Mit Statistik gegen Kartelle
Wettbewerbshüter sind nicht länger nur auf die traditionellen Informationsquellen – Anzeigen, Selbstanzeigen oder Whistleblower – angewiesen, wenn es um das Aufdecken von Preisabsprachen und Kartellen geht. Big Data dürfte den neuen statistischen Werkzeugen weiteren Auftrieb geben.
Abreden von Unternehmen darüber, wer welche Beschaffung zu welchem Preis gewinnen soll, sogenannte Submissionsabreden, sind ein weltweites Problem: Ein Bericht der OECD zeigt, dass sich ein bedeutender Teil der Aktivitäten von Wettbewerbsbehörden auf Submissionsabreden fokussiert.1 In der Schweiz hat die Wettbewerbskommission (WEKO) seit 2014 fast jedes Jahr mindestens einen Entscheid zu Submissionsabreden zwischen Unternehmen erlassen. 2017 waren es sogar sieben.
Unbestritten schaden Submissionsabreden der Volkswirtschaft. Sie verursachen u.a. zu hohe Preise und kosten damit zunächst unmittelbar die Auftraggeber (öffentliche Hand und Private), aber mittelbar auch die Steuerzahler. Gemäss OECD-Schätzungen führen Submissionsabreden im Durchschnitt zu 10–20 Prozent überhöhten Preisen. Eine jüngere und noch umfassendere Studie zeigt, dass die Preissteigerung sogar zwischen 20 und 45 Prozent liege.2 Bei den Strassenbelägen im Tessin stellte eine WEKO-Untersuchung einen Preisverfall von 30 Prozent nach der Kartellperiode fest.3 In der Untersuchung des Tief- und Strassenbaus in Zürich wurde sogar in einer einzigen Submissionsabsprache eine Preissteigerung von 70 Prozent bewiesen.4
Um solche schädlichen Submissionsabreden zu bekämpfen, führt die WEKO Verfahren durch. Dazu benötigt sie einen Anfangsverdacht. Wie kommt sie dazu? Die üblichen Informationsquellen sind Anzeigen (z.B. von Beschaffungsstellen), Whistleblower und Selbstanzeigen. Zur Verstärkung des Kampfs gegen Submissionsabreden empfiehlt die OECD allerdings auch die Entwicklung proaktiver Instrumente, dazu gehören Screening-Methoden.5 Screening-Methoden sollen ohne Hilfe der üblichen Informationsquellen zur Eröffnung von Untersuchungen führen. Zwei Kategorien von Screening-Methoden können unterschieden werden: strukturelles Screening und Verhaltensscreening.
Strukturelles Screening zur Marktanalyse
Strukturelles Screening untersucht vor allem die Faktoren auf Märkten, die ein vielleicht fragwürdiges, oft aber nur oberflächlich abgestimmtes Zusammenspiel begünstigen (Kollusion). Eine geringere Anzahl von Firmen auf einem bestimmten Markt erhöht zum Beispiel das Risiko von Absprachen. Vereinfacht werden sie auch von strukturellen Eintrittsbarrieren, dasselbe gilt für ihre künstlichen Pendants – etwa Qualifikationskriterien in einem Ausschreibungsprozess. Andere Faktoren (homogene Produkte oder fehlende Substitute) tun ihr Übriges. Schwankungen der Nachfrage hingegen wirken sich negativ auf die Kollusionswahrscheinlichkeit aus. Die Analyse dieser Faktoren ist zwar notwendig, sie allein begründet aber kaum einen Anfangsverdacht, sondern erlaubt nur die Identifizierung von Märkten, die anfällig für Absprachen sein könnten – und also von den Beschaffungsstellen aufmerksam beobachtet werden sollten.
Verhaltensscreening: Wie identifiziert man ein Kartell?
Mittels Verhaltensscreenings wird das konkrete Verhalten der Firmen auf einem bestimmten Markt untersucht. Vorrangig ist dabei das Verhalten hinsichtlich strategischer Variablen (Preise und Menge), und dazu hat die WEKO eigene statistische Indikatoren entwickelt. Diese beruhen auf der Annahme, dass Submissionsabreden die Verteilung der Gebote in einer Ausschreibung verändern – und diese Veränderungen statistisch festgehalten werden können. So liegen etwa während Kartellperioden die in einer Ausschreibung eingereichten Offerten von Firmen näher beieinander als in einer Konkurrenzsituation: die Varianz der Preise ist also regelmässig kleiner. Dieses veränderte Verhalten hinsichtlich der Preissetzung lässt sich durch einen Variationskoeffizienten empirisch «abbilden».6
Erfahrungen der Wettbewerbsbehörden zeigen zudem, dass während Submissionsabreden der Preisabstand zwischen dem preislich tiefsten und dem zweittiefsten Angebot eher gross ist, während die Preisabstände zwischen den übrigen Offerten eher klein sind. Dieses typische Kartellverhalten soll sicherstellen, dass diejenige Firma, die vom Kartell als Zuschlagempfängerin bestimmt wurde, den Zuschlag auch sicher erhält. Dass die übrigen Preise eher nah beieinander liegen, ist darauf zurückzuführen, dass die einreichenden Unternehmen das Preisniveau im Falle einer Submissionsabrede kennen und gegenüber der Vergabestelle im Hinblick auf künftige Vergaben als «nicht zu teuer» erscheinen wollen: Sie setzen ihren Preis daher nah an die preislich zweitbeste Offerte. Abbildung I aus einem konkreten Fall der Untersuchung «Strassenbeläge Tessin» veranschaulicht solche Angebotsmanipulationen. Der Abstand zwischen den ersten und zweiten Angeboten (schwarzer Pfeil) ist deutlich grösser als die Abstände der verlorenen Gebote (goldene Pfeile).
