Mitten in der Schweiz
Streifzug durch die Aargauer Literatur
«Der Aargau liegt am Meer. Ein Streifzug durch seine Literaturlandschaften». Dass in einem poetischen Sinne stimme, was der nicht ganz originelle Titel des Buches von Fridolin Stähli und Peter Gros verspricht, muss wahrscheinlich bestritten werden. Aber erstaunlich ist schon, welche Fülle an arrivierten Schriftstellern im schweizerischen Aargau zu finden ist, aus den Tälern und den Landschaften des Kantons hervorgewachsen. Noch vor einem halben Jahrhundert war das anders. Als 1952 zur Hundertfünfzigjahrfeier die ehemaligen Schüler der damals noch einzigen, heute «Alte Kantonsschule» genannten Maturitätsschule die Stiftung «Pro Argovia» gründeten und der Jubilarin als Geschenk übergaben, sah der Stiftungsrat es als eine seiner dringenden Aufgaben, die Literatur im Kanton zu fördern. Albin Zollinger hat ja den Ausspruch vom «blauäugigen Kanton» getan, der früher oder später zum dichterischen Wort erwachen werde. Da setzte die «Pro Argovia» an. Man wollte eine Szene schaffen und sie an Tagungen und in Editionen sichtbar machen. Aber man musste noch auf den Schriftsteller R.J. Humm zurückgreifen, der sich zwar zum Aargau bekannte, aber in Zürich wohnte und wirkte und auch als Zürcher galt. Es gab damals schon Erika Burkart, es gab – weniger bekannt – Georg Gisi, und wenn man berechtigte Hoffnungen auf Jüngere setzte, bot sich Hans Boesch an, der vor seinem Wechsel ans Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung der ETH Zürich und seinem Umzug nach Stäfa beim aargauischen Tiefbauamt als Ingenieur arbeitete und durch seine ersten Publikationen eine ursprüngliche Begabung erkennen liess. Er hat seine Romane, die zunächst auf Grossbaustellen spielen, jedoch ins Wesentliche ausgreifen, vor allem in der Bündner Bergwelt geschrieben. Dem Aargau blieb er bis zu seinem Tod verbunden.
Ein halbes Jahrhundert nach diesen Anfängen ist die Liste reicher besetzt. Die «Pro Argovia» – und seit 1969 viel mehr noch das «Kuratorium» gemäss Kulturgesetz – haben viel dazu beigetragen, dass heute eine «Szene» von Schriftstellern und Literaten besteht, die über die Kantonsgrenzen hinaus und überhaupt im deutschsprachigen Raum wahrgenommen wird. Das von vier Partnern gegründete Stapferhaus auf der Lenzburg ist mit seinen intimen Gesprächskreisen und Tagungen wesentlich an der Bewusstseinsbildung und Entwicklung der Literatur beteiligt.
Nun gab es – eine Generation oder zwei vorher – neben der Mundartdichterin Sophie Hämmerli-Marti den Dichter Paul Haller, den Pfarrerssohn aus Rein, der in Kilchberg seine Stelle als reformierter Pfarrer verwaltete, später als Dichter und Mittelschullehrer seine Vollendung fand, bis ihn schwere Depressionen zum Freitod in der Aare führten. Paul Haller hat sowohl in Schriftsprache und in Mundart geschrieben; sein Meisterwerk, «Juramareili», ist vielleicht wegen seiner Mundart und wohl auch wegen der noch fehlenden Literaturszene zu wenig bekannt. Aber es ist eine Dichtung, die ans Herz rührt und auch in künstlerischer Hinsicht höchste Vergleiche herausfordert. Stähli und Gros eröffnen ihre Darstellung völlig zu Recht mit Haller, und dass sie durch Zitate dem Werk selbst Wort und Wirkung lassen, so dass ihr Buch manchmal einer Anthologie nahe kommt, ist besonders in diesem Fall sehr berechtigt. Einen grossen Raum – nicht nur im Kapitel, das seinem Leben und Werk gewidmet ist – nimmt Hermann Burger ein. Auch das ist, so glaube ich, richtig; denn mit ihm, seiner stets unübersehbaren Gegenwart, seinen Freundschaften und seinem literarischen Engagement setzt im Aargau etwas ein, das es vorher nicht gab. Erst mit Burger beginnt ein regionales literarisches Bewusstsein zu erstarken, auszustrahlen über die Kantonsgrenzen hinaus, ja ins gesamte deutschsprachige Gebiet. Erika Burkart, die eine Generation vor Burger schon einen einsamen Rang hatte, wurde auf einmal nicht als Einzelfigur wahrgenommen, sondern als Vorläuferin, die glücklicherweise nicht «Ruferin in der Wüste» blieb, sondern aufgenommen wurde in den Kreis nachkommender Autoren. Burger hat neben seinem dichterischen Schaffen auch als Literaturkritiker und Essayist gewirkt, schrieb zum Beispiel einen «Versuch über den Dichter Paul Haller», ferner «Blauschwarze Liebesbriefe» und Arbeiten über Walser und Hesse ebenso wie über Bücher von Zeitgenossen. Er war Kulturredaktor des «Aargauer Tagblatts» und hat vor allem bei den «Schweizer Monatsheften» und am Magazin des «Tages-Anzeigers» fleissig mitgewirkt.
In der Darstellung von Stähli und Gros wird sichtbar, wie sich die literarische Szene im Aargau in den vergangenen fünfzig Jahren erweitert hat. Man bekommt den Eindruck, die Verfasser dieser Literaturgeschichte der Gegenwart würden der Fülle von Talenten kaum noch Herr. Sie beginnen mit ausladenden Kapiteln, jedes einem Autor wie Paul Haller, Erika Burkart, Hermann Burger, Hansjörg Schneider und Klaus Merz gewidmet, die sie etwas gewagt als «Aargauer Klassik» verstehen, fügen dann allerdings noch Kapitel über Ernst Halter, Silvio Blatter, Silja Walter, Urs Faes und Fritz Senft, auch über Georg Gisi hinzu und fassen in einem einzigen Kapitel, das sie mit «Meerwärts» überschreiben, «Jüngere, Hiergebliebene, Zu- und Ausgewanderte» zusammen. Dass darunter so wichtige Autoren wie Christian Haller oder Margrit Schriber sind, wird mancher Kenner nicht unbedingt als gerecht empfinden.
Aber wir müssen noch einmal auf den Gesamttitel zurückkommen, «Der Aargau liegt am Meer». Lassen wir den merkwürdigen Anklang an das Gedicht Ingeborg Bachmanns über Böhmen, das «am Meer liegt», beiseite. Offenbar wird vorrangig der Wasserreichtum des Kantons, Limmat, Reuss und Aare, die sich mit dem Rhein vereinigen, als tragfähige Begründung der Behauptung betrachtet. Die Literatur sieht jedoch ein wenig anders aus. Vor allem Burgers Werk, dem in der hier vorliegenden Darstellung ja eine alles überragende Bedeutung zukommt, ist eigentlich mehr dem Winter, der Eisesstarre, dem lastenden Nebel zugewandt, nicht dem Meer. Hansjörg Schneiders grossartiger Roman «Das Wasserzeichen», dessen Hauptfigur lieber im Wasser als auf festem Boden lebt, wäre vielleicht eher ein Meersüchtiger. Aber generell wird man sagen dürfen, die Literatur, die im Aargau in den vergangenen fünfzig Jahren entstanden sei, (Hans Boeschs Trilogie durchaus eingeschlossen, denn er ist ein «Ausgewanderter») situiere den Kanton nicht unbedingt an den Gestaden des Ozeans, sondern mitten in der Schweiz.
Fridolin Stähli und Peter Gros, «Der Aargau liegt am Meer. Ein Streifzug durch seine Literaturlandschaften.» Mit Fotografien von Werner Erne. Ammann, Zürich 2003.
Anton Krättli, geboren 1922, promovierte in Germanistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er war von 1965 bis 1993 Kulturredaktor der «Schweizer Monatshefte».