Mohammed und der Super-GAU
«Mind the Gap!» steht in der Londoner Subway und soll Reisende daran erinnern, nicht in den Spalt zwischen Bahnsteig und Zug zu fallen. Ähnliches darf man heutigen Medienkonsumenten zurufen – hier geht es um einen Wahrnehmungsapparat. Die Mainzer Forscher Hans Mathias Kepplinger und Richard Lemke haben untersucht, wie ausgewählte «Qualitätsmedien» verschiedener Länder vor über einem […]
«Mind the Gap!» steht in der Londoner Subway und soll Reisende daran erinnern, nicht in den Spalt zwischen Bahnsteig und Zug zu fallen. Ähnliches darf man heutigen Medienkonsumenten zurufen – hier geht es um einen Wahrnehmungsapparat.
Die Mainzer Forscher Hans Mathias Kepplinger und Richard Lemke haben untersucht, wie ausgewählte «Qualitätsmedien» verschiedener Länder vor über einem Jahr über Fukushima berichteten. Sie fanden heraus: In 90 Prozent der analysierten Berichte aus Deutschland und der Schweiz ging es von Beginn an nicht nur um einen Tsunami und ein Reaktorunglück auf der anderen Seite der Welt, sondern immer auch um den potentiellen Super-GAU im mitteleuropäisch-eigenen Garten. Die 30000 Tsunamiopfer waren schnell vergessen, die drei unmittelbaren Strahlenopfer aber dienten wochenlang als Aufhänger, einen «mehr als angezeigten» Atomausstieg an Rhein und Aare herbeizuschreiben.
Szenenwechsel: ein in Amerika produziertes Mohammed-Schmuddeltape, das sich bald als völlig stümperhaftes C-Filmchen entpuppte, enthemmte laut Medienberichten die ganze islamische Welt. Zunächst wurde ein US-Botschafter ermordet. Dann wurden massenweise Botschaften gestürmt, Flaggen entzündet, Stadtteile verwüstet. Schüsse fielen. Die islamische Welt, so schien es, gehe vollständig in Flammen auf – der Islam (nicht die Islamisten!), so einige konservative Apokalyptiker, zeige nun sein wahres Gesicht und gebe sich ungehemmt dem Hass auf Demokratie, Frieden, Coca-Cola und Videorecorder hin. Aber auch hier: Fehlanzeige. Megan Reif, Politikwissenschafterin an der University of Colorado, hat berechnet: Von 80 Millionen Muslimen in Ägypten gingen ganze 2500 Moslems zu Anti-Film-Protesten. Im Iran, wo 74 Millionen Muslime leben, protestierten 5000 Menschen, von 21 Millionen Syrern waren es 500 und von 34 Millionen Algeriern ganze 36. In Worten: sechsunddreissig.
3 von 30000 Toten führen Mitteleuropa zum Atomausstieg, 36 von 34000000 Algeriern werden zum Sinnbild des ganzen Islams – der «Gap» zwischen Wirklichkeit und Medienwirklichkeit ist enorm. Zugrunde liegen ihm jahrzehntelang kultivierte Feindbilder und naives Bestätigungsgebalze: Was dem Grünen sein Fukushima, das ist dem christlich Konservativen sein Islam. Am Anfang medialer Hysteriebewirtschaftung steht immer die auf sich selbst bezogene Eitelkeit des Lesers: «Ich habe es immer gewusst.» Die Studien aus Denver und Mainz nun sagen: «In Wirklichkeit wisst ihr gar nichts.» Mind the Gap!