Jetzt wird es komplizierter. Denn um solche und ähnliche Angebotsmanipulationen zu erfassen, kann folgende Kennzahl aufgebaut werden: Der Abstand zwischen den ersten und zweiten Angeboten ist durch die Standardabweichung der Abstände der übrigen Gebote zu teilen.7 Wenn diese Kennzahl (der relativen Distanz) grösser als 1 ist, zeigt sie, dass der Preisabstand zwischen dem ersten und dem zweiten Angebot grösser ist als die Abstände zwischen den übrigen Preisen. Auf der obigen Abbildung entspricht die relative Distanz einer Kennzahl von 4,97.
Der Einzelfall ist allerdings noch wenig aussagekräftig – spannend wird die Beobachtung auf Zeit. Abbildung II8 zeigt die relativen Distanzen für das Strassenbaukartell im Tessin. Die vertikalen Linien umfassen die Kartellperiode, die von Januar 1999 bis Ende März 2005 dauerte. Die horizontale Linie zeigt den Wert von 1 für die Kennzahl der relativen Distanz, und die einzelnen Punkte stehen für die Grösse der Kennzahl bei einzelnen Strassenbauausschreibungen im Tessin. Man sieht deutlich: Fast alle Kennzahlen der relativen Distanz innerhalb der Kartellperiode liefen über 1, während genau das weder für die Zeit vor Beginn des Kartells (vor Januar 1999) noch für die Zeit danach gilt (Zeit ab März 2005). Damit wurden die Untersuchungsergebnisse im Fall Tessin bestätigt: Das Kartell teilte sich zwischen Januar 1999 und März 2005 systematisch Strassenbauaufträge mittels Preisabsprachen zu.
Das Verhaltensscreening fokussiert also nicht auf einzelne, sondern auf eine Reihe von Ausschreibungen, da sie die Entwicklung des Verhaltens der Firmen darstellen. Dabei gilt: Je mehr Beobachtungen, desto robuster die Resultate des Verhaltensscreenings. Es ist zudem möglich, verschiedene statistische Kennzahlen miteinander zu verknüpfen. Solche Kombinationen erlauben noch präzisere und robustere Verhaltensanalysen von kollusivem Verhalten.9 Gestützt auf solche Analysen eröffnete die WEKO in einem Fall eine Untersuchung.
Hilfe zur Selbsthilfe
Das Verhaltensscreening mit offiziellen statistischen Kennzahlen ermöglicht also den Wettbewerbsbehörden, Submissionsabreden ohne die üblichen Informationsquellen zu entdecken und somit den Abschreckungseffekt zu erhöhen. Das Vorgehen dient folglich nicht nur der Aufdeckung bestehender Kartelle, sondern sogar der Verhinderung neuer – und dabei gilt: Je öfter es angewendet wird, desto besser funktioniert es. Da die statistischen Kennzahlen einfach zu berechnen und zugrunde liegende Datensätze in Zukunft genauer und umfangreicher sind, können auch nicht nur die eigentlichen Wettbewerbsbehörden, sondern auch Beschaffungsstellen selbst gegen Submissionskartelle vorgehen.
Vgl. OECD: Fighting Bid Rigging in Public Procurement. Report on Implementing the OECD Recommendation (2016), S. 6. ↩
Vgl. John M. Connor und Dan P. Werner: Variation in Bid-Rigging Cartels’ Overcharges: An Exploratory Study (2018). ↩
Vgl. WEKO: Strassenbeläge Tessin. In: Recht und Politik des Wettbewerbs (=RPW; 2008/1), S. 85 ff. ↩
Vgl. WEKO: Wettbewerbsabreden im Strassen- und Tiefbau im Kanton Zürich. In: RPW (2013/4), S. 524 ff. ↩
Vgl. OECD: Ex Officio Cartel Investigations and the Use of Screens to Detect
Cartels (2013), S. 17 f. ↩Vgl. David Imhof: Empirical Methods for Detecting Bid-Rigging Cartels. PhD thesis (2018), S. 91 ff. Web: http://www.theses.fr/2018UBFCB005. ↩
Vgl. Imhof. S.89 ff. ↩
Vgl. Imhof (2018), S. 89. ↩
Vgl. David Imhof, Yavuz Karagök und Samuel Rutz: Screening for Bid Rigging: Does It Work? In: Journal of Competition and Law and Economics (14/2, 2018). S. 235–261. ↩