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Mit Würfel und Ölkännchen

Der Künstler Bernard Tagwerker

Mit Würfel und Ölkännchen

…dem der traditionelle menschliche Akt des Herstellens hinfällig / siebziger Jahre gesehen, was eine intensive / Auflage je unterschiedliche Strukturen: numeriert I–XLIX; 50–72 / Tagwerker noch manuell ausgeführte Serie der / Unordnung verknüpfte Chaosvorstellung findet sich… Zeigt man mit dem Zeigefinger der einen Hand, während man die Augen geschlossen hält, fünfmal hintereinander willkürlich auf irgendeiner Seite irgendwohin, während man mit der anderen Hand den Katalog «Bernard Tagwerker. 1969 bis 1995» wie ein Daumenkino durchblättert, dann kann sich eine Folge von Wörtern wie diese ergeben. Nach Unsinn klingt es, doch was passiert, wenn auf diese Weise eine Million oder eine Milliarde Mal der Zufall spielen darf? Ergibt der Unsinn irgendwann Sinn? Ergibt sich irgendwann eine Folge grammatikalisch korrekter und inhaltlich sinnvoller Sätze über die Bilder und Plastiken des Künstlers Bernard Tagwerker?

Während dies wegen mangelnder Geduld und im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit nur vermutet werden kann, so hat der Künstler für seine Werke selbst schon längst den Beweis erbracht: aus Punkten, Kurven, Krakeln, Streifen wird Kunst, lässt er dem Zufall nur freie Hand.

So wählte Bernard Tagwerker etwa aus 216 Farbtöpfen fünfmal hintereinander willkürlich einen aus und übertrug von jeder dieser Lackfarben je einen dicken Streifen auf das Sieb einer Siebdruckmaschine. Achtmal liess er die Maschine laufen, wobei die Farben jedesmal mit einer Art Spachtel verstrichen und durch das Sieb auf das Papier gedrückt wurden. Das erste mit diesem Verfahren hergestellte Bild bestand aus fünf beinahe regelmässig nebeneinander liegenden Streifen, beim letzten der acht Bilder waren die Streifen ineinander verlaufen, ähnlich wie das Blau und Rot des Himmels beim Sonnenuntergang.

Diesen Vorgang – zufällige Auswahl von fünf Farbtöpfen, zufällige Durchmischung auf der Siebdruckmaschine – wiederholte der Künstler 42mal: so entstand ein Stapel von insgesamt 344 Arbeiten. In Reihen neben- und übereinander aufgehängt – wieder war ein Zufallsverfahren am Werk, das Bildauswahl, Reihenfolge und Abstand der Hängung bestimmte – ergibt dies ein verhalten schimmerndes Farbspiel. Was Bernard Tagwerker freut: «Es braucht keine Entscheidung nach ästhetischen Gesichtspunkten, damit etwas ästhetisch wirkt. Das Ästhetische kommt von allein, darum muss man sich nicht kümmern.» Womit sich sogleich die Frage aufdrängt: Braucht es vielleicht gar keine durch die Vernunft geleitete Entscheidung, damit das Ergebnis vernünftig, und keine moralischen Überlegungen, damit eine Handlung moralisch wird?

Die Ästhetik von Tagwerkers Gesamtwerk könnte zu diesem Analogieschluss verleiten. Vielleicht ist ja vieles, wenn nicht alles, von dem wir glauben, wir hätten es in der Hand, schliesslich doch das Werk des Zufalls? Und Zufall und nicht Planung das, was die Welt am Laufen hält?

Sodass auch die ausschlaggebenden Momente in unserem Leben unberührt von unserem Willen geschehen? Das könnte deprimieren. Oder auch optimistisch stimmen: der Zufall kann, methodisch angewendet, uns von unseren Stereotypen und den engen Vorgaben der zweckrationalen Vernunft befreien.

Um vielleicht auch dies zu zeigen, hat Bernard Tagwerker eine List angewendet: er hat den Zufall, der auch in der Kunst eher verborgen im Hintergrund wirkt, in das Scheinwerferlicht der Bühne gestellt und zum Hauptdarsteller erklärt. Und damit jedem seinen Irrtum vor Augen geführt, der bisher glaubte, für die Kunst brauche es zwingend einschlägige Ausbildung und Erfahrung, eine ausgereifte Technik, bei jedem Pinselstrich eine ästhetische Entscheidung, ein ständiges Abwägen, ständige Kontrolle.

