MINT-Mangel, Mädchen und Mittelschulen
Pflege, Pädagogik, Soziales und Sprachen stehen im Vordergrund bei den Mädchen, die heute mehr als die Hälfte aller Maturitätszeugnisse erhalten. Doch Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik stehen im Zentrum, wenn über den Mangel an Fachkräften debattiert wird. (Wie) sind individuelle Bildungsentscheide mit künftigen Wirtschaftsbedürfnissen in Einklang zu bringen?
Unschwer lässt sich eine Wiederholung von Bildungsdebatten erkennen, die seit den 1960er Jahren die westliche Hemisphäre heimsuchen: Das Bildungssystem – so der immer wieder geäusserte Einwand – bringe nicht die erforderlich ausgebildeten Leute hervor, und vor allem zu wenige von ihnen. Die erwünschte Wachstumsdynamik, die in solchen Äusserungen zum Ausdruck kommt, bezieht sich dabei nicht nur auf Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch auf die Bildungssysteme selbst. Bereits der «Sputnikschock», das heisst der überraschende Vorsprung und die scheinbare Überlegenheit des sowjetischen Weltraumprogrammes im Jahre 1957, löste, damals im Zeichen des Systemwettbewerbs zwischen West und Ost, erheblichen bildungspolitischen Aktivismus aus. Wie die amerikanischen High Schools wurden auch die kontinentaleuropäischen – und damit auch die schweizerischen – Gymnasien, einst Hochburgen des Humanismus, zu erweiterten Zulieferern für die ebenfalls im Ausbau befindlichen Universitäten und technischen Hochschulen. Diese Bildungsexpansion verlief im Rahmen des Anspruchs, vor allem technisch geschulte junge Leute mit mehr Kenntnissen in Mathematik und Naturwissenschaften hervorzubringen. Aber auch andere Bildungsgefässe wie die damaligen höheren technischen Lehranstalten und Technikerschulen, ebenso einige Jahre später die Weiterbildung Erwachsener, liessen sich in den Imperativ des lebenslangen Lernens in einer sich wandelnden Wirtschaft und Gesellschaft einbauen. Seither ist die permanente Forderung und Mahnung ins öffentliche Bewusstsein gerückt, alle Bereiche des Bildungswesens verstärkt auch auf die Ansprüche des technischen Fortschritts und des Wirtschaftslebens auszurichten.
Allokations- und Passungsprobleme
Es stellt sich demgemäss wiederholt die Frage, inwiefern genügend Personen für bestimmte Sparten der Wirtschaft und dann auch noch hinreichend qualifizierte Arbeits- oder Fachkräfte zur Verfügung stehen – oder warum diese fehlen. Eine im Wettbewerb stehende Volkswirtschaft, das ist die beinahe zwingende Logik der bildungsexpansiven Debatten, braucht tendenziell immer mehr und vor allem immer spezifischer Ausgebildete. So gesehen geht es um ein Allokationsproblem, das aber nicht nur oder ausschliesslich hochqualifizierte Fachkräfte betrifft, sondern ebenso auch Leute mit vergleichsweise niedrigen Qualifikationen, für welche weiterhin ein Bedarf besteht.
Über einen groben Kamm geschert, empfiehlt die OECD seit Jahren, mit mehr Akademikern auf eine wissensintensivierte Wirtschaft zu reagieren. In der Schweiz wird allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass gerade stark beruflich geprägte Bildungssysteme eine Vielzahl erwünschter und erforderlicher Qualifikationen über eine betrieblich abgestützte Bildung abdecken können. Fehlende Qualifikationen in technischen und dienstleistungsbezogenen Branchen, wie ganz augenfällig im Gesundheits- und Pflegebereich, wurden darüber hinaus bis anhin durch Anwerbung in anderen Ländern Ausgebildeter abgedeckt. Die duale Berufsbildung als solides Fundament gewährt vor allem die Versorgung des Qualifikationsbedarfs auf einer mittleren Ebene, für hochqualifizierte Spezialisten ist man gemäss der Ansicht vieler Experten in einem so kleinen Land wie der Schweiz auf Zufluss von aussen angewiesen. Dennoch bleibt auch in diesem Lande eine Unsicherheit, ob das Bildungswesen auf der Höhe der Zeit ist und die bestehenden bildungspolitischen Anstrengungen ausreichen.
