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Mit Technologie gegen den Wettbewerb
James Bessen, zvg.

Mit Technologie gegen den Wettbewerb

Die Digitalisierung versprach einst eine Disruption der Wirtschaft. Heute jedoch bremsen Grosskonzerne mit ihrer proprietären Software Wachstum und Produktivität.

Read the English version here.

Vor drei Jahrzehnten verkündeten Wirtschaftsmagazine, dass preiswerte Personal Computer und Software eine «neue Wirtschaft» schaffen würden. Kleine Start-ups konnten sich den Zugang zu fortschrittlicher Technologie leisten und so mit den grossen Konzernen konkurrieren. Sie konnten innovativ sein, wachsen und eta­blierte Unternehmen verdrängen.

Es waren hoffnungsvolle Zeiten für Start-ups. Ich weiss das aus eigener Erfahrung. In den 1980er-Jahren gründete ich eines der ersten Desktop-Publishing-Unternehmen. Wir stellten Werkzeuge zur Verfügung, mit denen aufstrebende Firmen in den Verlagsmarkt einsteigen konnten. Hunderte von neuen Zeitschriften und Zeitungen nutzten diese Möglichkeit.

Aber die Zeit der überschwenglichen Hoffnungen war nicht von Dauer. Mein Unternehmen wurde aufgekauft, und der Verlagsmarkt wurde bald von der Konkurrenz aus dem Internet heimgesucht. Generell sahen sich Start-ups in allen Branchen bald mit starkem Gegenwind konfrontiert. Heute sind die Wachstumshürden für Jungunternehmen deutlich höher geworden. Zwar schiessen Start-ups nach wie vor aus dem Boden, nutzen innovative Möglichkeiten und können auf eine Flut von Risikokapital zurückgreifen. Sie wachsen aber viel langsamer als vergleichbare Firmen in der Vergangenheit.

Überraschenderweise ist einer der Hauptgründe dafür die Technologie. Genauer gesagt die proprietäre, also herstellerspezifische und geschützte Informationstechnologie grosser Unternehmen, die ihre Branchen dominieren. Anders als erwartet wirken sich neue Technologien nicht disruptiv aus, sondern sie behindern die Fluktuation innerhalb von Industrien. Sie ist in den letzten zwei Jahrzehnten stark zurückgegangen, was weitreichende negative Auswirkungen auf die Wirtschaft hat, unter anderem eine schwächere Innovationsdynamik. Forscher haben gezeigt, dass das langsamere Wachstum innovativer Unternehmen zu einem generell langsameren Wachstum der Produktivität geführt hat. Ein langsameres Produktivitätswachstum hat zur Folge, dass die Einkommen weniger steigen.

Wachsende Marktkonzentration

In einer Vielzahl von Branchen setzen marktbeherrschende Unternehmen Informationstechnologie ein, um ihre Konkurrenten, einschliesslich innovativer Start-ups, zu überflügeln. Sie nutzen grosse, firmeneigene Softwaresysteme, um Komplexität besser zu bewältigen und sich so von den konkurrierenden Unternehmen abzuheben. Auf diese Weise konnten sie ihre Marktdominanz ausbauen und verhindern, dass sie von der Konkurrenz überholt werden. Diese Systeme bringen zwar Vorteile für die Konsumenten und die Gesellschaft, untergraben jedoch gleichzeitig einen entscheidenden Wachstumstreiber: die Expansion innovativer Start-ups.

Der US-amerikanische Detailhändler Walmart kann dank seiner Bestandsmanagement- und Logistiksoftware die Filialen mit einer weitaus grösseren Auswahl an Produkten zu geringeren Kosten bestücken, jeden Laden auf die lokalen Bedürfnisse zuschneiden und schnell auf Nachfrageänderungen und neue Produkte reagieren. Konzerne wie Boeing und Toyota sind dank komplexer Software in der Lage, Produkte mit viel mehr Funktionen anzubieten. Führende Finanzfirmen nutzen grosse Datensysteme, um Kreditkarten und Hypothekardarlehen in grossem Massstab auf einzelne Konsumenten zuzuschneiden und diese Produkte dann gezielt zu vermarkten. Insgesamt belaufen sich die Investitionen der Unternehmen in ihre interne Software (ohne Firmen, deren Produkt Software ist) inzwischen auf über 240 Milliarden Dollar pro Jahr. 1985 lagen sie noch bei 19 Milliarden Dollar. Verantwortlich für den Zuwachs sind vor allem grosse Firmen. Die vier grössten Unternehmen jeder Branche (gemessen am Umsatz) haben ihre Investitionen in selbst entwickelte Software seit 2000 um das Achtfache erhöht, weit mehr als die Firmen der zweiten Reihe.

Diese Investitionen der führenden Unternehmen haben sich gelohnt. Seit den 1980er-Jahren haben in den meisten Branchen die vier grössten Firmen ihre Markt­anteile um 4 bis 5 Prozentpunkte erhöht. Meine Untersuchungen zeigen, dass Investitionen in proprietäre Software für den grössten Teil dieses Anstiegs verantwortlich sind.