Mitten im Atelier steht ein etwa billardtischgrosser Plotter, ein massiges Gerät mit einem computergesteuerten kranähnlichen Aufsatz, der sich zeichnend über das horizontal eingespannte Papier bewegen kann. Diesen Plotter füttert Bernard Tagwerker mit Zufallsprogrammen, die im einfachsten Fall Punkte bestimmen, im komplexeren Kurven, sogenannte Bezier-Splines. Alle Zahlen, mit denen die Leerstellen der Formeln gefüllt werden, lässt der Künstler durch den Zufall bestimmen. Und, «selbstverständlich», auch die Anzahl der Kurven, die der Plotter zeichnen soll (kaum mehr nötig zu erwähnen, dass es zufallsbestimmte Stellen des eingespannten Papiers sind, an denen jede neue Kurve beginnt). Dann befestigt er noch einen Stift am Kranarm und schaltet den Plotter ein. Alles weitere geschieht von selbst. Nur hin und wieder ölen muss Bernard Tagwerker noch seine Maschine, die – manchmal erst nach Tagen – dann von selbst irgendwann stehen bleibt. Fertig ist das Bild.

«Ausschuss gibt es für mich nicht.» Bernard Tagwerker akzeptiert jedes Produkt, das ihm der Zufall liefert und kümmert sich nicht um Fragen nach Urheberschaft, Inspiration, Kreativität, Originalität oder dem subjektiven Ausdruck und was alles sonst noch im Kunstdiskurs wichtig sein mag. Ihm genügt es, die Randbedingungen festzulegen. Die Strichbreite der eingespannten Stifte etwa, oder ihre Farbe. Das Material der Zeichenunterlage. Die Berechnungsformel für die Kurven. «Alles was darüber hinaus noch entschieden werden kann, führt nur zu Überforderung.»

Doch ein entscheidender Umstand darf nicht übersehen werden: die Bühne, auf die Bernard Tagwerker den Zufall holt, ist eine computergesteuerte Maschine. Auf diese Weise erhält seine Kunst ein zeitdiagnostisches Moment: der allgegenwärtigen Technisierung und Digitalisierung sind wir weitgehend ausgeliefert. Sich mit dem Ölkännchen neben die Maschinen zu stellen und sie mit Zufallszahlen zu füttern, ist ein Ausweg, um sich teilweise, aber eben auch nur teilweise, ihren Zwängen zu entziehen.

Sollten Sie übrigens einige der oben erwähnten Siebdruck-Blätter erwerben wollen, dann nehmen Sie bitte einen Würfel mit. Er entscheidet, welche der vielen Bilder Bernard Tagwerker Ihnen überlässt. Er wird, wenn Sie den Würfel werfen, dabeistehen und wissen: «Die Auswahl wird schön.»

Bernard Tagwerker wurde 1942 in Appenzell-Ausserrhoden geboren. Nach einer Lehre als Textilentwerfer in St. Gallen, lebt er in Paris und St. Gallen und arbeitet als Zeichner, Stoffverkäufer und Schaufensterdekorateur. 1976 übersiedelt er nach New York, in den Wintermonaten enstehen seine ersten Arbeiten nach dem Zufallsprinzip, in den Sommermonaten verdient er sein Geld als Fremdenführer. 1984 erwirbt er seinen ersten Computer und besucht Programmierkurse. 1986 kehrt er nach St. Gallen zurück und kauft einen Flachbettplotter, der sich noch heute in seinem Atelier befindet. Immer auf der Suche nach neuer Technik, arbeitet er seit 2008 mit dem Rapid-Prototyping-Verfahren, bei dem aus CAD-Daten schichtweise dreidimensionale Werkstücke hergestellt werden.

Das Objekt auf S. 9 wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut Rapid Product Development RPD der FHS St. Gallen (neu: Institut

irpd der ETHZ/Inspire) hergestellt; © aller Bilder: ProLitteris, Zürich.

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