Momentaufnahme des zertrümmerten Deutschlands
Stig Dagerman: Deutscher Herbst.
Seit 1977 meint «Deutscher Herbst» die Konfrontation zwischen linksterroristischer RAF und bundesdeutschem Staat im September und Oktober jenes Jahres – mitsamt gesellschaftlicher Konfliktlinien, die sich damals Bahn brachen. Dass zu diesem Zeitpunkt längst ein gleichnamiges Werk existierte, das sich mit deutschen Mentalitätsfragen unter zugespitzten Umständen befasst hatte, ist ein vergessenes, historisch aber nicht unerhebliches Detail.
Der schwedische Schriftsteller Stig Dagerman (1923–1954), der 1945 mit seinem vielbeachteten Debüt «Die Schlange» die Kritiker begeisterte und sich Anfang 30 das Leben nahm, bereiste im Herbst 1946 im Auftrag der Stockholmer Zeitung «Expressen» das besiegte und zerbombte, gleichwohl mit einigen Überraschungen aufwartende Deutschland. Der Autor besuchte Städte und Dörfer, beobachtete die Bevölkerung, führte Gespräche und wohnte Verhandlungen bei, erlebte den Schwarzmarkt und das Vergnügen inmitten von Ruinen. So wurde er nicht nur zum Chronisten eines Landes, das in Trümmern lag, sondern auch einer Einstellung – des keineswegs durch Einsicht, sondern einzig durch den militärischen Sieg der Alliierten zertrümmerten nazistischen Bewusstseins. Dagerman dokumentierte, welch lavierende Formen dieses innerhalb weniger Monate angenommen hatte: «Fragt man ihn, ob er ein Nazi gewesen sei, antwortet er, er sei sieben Jahre im Krieg gewesen, und ist der Meinung, dass dies als Antwort ausreiche», heisst es etwa über einen ehemaligen Soldaten. Einen vormaligen Blockwart, gegen den prozessiert wurde, belastete ein jüdischer Zeuge als «eines dieser stillen, treuen, schrecklich effektiven Rädchen, ohne die die nationalsozialistische Maschinerie nicht einen Tag funktioniert hätte». Die Furcht der ehemals von ihm Überwachten wehrte dieser Angeklagte schlicht ab mit: «Angst vor mir? Einem alten, kranken Mann!»
Dem Milieuübergreifenden an diesem Opfergehabe spürte Dagerman bis in die Areale des vermeintlich Unpolitischen nach. «In deutschen Städten passiert es einem häufig, dass Menschen den Fremden bitten, ihnen zu bestätigen, dass gerade ihre Stadt die am meisten verbrannte, zerstörte und zertrümmerte in ganz Deutschland sei», notierte er, «es geht nicht darum, in seiner Betrübnis Trost zu finden, die Betrübnis selbst ist zum Trost geworden. Dieselben Leute reagieren missmutig, wenn man ihnen sagt, man habe andernorts Schlimmeres gesehen.» Über das Soziopsychologische hinaus gelang es dem Beobachter zudem, mit gelassener Präzision Stimmungen einzufangen, die insbesondere das Kaputte und Trostlose des städtischen Schuttes ausstrahlte.
1946 erschienen Dagermans Aufzeichnungen zunächst in «Expressen», ein Jahr später in Buchform. Während es in Schweden regelmässig neu aufgelegt wird, war es auf Deutsch zuletzt in den 1980er-Jahren erhältlich. Dank dem Berliner Verlag Guggolz, der sich der Aufgabe verschrieben hat, unbekannte bis vergessene Literatur aus Ost- und Nordeuropa verfügbar zu machen, und diesbezüglich schon einige verdienstvolle Resultate vorweisen kann, ist «Deutscher Herbst» nun in Neuübersetzung von Paul Berf wieder zu lesen. Wer wissen will, weshalb Deutschland nach 1945 im Guten wie im Schlechten zur Bundesrepublik wurde, wird hier weit mehr als nur ein aufschlussreiches Psychogramm vorfinden.
Stig Dagerman: Deutscher Herbst. Berlin: Guggolz-Verlag, 2021.