Mitgefühl und/oder Rendite
Ist wirklich ein Widerspruch, was gerne als Widerspruch dargestellt wird?
1. Der Kapitalismus, und hier insbesondere die Finanzwelt, ist in Verruf geraten. Kaum jemand, der in ihnen nicht die Quelle grossen Unheils in der Welt sieht: Sie werden verantwortlich gemacht für den gesellschaftlichen Kollaps ganzer Staaten und für den verzweifelten Selbstmord einzelner Familienväter; sie sollen schuldig sein an Dürrekatastrophen; in ihnen soll eine Unkultur der Gier einen günstigen Nährboden gefunden haben und das Mitgefühl mehr und mehr einem fetischisierten Renditestreben zum Opfer gefallen sein.
In dieser Situation ist es verständlich, dass der Ruf nach einer Disziplinierung der Finanzwelt laut wird. Es ist nachvollziehbar, dass gefordert wird, den Akteuren auf den Finanzmärkten Zügel anzulegen, also dort, wo heute angeblich die Regellosigkeit weitgehend die Regel ist, Ordnung zu schaffen.
Nun kann nicht in Abrede gestellt werden, dass es seit längerem Bemühungen gibt, eine Ordnung für die Finanzmärkte zu schaffen. Nationale Gesetze und internationale Abkommen sollen einen Regelrahmen schaffen, innerhalb dessen die Finanzakteure nur nach Massgabe jener Leistungen verdienen können, die sie für andere erbringen, und innerhalb dessen sie vollumfänglich für jenes Unheil haften müssen, das sie anrichten mögen.
Auch dann, wenn man die Ernsthaftigkeit, mit welcher ein solcher Ordnungsrahmen angestrebt wird, nicht grundsätzlich und immer und überall leugnen will, so bleibt doch der traurige Befund: Der Erfolg dieser Bemühungen ist begrenzt; die Finanzmärkte sind bereits stark reguliert, was jeder Bankkunde am eigenen Leib zu spüren bekommt, und doch treten stets neue Missstände zutage.
2. In dieser Situation ist es verständlich, dass der Ruf nach einer Ethisierung der Finanzwelt laut wird: Wo äussere Gesetze und Regeln nicht hinreichen, sollen innere Imperative für Ordnung sorgen. Wo das äussere Gesetz des Staates versagt, soll – in der Sprache Kants – das «moralische Gesetz in mir» den Umgang der Menschen untereinander auf den Finanzmärkten (und nicht nur dort) regeln.
Unter dem Begriff der Ethik mag nun vieles verstanden werden. Man wird sich aber wohl leicht darauf verständigen können, unter Ethik einen Regelrahmen zu verstehen, der den einzelnen dazu anhält, auch jene Folgen seines Tuns, die andere treffen, so in Rechnung zu setzen, als sei er selbst betroffen. In Anlehnung an das biblische Liebesgebot: die Selbstliebe sei das Richtmass der Nächstenliebe. Die Ethisierung der Finanzwelt soll also sicherstellen, dass sich die Menschen wechselseitig als gleichwertige Wesen und nicht als zu beseitigende Hindernisse bzw. als benutzbare Ressourcen ansehen – in der Sprache Kants: als blosses Mittel zum Zweck. Die Ethik besteht in einer Aufforderung zur Mitmenschlichkeit.
Selbstverständlich: dies hört sich nicht nur nobel an, sondern scheint auch weit entfernt von den Zwängen und Niederungen der Finanzwelt zu sein. Es drängt sich also die Frage auf, ob und wie sehr in der Wirtschaft im allgemeinen, in der Finanzwelt im besonderen ein Platz für Mitmenschlichkeit, also für die Ethik ist.
Zwei Versuchungen befallen jenen, der sich dieser Frage stellt: Einerseits mag er – düster-pessimistisch – schon allein diese Fragestellung als Ausdruck einer schwärmerisch-naiven Geisteshaltung abwehren; andererseits mag er aber auch in frisch-fröhlichem Optimismus die Frage als lösbar, ja eigentlich als gelöst ansehen. Den düsteren Katastrophenpropheten stehen die frisch-fröhlichen Kapitalisten gegenüber.
Beiden Versuchungen ist zu widerstehen; vielmehr sind aus meiner Sicht realistisch zwei Fragen zu stellen: Ist der Mensch – und wenn ja, unter welchen Bedingungen – fähig und willens, am Leid und am Wohl anderer Menschen zu partizipieren, also
Mitgefühl zu haben? Und sind diese Bedingungen in der Wirtschaft und hier insbesondere in der Finanzwelt gegeben? Anders ausgedrückt: kann und will selbst der zur Empathie fähige und bereite Mensch als Akteur in der Wirtschafts- und Finanzwelt mitfühlend sein? Kann er es, so stehen die Chancen für eine Ethisierung dieser Welt gut; kann er es aber nicht, so ist Skepsis angebracht.
