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Jeanine Glarner, zvg.

Das Milizamt als Karrierekiller

Milizpolitiker haben bei der Stellen- oder Studiengangssuche mehr Nach- als Vorteile. Das muss sich ändern, wenn die Amtsübernahme wieder attraktiver werden soll.

 

Seit ich im Jahr 2003 mit 19 Jahren in die Politik eingestiegen bin, werde ich immer wieder gefragt, warum ich das eigentlich mache. Ganz einfach: Es ist mein Beitrag für meine Heimat und meine Mitmenschen. Ja, ich bin eine überzeugte Milizlerin. Denn das Milizprinzip ist die effizienteste Art, den Staat zu organisieren. Es ist ein Garant dafür, dass der Schuster Staat bei seinen Leisten bleibt und das organisiert, was er kann und soll – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und: Jede und jeder kann auf diesem Wege einen grösseren oder kleineren Beitrag für das Land leisten – in welcher Form auch immer.

«Zu oft bedeutet die Entscheidung für ein Milizamt gleichzeitig

eine Entscheidung gegen die berufliche Karriere.»

Es gibt aber Lebensphasen, in denen es einfacher oder schwieriger ist, die entsprechende Zeit für ein Amt aufzubringen. Ich habe im Sommer 2017 entschieden, mich der Wahl zur Gemeinderätin zu stellen: Mit 33 Jahren, zu Beginn einer beruflichen Karriere und vor der Entscheidung stehend, ob Familie dereinst ein Thema sein soll oder nicht, zudem als Grossrätin bereits mit einem politischen Amt ausgestattet. Die Frage, ob mir da noch Zeit für das anspruchsvolle und zeitintensive Amt als Gemeinderätin bleibt, war bei der Entscheidungsfindung zentral. Ich habe sie bejaht und mein Arbeitspensum auf 80 Prozent reduziert.

Karriere oder Milizamt?

Dieser Schritt, den ich bisher nie bereut habe, bedeutete aber auch, dass die berufliche Karriere hintanstehen muss. Wer sich nämlich nicht zu 100 Prozent auf den Beruf konzentriert, hat schlicht keine Chance, eine Führungsposition zu übernehmen oder eine intensive Weiterbildung als Investition in die berufliche Zukunft in Angriff zu nehmen. Zu oft bedeutet die Entscheidung für ein Milizamt gleichzeitig eine Entscheidung gegen die berufliche Karriere. Genau deshalb verstehe ich viele junge Berufsleute, die nicht in die Politik einsteigen wollen. Insbesondere dann, wenn sie neben dem Beruf auch eine Familie haben oder eine gründen wollen. Denn für einen Vater oder eine Mutter zählt die mit der Familie verbrachte Zeit, aber auch, wie viel am Ende des Monats im Portemonnaie bleibt.

Bringt die Milizpolitik heute noch einen konkreten Wert für die berufliche Karriere mit sich? Drei Gründe sprechen trotz anderslautender Rhetorik einschlägiger Kreise dagegen:

1. Wer einer Teilzeitarbeit nachgeht, also nicht rund um die Uhr im Unternehmen präsent ist, wird für eine Führungsposition als ungeeignet eingestuft. Diese Meinung ist in vielen Human-Resources-Abteilungen weit verbreitet. Das Bewerbungsdossier für eine Stelle wandert dann zwar nicht gleich in den Schredder, aber in die Schublade.

2. Stark nachgefragt sind Diplome, die bestätigen, welches theoretische Wissen angeeignet und welche Weiterbildung absolviert wurde. Das Vertrauen in solche Papiere ist ungebrochen und ungemein hoch, es hat sich eine wahre «Papierligläubigkeit» ausgebreitet. Wer nicht dauernd Weiterbildungen macht, landet bald auf dem beruflichen Abstellgleis, und ein Aufstieg auf der Karriereleiter oder ein Stellenwechsel wird erneut schwieriger.

3. Einige Unternehmen sehen eine politische oder auch eine militärische Positionierung sogar kritisch. Sie befürchten, das könnte zu Absenzen oder, bei Exponierung, zu schlechter Presse führen. Ich musste das selbst schon erleben: Mir wurde die Arbeit in der grossrätlichen Kommission für Umwelt, Bau, Verkehr, Energie und Raumordnung untersagt, weil meine Mitgliedschaft dort ein «Reputationsrisiko» darstelle.

Die Erfahrung, dass das Milizprinzip auf dem Arbeitsmarkt kaum Vorteile bringt, musste ich machen, als ich fast ein ganzes Jahr auf Stellensuche war. Immer wieder hatte ich das Gefühl, mein Amt als Grossrätin stehe mir im Weg. Die Erzählungen anderer Milizpolitiker zeigen mir, dass das leider kein Einzelfall ist. Klar, für die vielen Kleinbetriebe, in denen die Abwesenheit eines Mitarbeitenden direkt eine Umsatzeinbusse zur Folge hat, habe ich Verständnis. Besonders betroffen gemacht hat mich aber ein Beispiel eines Gemeinderats, der seine Stelle beim Bund aufgeben musste, da ihm die Bewilligung für dieses Nebenamt verweigert wurde. Es verweigert sich ausgerechnet der Staat, der dringend bodenständige Milizpolitikerinnen und Milizpolitiker nötig hätte, die praktisch erfahren, ob die von der Verwaltung angedachte Umsetzung von Rechtserlassen auch tatsächlich Wirkung zeigt.

