine womöglich ihren während Jahrhunderten erzwungenen «kleinrussischen» Status in bezug auf «Grossrussland» verinnerlicht? Die Frage wird kaum je ernsthaft zur Diskussion gestellt. Bedenkenswert ist sie allemal.
Der vorliegende Text unseres ehemaligen Kolumnisten erschien ausserdem in der deutschen Wochenzeitung «Der Freitag».