3. Zur ersten Frage: die eigene Erfahrung eines jeden bestätigt die These, die Adam Smith, der Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre, an den Ausgang seiner «Theory of Moral Sentiments» gestellt hat: Ja, der Mensch ist empathiefähig. Wohl spürt er nicht den Schmerz, wenn er sieht, wie jemand sich mit dem Hammer auf die Finger haut, doch zuckt er gemeinhin zusammen und schaut weg. Auch ist er fähig, selbst dann am Glück jenes Mitmenschen teilzuhaben, der einen Wettbewerb gewonnen hat, wenn ihm selbst von dem Gewinn nichts zufliesst.
Der Mensch ist also ein empathiefähiges Wesen; und nicht nur dies: Mit Adam Smith mag man auch annehmen, dass im gegenseitigen Umgang gemeinhin ein jeder bemüht ist, gegenüber anderen sein Glück bzw. Unglück nur so weit zu zeigen, wie diese bereit und fähig sind, an seinem Glück bzw. an seinem Unglück teilzuhaben: Wer gross im Lotto gewonnen hat, wird klugerweise in seinem Fitnessstudio gegenüber weitgehend Unbekannten keine allzu lauten Jubelschreie ausstossen, und wer feststellt, dass ihn seine Frau betrogen hat, wird vielleicht bei engen Freunden, aber kaum bei fernen Bekannten weinen.
Man kann also voller Optimismus sagen: Ja, der Mensch ist empathiefähig. Hier ist indes der Ort, auf eine für unser Thema entscheidende Einschränkung hinzuweisen: Die Reichweite der Empathie ist beschränkt, will sagen: Der Mensch ist nur bedingt empathiefähig.
Realistischerweise ist von der Liebe zum Nächsten, nicht aber von der Liebe zu allen Entfernten die Rede. Anders ausgedrückt: Wenn der Mensch von anderen auf sich und von sich auf andere schliessen soll, so dürfen diese anderen – erstens – nicht zu weit entfernt und – zweitens – nicht zu zahlreich sein. Ist nämlich die räumliche, zeitliche, soziale, psychologische Distanz zu den anderen Menschen zu gross, so gelingt es dem einzelnen durchwegs nicht, diese Distanz mitfühlend zu überbrücken und im anderen den Nächsten zu sehen. Und sind die Menschen zu zahlreich, so ist es dem einzelnen kaum möglich, sich in alle so weit hineinzufühlen, dass er an ihrer Freude bzw. an ihrem Leid teilhaben kann: Man kann mit einem Freund trauern; die Trauerbekundungen eines ganzen Volkes aber sind gemeinhin ein eher unterhaltsames Spektakel. So ist es denn auch bezeichnend, dass Spendenaufrufe zugunsten von Tausenden von Erdbebenopfern unser Mitgefühl dadurch zu wecken versuchen, dass sie das Schicksal einzelner Opfer hervorstreichen.
4. Ein weiteres kommt hinzu: Auf die Dauer bleiben «Moral Sentiments» nur lebendig, wenn jener, dem dieses Mitgefühl entgegengebracht wird, dies – für den Mitfühlenden sichtbar – erkennt und anerkennt. Es ist nötig, dass der Mitfühlende erlebt, dass seine Empathie als solche wahrgenommen und geschätzt wird. Nicht als ob diese Anerkennung in einer gleichwertigen Gegenleistung bestehen müsste; wichtig ist nur, dass die Intention des Mitfühlenden als hilfreich, wohltuend, nützlich erkannt und anerkannt wird. Konkret: wer aus Mitgefühl mit jemandem trauert, möchte, dass seine Zuwendung angenommen und geschätzt wird. Und wer für die Opfer einer Umweltkatastrophe eine bestimmte Summe spendet, erwartet, dass diese Spende nicht nur als Hilfe ankommt, sondern auch für ihn erlebbar als solche wahrgenommen wird.