Spezifische versus unspezifische Bildung
Aus der Sicht der Individuen lohnt sich der Erwerb von formal höheren Qualifikationen unabhängig davon, wie arbeitsmarktrelevant diese sind. Denn es ist ein Merkmal eines durch Schulleistungen geprägten meritokratischen Bildungswesens, dass ein höchstmöglicher Bildungsabschluss nicht nur einen unmittelbaren arbeitsplatzqualifizierenden Wert hat, sondern auch als Signal für ein Weiterentwicklungspotenzial, für mehr Flexibilität und Innovation verstanden wird. Arbeitgeber gehen nicht ganz zu Unrecht davon aus, dass Akademiker lernfähig sind und sich schnell in neue Aufgabenbereiche und Themen einarbeiten können. Insofern handeln Eltern und Jugendliche durchaus rational, wenn sie sich bei entsprechender Eignung und erfolgreichem Zugang für das Gymnasium entscheiden. Oft wird bei der Warnung vor zu vielen Akademikern übersehen, dass die Wirtschaft sich auf ein bestehendes Bildungssystem einstellt: Bei festgestellten Lücken bindet sie den Erwerb fehlender Qualifikationen ein, indem sie Zusatzaus- und Weiterbildungen ausserhalb des Betriebes vereinbart, aber auch Traineeprogramme und betriebsinterne Weiterbildungen bereitstellt.
Diese Feststellungen sollen keineswegs die Bedeutsamkeit der dualen Berufsbildung kleinreden: ihre Absolventen haben erforderliche Qualifikationen passgenau erworben, und ihnen stehen viele berufliche und bildungsbezogene Wege offen. Vor allem das bis zur Jahrtausendwende eindrückliche Wachstum der Berufsmaturität und der daran anschliessenden Fachhochschulen hat wohl wesentlich dazu beigetragen, den Bedarf an höherqualifizierten Fachkräften abzudecken. Ausserdem spielt die höhere Berufsbildung eine bedeutsame Rolle, um Personen, die über einige Jahre betriebliche Praxis verfügen, weitere Bildungsmöglichkeiten für Aufgaben im Kaderbereich zu gewähren.
MINT-Fachkräftemangel, Berufsbildung und Mittelschulen
Wie die früheren fokussiert auch die jüngere Fachkräftemangeldiskussion mit Bezug auf MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) vor allem den gymnasialen Bereich. Für die Berufsbildung stellt der bundesrätliche Bericht «Mangel an MINT-Fachkräften in der Schweiz» (2010) fest, dass die Berufsbildung inklusive Fachhochschulen aufgrund ihrer Nähe zur Wirtschaft diese mit nachgefragten Fachpersonen versorge. Dennoch bilanziert der Bericht, dass selbst in der Berufsbildung, auch in der höheren inklusive Fachhochschulen, insgesamt eher Stagnation vorherrsche, was MINT betreffe. Einzig in bestimmten MINT-relevanten Fachhochschulsegmenten sei ein Anstieg der Absolventenzahlen zu beobachten gewesen. Prognostisch wird in Zusammenhang mit dem demographischen Wandel aber auch hier damit gerechnet, dass sich abgesehen von einigen Feldern wie den Life Sciences oder der Chemie trotz ausgewiesenem Bedarf ein Rückgang einstellen wird.
Die heutige Fachkräftemangeldebatte weist im Hinblick auf die Mittelschulen darauf hin, dass die individuellen Berufs- und Studienwahlen der jungen Leute nicht mit den ökonomischen, MINT-geprägten Zukunftssparten in Einklang zu bringen seien. Die Suche nach mehr Gymnasiasten mit MINT-Ausrichtung ist nicht nur ein konjunkturelles Phänomen, sondern verweist auch auf strukturelle Problemlagen. Als neue Akzentsetzung steht weniger eine generelle Mobilmachung für ein weiter auszubauendes Gymnasium im Vordergrund als vielmehr die Frage, wie die fächerbezogenen Wahlen und späteren Berufsentscheidungen justiert werden könnten. Nicht unbedingt mehr Jugendliche sollten den Weg ins Gymnasium finden, stattdessen müssten sie andere Berufs- und Studienwahlentscheide fällen. In diesem Rahmen ist vor allem das Entscheidungsverhalten junger Frauen von Interesse.
MINT und Mädchen
Nicht das in den 1960er Jahren so oft beschworene «katholische Mädchen vom Lande» gilt es noch zusätzlich für das Gymnasium zu gewinnen, sondern die jungen Frauen sollten statt Pflege und Pädagogik, Soziales und Sprachen auch die MINT-Fächer als Berufsperspektive in Betracht ziehen. Bereits die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Frauendominierte Bildungsbereiche sind weit weniger MINT-geprägt als andere und offenbar gerade darum für sie wählbar. Inzwischen herrscht auch im heutigen Gymnasium eine klare weibliche Dominanz: im Jahre 2012 wurden etwas mehr als 18 000 Maturitätszeugnisse ausgestellt, dabei betrug der Frauenanteil knapp 57 Prozent. Mädchen schliessen MINT-Vertiefungen am Gymnasium und dementsprechende Studienwahlen grossmehrheitlich aus. Selbst in der Berufsbildung sind Frauen in MINT-affinen Tätigkeiten sowie auch in entsprechenden Bildungsgängen der höheren Berufsbildung und an den Fachhochschulen auffällig stark untervertreten.