Diese Marktdominanz geht mit einem Rückgang des Risikos für diese Unternehmen einher, verdrängt zu werden. Seit etwa 2000 – als die grossen Firmen ihre Investitionsoffensive in proprietäre Systeme begannen – ist das Risiko der Disruption stark gesunken. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unternehmen innerhalb von vier Jahren aus den Top 4 in seiner Branche herausfällt, hat sich von über 20 Prozent auf etwa 10 Prozent halbiert. Auch hier sind die Investitionen in proprietäre Software hauptverantwortlich.

Massgeschneiderte Angebote

Was steht hinter dieser Entwicklung und warum betrifft sie so viele Bereiche der Wirtschaft? Die Antwort lautet, dass diese IT-Systeme ein grosses Manko des modernen Kapitalismus beheben. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten innovative Unternehmen, dass sie durch die Produktion in grossem Massstab oft massive Kosteneinsparungen erzielen konnten. Dies führte zu einer drastischen Senkung der Preise, brachte jedoch eine wesentliche Einschränkung mit sich: Für die Produktion grosser Mengen mussten Produkte und Dienstleistungen standardisiert werden. Exemplarisch dafür ist der Ausspruch Henry Fords, seine Kunden könnten «jede Farbe haben, solange sie schwarz ist». Detailhandelsketten erzielten Effizienzvorteile, indem sie in ihren Tausenden von Geschäften eine begrenzte Anzahl von Produkten anboten. Finanzfirmen boten Standardhypotheken und -kredite an. Die Produkte hatten nur eine begrenzte Anzahl von Funktionen; die Geschäfte hatten nur eine begrenzte Auswahl und konnten nur langsam auf eine veränderte Nachfrage reagieren.

Software überwindet diese Einschränkungen teilweise. Sie reduziert die Kosten für die Verwaltung der Komplexität. Mit den richtigen Daten und der richtigen Unternehmensorganisation ermöglicht Software den Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen auf individuelle Bedürfnisse zuzuschneiden, eine grössere Vielfalt oder mehr Produktmerkmale anzubieten. Dadurch können sie ihre Konkurrenten verdrängen und Märkte dominieren. Walmart-Filialen bieten eine viel grössere Auswahl als Sears- oder ­K-Mart-Filialen, und sie reagieren schneller auf sich ändernde Kundenbedürfnisse. Deshalb ist Wal­mart zum König des Detailhandels in den USA aufgestiegen, während Sears Insolvenz anmelden musste. Toyota reagiert schnell und produziert neue Modelle, wenn es neue Konsumententrends erkennt; kleineren Autofirmen fehlen die Mittel dazu. Die vier grössten Kreditkartenunternehmen verfügen über die Daten und die Systeme, mit denen sie ihre Kartenangebote gezielt an einzelne Konsumenten richten und so ihre Marktanteile weiter ausbauen können.

Die softwaregestützten Plattformen ermöglichten es den grossen Unternehmen, ihre Vorherrschaft auf den Märkten zu festigen. Sie bremsten auch das Wachstum von Konkurrenten, einschliesslich innovativer Start-ups.

Start-ups kommen kaum vom Fleck

Betrachtet man die durch Risikokapital finanzierten Start-ups, so hat sich die Zeit, die bis zum Erhalt einer Finanzierung vergeht, erheblich verlängert. Die durchschnittliche Zeitspanne von der Gründung eines Start-ups bis zum Erhalt einer Seed-Finanzierung stieg von 0,9 Jahren im Jahr 2006 auf 2,5 Jahre im Jahr 2020. Bei Unternehmen, die übernommen wurden, verdreifachte sich die durchschnittliche Zeitspanne zwischen der ersten Finanzierung und der Übernahme von etwas mehr als zwei Jahren im Jahr 2000 auf 6,3 Jahre im Jahr 2018. Bei Firmen, die an die Börse gingen, stiegen die vergleichbaren Zeiten in ähnlicher Weise.

Der deutlichste Hinweis auf eine Verlangsamung ist jedoch, wie schnell Unternehmen wachsen, wenn sie produktiver werden. Das Hauptmerkmal dynamischer Volkswirtschaften, das der Nationalökonom Joseph Schumpeter als «schöpferische Zerstörung» bezeichnete, besteht darin, dass produktivere Unternehmen schneller wachsen als weniger produktive und schliesslich die weniger produktiven Branchenführer verdrängen. Doch seit dem Jahr 2000 wachsen Unternehmen mit einer bestimmten Produktivität im Durchschnitt nur noch halb so schnell wie in den 1980er- und 1990er-Jahren. Wenn produktive Firmen langsamer wachsen, ist es weniger wahrscheinlich, dass sie die Branchenführer überholen und verdrängen. Vergangenes Jahr haben mein Kollege Erich Denk und ich in einer Studie einen direkten Zusammenhang zwischen dieser Verlangsamung und der erhöhten Dominanz grosser Unternehmen in einer Branche sowie deren Investitionen in Software und andere immaterielle Güter hergestellt.