So weiss wohl jeder aus eigener Erfahrung, wie enttäuschend es ist, wenn sein Mitgefühl ins Leere läuft. Aus eigenem Erleben wissen wohl auch viele, dass ein Mitgefühl, das nicht in dieser oder jener Form erkannt und anerkannt, das nicht so oder anders honoriert wird, nicht einfach nur erlischt, sondern gleichsam «versauert»: An die Stelle von Wohlwollen und Mitleiden treten Ressentiment und Animosität; so wird der Bettler, der die Münze als zu klein zurückweist, nicht mehr als jemand angesehen, dem man Wohlwollen entgegenbringt und Hilfe geben will; vielmehr wird er in den Augen des Schenkenden zu einem unverschämten Zeitgenossen, den man im günstigen Fall ignoriert, vielleicht aber – wenigstens unterschwellig – hasst. Und jener, der unsere Mitfreude an seinem Börsenerfolg nicht als den Ausdruck echten Mitgefühls wahrnehmen will oder kann, wird vermutlich demnächst nicht auf unser Mitgefühl vertrauen können; viel eher muss er demnächst damit rechnen, dass wir seine zukünftigen Gewinne beneiden und seine Verluste bejubeln werden.
Festzuhalten ist also vorerst: Der Mensch ist nicht – wie Thomas Hobbes behauptet hat – ein durchgehend wölfisch-bösartiges Wesen. Vielmehr ist er zum Mitgefühl und zum freundlichen Umgang fähig. Diese seine Fähigkeit wird aber nur dann zum Einsatz kommen, wenn er und seine (nicht sehr zahlreichen) Mitmenschen sich hinreichend nahe sind; nur dann wird der eine an der Freude bzw. am Leid des anderen teilhaben; nur dann auch wird der Mitfühlende erwarten können, dass seine Empathie nicht ins Leere geht.
5. Damit drängt sich unabweisbar die Frage auf, wie es hier und heute um jene zwischenmenschliche Nähe bestellt ist, ohne die «ethische Gefühle» kaum aufkommen und – wenn denn doch – ins Leere laufen.
Obschon man der Versuchung widerstehen muss, in die nur zu häufigen Klagen über den Verfall aller Menschlichkeit und Zwischenmenschlichkeit in unseren Gesellschaften einzustimmen, kann doch nicht übersehen werden: Zwar nicht allgemein, aber weitgehend sind unsere Gesellschaften arbeitsteilige Gross- und Wirtschaftsgesellschaften, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie gab. Dies bedeutet, dass die Menschen sich selbst und andere über weite Strecken als vermarktbare Ressourcen erleben und sich wechselseitig als Konkurrenten in einem Kampf wahrnehmen, in dem die Rendite über Erfolg und Misserfolg, gar über Leben und Überleben entscheidet.
In dem Masse, wie dies der Fall ist, ist kaum damit zu rechnen, dass sie sich wechselseitig als Menschen, an deren Wohl und Wehe sie teilnehmen wollen, wahrnehmen. Mehr noch: in einer merkantilen Wettbewerbsgesellschaft, in welcher die Rendite nicht ein, sondern im Zweifel der Massstab ist, wird es sich der einzelne auch dann, wenn er es wollte, kaum leisten können, Mitgefühl mit anderen zu haben. Es kommt hinzu, dass in einer mobilen Gesellschaft der einzelne wohl viele, ja sehr viele Kontakte haben mag; doch sind viele dieser Kontakte flüchtig und oberflächlich, erlauben also nicht jene Nähe, die ein zwischenmenschliches Mitgefühl erfordert.
6. Man mag an dieser Stelle mit gutem Grund darauf hinweisen, dass das Bild so düster nicht ist, dass es auch hier und heute gesellschaftliche Räume gibt, wo sich Menschen so nahe kommen können, dass sie untereinander mitfühlend Anteil am Leid und am Wohl nehmen können und wollen: Es gibt Freundschaften, Familienbande, Kleingärtnerkolonien, Nachbarschaftsclubs, Sportvereine. Allerdings: so erfreulich dies auch sein mag, so kann doch kaum geleugnet werden, dass wir es hier mit sozialen Nischen zu tun haben, die das Gesamtbild zwar aufhellen, aber kaum bestimmen. Auch laufen diese bürgergesellschaftlichen Assoziationen immer wieder Gefahr, das Opfer der sie umgebenden, einzig auf Rendite programmierten Wirtschaft zu werden: Entweder fehlen ihnen die zur Weiterexistenz nötigen Mittel oder aber sie werden selbst zu Akteuren der Wirtschaftsgesellschaft.
Dieses an sich schon trübe Bild hellt sich nicht auf, wenn man die Finanzwelt, also den Umgang mit monetären Werten, schlicht: mit Geld, in den Rahmen einfügt. Aus folgendem Grund: weil das Geld selbst für so ziemlich alles stehen kann, bedeutet es an sich nichts: non olet. Und weil das Geld selbst nichts bedeutet, treten die Menschen, die Geld nachfragen bzw. die Geld anbieten, als Akteure nur so weit in Erscheinung, wie sie Geld anzubieten haben bzw. wie sie Geld nachfragen. Als Menschen sind sie tendenziell uninteressant, ja eigentlich inexistent; der elektronische Handel, der in Sekundenbruchteilen ohne menschliches Zutun Milliarden um den Erdball jagt, macht nur besonders sichtbar, was immer schon ein konstitutives Merkmal der Geldgesellschaft war.
