Mit Onkel Hugo nachts einmal um die Welt
Hugo Loetscher hat in der Schweizer Literatur eine Randexistenz eingenommen. Es lohnt sich, seine Fabulierkunst wiederzuentdecken.
Daniele Muscionico kommentiert «Die Kopfkissen-Gans» von Hugo Loetscher.
Mach deine Augen zu und lies. Die Kopfkissen-Gans ist schon da. Die Nacht ist ihre Zeit und ebenso die Zeit der Lesenden. Wenn Onkel Hugo uns abends zu Bett bringt, erzählt er am Bettrand das Märchen von der Kopfkissen-Gans: Mit ihr reisen wir an den Nil oder den Orinoko, sie trägt dich ans Schwarze Meer und an den Südpol. Sie ist ein Zugvogel genau wie Onkel Hugo auch.
Als Zugvogel ist sie verwandt mit den Graugänsen, und familiär ist sie mit der ruhmreichen, wenn auch eingebildeten Verwandten aus Frankreich. Man isst die welsche Art gerne in Orangensauce, was die gut eidgenössische Gans nicht befürchten muss, immerhin. Senkrecht startet sie in die Luft, wenn ein Koch sein Messer wetzt.
Die Orangen-Ente ist die Urgrossmutter der Kopfkissen-Gans, das ist bestimmt wahr, sagt Onkel Hugo, ungelogen. Alles ist wahr, denn alles ist möglich, weil alles ist denkbar, auch das sagt er. Alles lässt sich mit Sprache anstellen und behaupten. Manipulatives Handwerk, das man Dichten nennt! Onkel Hugo lacht sich ins Fäustchen, er ist ein Existenzialist. Auch wenn alles längst verloren ist, auf seinem Witz besteht er, den nimmt er ernst.
Die Kopfkissen-Gans ist aus all den Federkielen gemacht, die je in einer Menschenhand Geschichten fabulierten. Aus alten Geschichten erzählen sich immer wieder neue und immer wieder andere. Die Katze beisst sich in den Schwanz und die Gans in den Bürzel. Es gibt kein Entkommen aus der Fantasie. Die Einbildung bildet, und sie bildet mit Worten, weil dem Dichteronkel, Dichterorakel – genauso wie dem Lesenden – die Sprache fehlt. Es mangelt nämlich an Sprache, die sich mit dem deckt, was man Wirklichkeit nennt. Darunter leidet und daran arbeitet der Märchenerzähler.
Weil die Gans ein Zugvogel ist, existieren in ihrer Wirklichkeit keine Grenzen, keine geografischen und keine systemischen. Erzählen ist alles, die Welt erfindet und erneuert sich erzählend. Auch darum nimmt uns der gute Onkel an der Hand und zeigt uns, wie er erzählend nach einer Sprache forscht, die es mit der Wirklichkeit aufnimmt. Doch wie dem «Immunen» stehen auch der Kopfkissen-Gans und stehen dem Dichter lediglich Worte zur Verfügung. Worte als Ersatz für Sprache.
Hugo Loetscher ist der Konrad Lorenz der Schweizer Literatur: Seine Kopfkissen-Gans ist Lorenz’ Graugans Martina. Das Werk folgt dem Dichter auf dem Fuss, es ist ja seine Kopie. Es schweift um und ab und fabulierend auf jenes zu, was die bestmögliche Geschichte sei, um Welt zu begreifen. Er selbst war ein Schriftsteller in und ausserhalb der Schweiz, formulierte er einmal; er war auch einer in und ausserhalb der Sprache.
Hugo Loetscher muss man lesen, wiederlesen, er ist der grosse unzeitgemäss Zeitgemässe. Loetscher lesen, um ihn nicht zu vergessen. In der Darstellung zur Schweizer Literatur fällt er immer wieder durch alle Raster, er spielt inzwischen, wenn überhaupt, eine Nebenrolle. Die Randexistenz hatte er sich zugedacht. Tatsächlich aber ist seine randseitige Literatur heute zentraler denn je. Vielstimmig ist sie und vieldeutig, Erzählperspektiven wechseln wie getragene Hemden, Erzählformen ändern sich und werden über Bord geworfen wie unsere Versuche, die Welt zu verstehen. Loetschers Welt ist eine Legierung aus Einbildung und Eingebung, aus Fabulierkunst und Fantasie. Die neue Normalität ist die alte Lüge.
Was macht die «Kopfkissen-Gans» des Nachts? Loetscher weiss es, denn er hat sie zur Welt gebracht. Sie ist eine Hauptfigur wie andere Tiere in seinem Werk, die Filzlaus beim Wirtswechsel, die achtundreissigste Ameise, das Zauberkaninchen, das Maultier im Militärdienst. Ihnen allen hat er Fabeln angedichtet, doch der Kopfkissen-Gans hat er mehr als das zugestanden. Er hat für sie eine Sprache gefunden, die nicht flächig, sondern kugelförmig ist, feist und mit Worten gemästet, weil auch die Erde rund ist. Loetschers Worte machen die Erdumdrehung mit.
So reisen wir mit dem guten Onkel nachts einmal um die Welt und erleben unterwegs, wie alles mit allem zusammenhängt. Eine runde Sache einfach. Doch einfach auch schön kompliziert.