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Miras Spuren in Zürich

Mit Jürg Beelers Roman wird die Nacht leicht

Es gibt wirksam verwirrende Texte, die nach Gegentexten rezensierender Leser rufen und entwaffnend harmlose, die sich hartnäckig jedem reflektierenden Zugriff widersetzen. «Das Gewicht einer Nacht» scheint zu diesen zu gehören. Sein Autor, der 1957 in Zürich geborene Jürg Beeler, studierte Germanistik, Komparatistik und Literaturkritik, arbeitete als Mittelschullehrer und Rezensent, war im Reise- und Kulturjournalismus tätig und lebt heute, nach längeren Auslandaufenthalten, als freier Schriftsteller in Zürich. 1986 veröffentlichte er einen Gedichtzyklus bei Ammann, seit 1996 sind bei Haymon vier Romane erschienen.

Leichtfüssig bewegt sich der Ich-Erzähler – ein Reiseleiter von strahlendem Selbstbewusstsein – in seiner zum Taschenbuch geschrumpften Welt. «Realität ist die Illusion, die durch Mangel an Alkohol entsteht.» Ein Romanbeginn wie ein Paukenschlag, der im Lauf der Lektüre ohne Nachhall bleibt. Weder gesteigerte Wirklichkeitswahrnehmung, noch alkoholbedingter Realitätsverlust, noch das schwierige Verhältnis von Realität und Illusion sind Thema des Romans.

Was hat nun dieser Ich-Erzähler in Zürich verloren? Eigentlich wollte er nur seine Wohnung auflösen und sofort wieder abreisen, wenn ihm nicht ein Radfahrer an einem harmlosen Sonntag den Weg abgeschnitten hätte. Nun sitzt er fest, ausgerechnet in Zürich, seiner Geburtsstadt, und zeigt «Fremden, was die Stadt vor ihnen verschweigt». Was er – immer auf das Publikum abgestimmt und ganz spontan den Gesichtern angepasst – schwäbischen Nonnen, Holländern, Italienern und Russen von Zürichs Heiligtümern, vom Leben Hans Waldmanns, vom alten Botanischen Garten oder vom Wappen über dem Portal des Zunfthauses zur Waag erzählt, legt die freie Umdichtung des Romananfanges nahe: Phantasie ist die Realität, die durch Mangel an Erinnerung entsteht. Trotz ernsthafter Vertiefung in die Stadtgeschichte und verwirrenden Gängen durch die elektronischen Kataloge der Zentralbibliothek können wir den verblüffend logisch wirkenden Ausführungen auf seinen thematisch geordneten Stadtrundgängen nicht ganz glauben, zu offensichtlich augenzwinkernd erzählt er uns das alles. Aber se non è vero, è ben trovato. Unüberhörbar sind auch die impliziten Kommentare zur aktuellen politischen Debatte. «Der Paradeplatz war früher kopfsteingepflastert, vor wenigen Jahren jedoch wurde er asphaltiert, damit die EU-Minister nicht über das Bankgeheimnis stolpern.»

Wahrscheinlich ist jedoch, dass der Ich-Erzähler durch seinen Unfall, der ihn für drei Monate in Zürich festhält, über sein zehn Jahre zurückliegendes Leben mit Mira stolpert. Als er schwäbische Nonnen auf der sogenannt liturgischen Achse durch die Stadt führt, fällt sein Blick plötzlich auf eine abseitsstehende Frau – es ist Mira. Die Heiterkeit jenes Nachmittags verliert sich blitzartig. Wie ein Schatten folgt sie nun dem Ich-Erzähler, verdunkelt die sonst so hell sprudelnde Phantasie und lässt ihn bis zum letzten Satz nicht mehr los. Miras Erscheinen fügt der auf einer äusseren, historisch überlieferten Ebene sich abspielenden Erinnerungsarbeit die innere, seelische des Verdrängens und Vergessens hinzu. Gekonnt werden die beiden Ebenen miteinander verknüpft, fliessen manchmal nahtlos ineinander und lassen anrührende Bilder entstehen.

Miras Spuren verlieren sich wieder, die Suche nach ihr bleibt erfolglos. Die kurze Begegnung am Schluss des Romans ist von so grosser Fremdheit geprägt, dass von Wiederfinden nicht die Rede sein kann – trotzdem wird dem Leser die Nacht nicht schwer.

Jürg Beeler, «Das Gewicht einer Nacht». Roman. Innsbruck: Haymon, 2004.

Die Germanistin Elena Ederle, geboren 1960, lebt und schreibt in Thalwil.

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