7. Unsere bisherigen Überlegungen scheinen demnach den Schluss nahezulegen, dass das Prinzip Rendite obsiegt und damit in der Wirtschafts- und Finanzwelt wenig, wenn überhaupt Raum für das Mitgefühl und damit für die Ethik bleibt. Zu fragen ist, ob dies die ganze Wahrheit ist. Die Antwort lautet: nein. Aus folgendem Grund: wir haben bislang stillschweigend unterstellt, dass die wettbewerblich organisierte Wirtschaftsgesellschaft perfekt, richtiger: wie im Lehrbuch beschrieben, funktioniert. Dies aber ist durchwegs nicht der Fall. Die Folge ist, dass der zwischenmenschliche Umgang nicht ausschliesslich auf die Maximierung von Renditen ausgerichtet sein muss. Man wird dann zwar bedauern können, dass möglicherweise einiges an wirtschaftlicher Effizienz verlorengeht; man wird aber begrüssen müssen, dass auf diese Weise für die Menschen Freiräume offen sind, in denen sie Mitgefühl füreinander entwickeln können. Auf diese Weise mag dann einiges an wirtschaftlicher Effizienz verlorengehen; dafür aber wird wenigstens die Möglichkeit für ein gewisses Mass an zwischenmenschlichem Mitgefühl gewonnen. So mag ein Unternehmer, der einem eher moderaten Wettbewerb ausgesetzt ist, eher als Mensch seinen Mitarbeitern als Menschen begegnen und Mitgefühl haben als ein Unternehmer, für den die Renditemaximierung eine Überlebensnotwendigkeit ist. Die Lehrbuchweisheit der Ökonomie wird in diesem Fall zwar möglicherweise einen Verlust an Effizienz beklagen; man wird aber im Zweifel wenigstens fragen können, ob dieser Verlust nicht durch den so ermöglichten Gewinn an Mitmenschlichkeit aufgewogen wird. Allerdings bleibt auch jetzt zu bedenken, dass ein begrenzter Wettbewerb wohl die Möglichkeit zum Mitgefühl bietet, aber auch die Gefahr des Missbrauchs mit sich bringt. So mag der dem Wettbewerb nur begrenzt ausgesetzte Firmenchef gegenüber seinen Angestellten mitfühlend und human sein, weil er die Möglichkeit hat, von seinen Kunden überhöhte Preise zu verlangen.
8. Bislang sind wir davon ausgegangen, dass das Renditestreben und das Mitgefühl einander widerstreben. Die Frage stellt sich, ob dies so sein muss. Die Antwort ist ermutigend: Wie Fairtrade exemplarisch zeigt, können wirtschaftlicher Erfolg und ethisches Engagement durchaus vereinbar sein – sofern der Konsument bereit ist, dieses Engagement durch einen höheren Preis zu honorieren. Ja es ist denkbar, dass gerade die Selbstverpflichtung auf ethische Werte als Werbeargument und damit als Instrument im Dienste der Rendite dient. Selbst dort, wo man es am wenigsten erwarten möchte, nämlich in der Finanzwelt, gibt es Vermögensberatungsfirmen, welche die Ausrichtung an ethischen Werten in ihr Geschäftsmodell aufgenommen haben.
Zum einen zeigen diese Beispiele, dass auch in einer modernen Wettbewerbswirtschaft Nischen gefunden werden können, in denen nicht nur das Renditestreben Geltung hat; zum andern bieten sie Verbrauchern, denen etwa die Produktionsbedingungen von T-Shirts oder die Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Kaffeebauern nicht gleichgültig sind, die Möglichkeit, ihrem eigenen Engagement gerecht zu werden, also nicht das ökonomisch Günstigste, dafür aber ein gutes Gewissen zu erwerben. Sie tun dies, indem sie nicht nur auf die Qualität der Produkte und den günstigen Preis hinweisen; sie tun dies auch, indem sie immer wieder zeigen, wie sehr die Näherinnen in Bangladesch und die Kaffeebauern in Costa Rica auf die Solidarität und auf das Geld der hiesigen Konsumenten angewiesen sind.
9. Rückblickend: das «oder» im Titel kann gestrichen werden; das «und» kann stehen bleiben – allerdings als Aufgabe, nicht aber als Feststellung.