Verschiedentlich wird darüber hinaus auch darauf hingewiesen, dass die MINT-Ausgebildeten beiderlei Geschlechtes häufig nicht ihrem ursprünglichen Tätigkeits- und Berufsfeld treu bleiben, sondern in andere Bereiche, so etwa ins Management, wechseln würden. Kurz, auch mit mehr Mädchen und mehr bereichsübergreifender Mobilisierung lässt sich wohl dauerhaft der Mangel an MINT-Ausgebildeten nicht beheben.
Entwicklungen und Aufgabenbereiche
Zu Recht wird in der neueren Debatte festgehalten, dass nicht erst im Gymnasium die Wahl für eine MINT-Perspektive eröffnet werden solle. Schon in der Volksschule, ja im Elternhaus spielt eine entsprechende Thematisierung und Wertschätzung eine Rolle, ebenso wie die Funktion von Vorbildern beiderlei Geschlechts, die entsprechende berufliche Möglichkeiten sichtbar machen. Diese Feststellung soll aber nicht den didaktischen Wert eines guten Unterrichtes relativieren. Ganz im Gegenteil, engagierte Lehrpersonen können Jugendliche durchaus für ein Fach begeistern, und es ist keineswegs bedeutungslos, wie entsprechende Sachverhalte unterrichtet werden.
Der Bund weist in seinem Bericht zum Fachkräftemangel darauf hin, dass in Bezug auf die Gymnasien vor allem die Kantone gefragt seien, um geeignete Massnahmen voranzutreiben. Tatsächlich sind zurzeit viele lokale und kantonale Initiativen im Gange.
So hat der Bildungsrat des Kantons Zürich 2014 beschlossen, die vielfältigen Massnahmenkonzepte der einzelnen Kantonsschulen zu unterstützen. Neben einer verstärkt zu fördernden MINT-Kultur an Schulen gelte es die Interdisziplinarität, den verstärkten Einbezug ausserschulischer Lernorte sowie auch zusätzliche Informationen zur Studienwahl und zur Interessenweckung an MINT voranzutreiben. Neben mehr Wahl- und Vertiefungsmöglichkeiten sei vor allem auch die Hinführung zu MINT stärker zu gewichten. Schliesslich soll auch das Angebot an Weiterbildung von Lehrpersonen in solchen Themen ausgebaut werden, so z.B. an den PH, der Universität und der ETH. Die Sichtbarkeit des Themas sei darüber hinaus durch spezifische MINT-Tage zu fördern.
Mit zusätzlichen Anreizen und massnahmeninduzierten Motivationsschüben gilt es also Schulen und darüber hinaus auch Schülerinnen und Schüler auf der Basis freier Interessenfindung für MINT zu gewinnen.
Folgerungen
Die Frage stellt sich, ob dieses Engagement auch ausreicht. Schon eine summarische Analyse der Fächer und Lehrpläne zeigt, dass MINT eigentlich wenig fassbar ist, wenn es um das T geht: Technik. Auch die Informatik ist nicht sonderlich stark im Lehrplan der Mittelschulen vertreten. Schliesslich ist der Spielraum zum Ausbau des MINT-Bereichs recht klein. Wie der ETH-Informatikprofessor Herbert Bruderer errechnete, kann ein Gymnasium einen geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt so ausbauen, dass bis zu 60 Prozent der gesamten Unterrichtszeit geisteswissenschaftlichen Grundlagenfächern zukommt. Ein Gymnasium mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern hingegen gelangt auf höchstens 35 Prozent. Die nach wie vor dominant sprachlich-geisteswissenschaftliche Gewichtung erschwert vor allem in der Einstiegsphase männlichen Jugendlichen den Zugang zum Gymnasium. Es wäre daher überlegenswert, in Langzeitgefässen oder im Unterbau, das heisst also im Vorfeld zum Kurzzeitgymnasium, die entsprechenden MINT-Fächer, hier insbesondere die Informatik, stärker zu gewichten oder eine Alternative beispielsweise zum Latein zu gewährleisten. Will man mit mehr MINT-Thematisierungen bei Schülerinnen und Schülern Gelegenheiten schaffen, Blockaden gegenüber MINT abzubauen und neue nicht vorgesehene Berufswahlperspektiven in den Blick zu rücken, müsste man wohl in diese Richtung gehen. Auch ein über das Bestehende hinaus zusätzlich ausgerichtetes technisches Gymnasium müsste, wie ausländische Erfahrungen zeigen, nicht um mangelnde Bewerbungen von Schüler- und Elternseite bangen. Verweigert man sich solchen Massnahmen – und die bisherige eher geringfügige Mobilisierung von Ressourcen deutet eher darauf hin –, vertraut man darauf, dass der traditionelle gymnasiale Bildungsauftrag, in dem die MINT-Fächer eine ehrenvolle Nebenrolle spielen, weiterhin den Zugang zu Wissenschaft und Welt gewährleistet.
Philipp Gonon ist seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls für Berufsbildung am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.