Ein Problem für die Gesellschaft

Die Verlangsamung des Wachstums innovativer Neugründungen ist nicht nur ein Problem für ein paar tausend Unternehmen im Technologiesektor. Sie betrifft alle wichtigen Wirtschaftszweige und wirkt sich auf die Gesundheit der gesamten Wirtschaft aus. Forscher des U.S. Census Bureau haben gezeigt, dass das langsamere Wachstum produktiver Unternehmen bis zu einem Drittel der Verlangsamung des Wachstums der Gesamtproduktivität ausmacht.

Eine Volkswirtschaft kann auf zwei Arten produktiver werden: Zum einen können einzelne Unternehmen mehr Output pro Arbeitnehmer erzielen, zum anderen können produktivere Firmen schneller wachsen, wodurch der Durchschnitt aller Firmen steigt. Die Forscher fanden heraus, dass die Unternehmen ihre eigene Produktivität immer noch etwa im gleichen Masse steigern wie in der Vergangenheit; die Verlangsamung ist im wesentlichen auf ein langsameres Wachstum der produktiven Firmen zurückzuführen. Auffallend ist, dass neu gegründete Unternehmen im Durchschnitt weniger schnell wachsen und weniger von ihnen sehr schnell wachsen. Der Gegenwind, der innovativen Start-ups entgegenbläst, führt zu erheblichen wirtschaftlichen Problemen. Er trägt überdies zur zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheit, den vertieften gesellschaftlichen Gräben und der abnehmenden Effektivität der Staatstätigkeit bei.

Technologie breiter streuen

Wie kann dieses Problem gelöst werden? Eine strengere kartellrechtliche Kontrolle von Fusionen und Übernahmen könnte helfen, aber die Veränderungen in der wirtschaftlichen Dynamik sind eher auf den technologischen Wandel zurückzuführen. Ein grundlegenderes Problem ist, dass die wichtigen neuen Technologien urheberrechtlich geschützt sind; sie sind nur einer kleinen Anzahl von Grossunternehmen zugänglich. In der Vergangenheit haben neue Technologien breite Anwendung gefunden; sie wurden in grossem Umfang lizenziert, oder Unternehmen entwickelten unabhängig voneinander Alternativen, die mehr Wettbewerb und Innovation ermöglichten. Manchmal unterstützte der Staat diesen Prozess. Bell Labs entwickelte den Transistor, wurde aber von den Kartellbehörden gezwungen, die Technologie auf breiter Basis zu lizenzieren, wodurch die Halbleiterindustrie entstand. IBM schuf die moderne Softwareindustrie, als es unter dem Druck der Kartellbehörden die Computersoftware von der Hardware trennte und separat verkaufte.

Heute erleben wir einige ähnliche, aber freiwillige Öffnungen von Technologien. Amazon hat mit Amazon Web Services (AWS) seine firmeneigene IT-Infrastruktur geöffnet und damit die Cloud-Industrie geschaffen, was die Aussichten kleiner Start-ups verbessert hat. Das Wettbewerbsrecht kann eingesetzt werden, um grosse Unternehmen zu ermutigen oder zu zwingen, ihre proprietären Plattformen für andere zu öffnen. Die richtige Politik erfordert jedoch eine sorgfältige Abwägung. Wir wollen die Innovationsanreize nicht untergraben; wir wollen die Unternehmen nicht davon abhalten, Technologien überhaupt zu entwickeln. Generell muss die Politik ein Gleichgewicht finden zwischen der Belohnung von Unternehmen, welche die Technologie vorantreiben, und der Verbreitung dieser Technologie, damit sie nicht nur einigen wenigen zugutekommt. Die Fakten deuten jedoch stark darauf hin, dass die derzeitige Politik nicht ausgewogen ist. In den Industrieländern hat sich die Verbreitung der Technologie verlangsamt, was sich in einer wachsenden Kluft zwischen der Produktivität der grössten Konzerne und dem Rest zeigt. Überdies haben Unternehmen mit der Öffnung ihrer Technologien immense Gewinne erzielt, sowohl wenn sie dies freiwillig taten wie Amazon mit AWS als auch wenn sie wie IBM von Kartellbehörden unter Druck gesetzt wurden. IBM hatte die Möglichkeit einer Entflechtung zwar geprüft, handelte aber erst in Reaktion auf den Druck der Kartellbehörden. Am Ende erwies sich der Schritt als enorm profitabel.

Es wird schwierig sein, die richtige Politik zu finden, es wird langwierige politische Verhandlungen brauchen. Doch politische Änderungen sind unumgänglich angesichts der Tatsache, dass Technologie in der heutigen Wirtschaft eine andere Rolle spielt und zur Unterdrückung von Wettbewerb eingesetzt wird.

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