Statt Theorie und Diplome: praktisches Wissen und Verantwortung

Dass es für Milizpolitiker in der Arbeitswelt schwierig geworden ist, ist ein Fakt, schwierig nachvollziehbar ist er obendrein. Denn Milizpolitiker erwerben Fähigkeiten, Kompetenzen und Wissen in den Bereichen Finanzen, Projektleitung, Personalführung, Kommunikation. Sie bringen also vieles mit, was gute Führungskräfte in den Unternehmen mitbringen müssen. Sie können konkrete, reale Erfahrungen vorweisen, und nicht nur theoretisches Wissen: Oder wem von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wurden schon mal 2 Millionen Franken für ein Bauprojekt anvertraut? Wer muss jeden Tag den Bürgerinnen und Bürgern in die Augen schauen können und ihnen unangenehme Entscheide erklären? Wer muss als Arbeitnehmer ein Budget von gegen 20 Millionen Franken zusammenstellen und die Verantwortung dafür übernehmen? Wer von Ihnen musste schon schwierige Entscheide fällen, mit denen Schicksale ganzer Familien verbunden sind?

Die Führungs- und Entscheidungsstärke wächst in der Praxis, nicht in der Theorie. Wir Milizler bringen nicht nur unsere beruflichen Erfahrungen in die Politik ein, sondern auch umgekehrt unsere im Milizamt gewonnenen Fähigkeiten und Kompetenzen in den beruflichen Alltag. Und wenn unsere Gesellschaft gelegentlich über die Entzweiung zwischen Wirtschaft und Politik spricht, dann führe ich das auch darauf zurück, dass Unternehmen auf Milizpolitiker verzichten: Es gibt in der Wirtschaft immer mehr Führungskräfte, die keinen Bezug mehr haben zur Politik – und damit keinen zur Gesellschaft.

Auswege

Verschiedene Studien und Umfragen zeigen: Immer mehr Gemeinden haben Schwierigkeiten, die Gemeinderatsämter besetzen zu können. Der Schweizerische Gemeindeverband erkürt das Jahr 2019 deshalb zum «Jahr der Milizarbeit». Eben erst wurde das Projekt Promo35.ch lanciert, um den politischen Nachwuchs in den Gemeinden zu fördern. Daraus stammen auch eher ungewöhnliche Ideen wie die Aufhebung der Wohnsitzpflicht oder die Einführung des Wahlrechts für Zweitwohnungsbesitzer oder für niedergelassene Ausländer. Hochschulen beginnen, Weiterbildungen für Politikerinnen und Politiker anzubieten, damit diese das Handwerk für die Politik lernen: Kenntnisse in Wirtschaftspolitik, Förderung von vernetztem Denken, Führungs- und Managementkompetenzen oder Stärkung der Auftrittskompetenz usw. So wird es wohl bald viele diplomierte Politikerinnen und Politiker geben. Ist es das, was wir brauchen und wollen, um das Milizsystem zu stärken? Ist es das, was das Engagement der Bürgerinnen und Bürger für das Gemeinwesen erhöht? Ich glaube nicht.

«Es verweigert sich ausgerechnet der Staat, der dringend bodenständige Milizpolitikerinnen und Milizpolitiker nötig hätte, die praktisch erfahren, ob die von der Verwaltung angedachte Umsetzung von Rechtserlassen auch tatsächlich Wirkung zeigt.»

Ich habe deshalb letztes Jahr eine andere Idee lanciert: Milizpolitikerinnen und Milizpolitiker sollen ihr Engagement in anerkannten Weiterbildungslehrgängen wie einen Executive MBA in Public Management oder Non-Profit-Management anrechnen lassen können. So erhält ihr Engagement auch für die berufliche Karriere einen konkreten Wert. Denn wer eine Weiterbildung in kürzerer Zeit absolvieren kann, ist eher bereit, den Zusatzaufwand auf sich zu nehmen. Werden Milizamt und berufliche Weiterbildung auf diesem Weg vereinbar, kommt ein zeitintensives Gemeinderatsamt der beruflichen Karriereplanung nicht mehr in die Quere. Mit einer Anrechnung von ECTS-Punkten1 verkürzt sich die Weiterbildungszeit und aus dem Engagement für die Allgemeinheit ergibt sich ein echter Gewinn für die berufliche Karriere. Meine Idee geht aber noch weiter: Viele Weiterbildungslehrgänge für Führungskräfte setzen bereits eine langjährige Berufser­fahrung in leitender Stellung als Aufnahmebedingung voraus. Das Amt als Gemeinderätin bzw. Gemeinderat soll diese Voraussetzung erfüllen.

Ich bin überzeugt, dass wir mit einem solchen Modell – aus der militärischen Führungsausbildung kennen wir ähnliches übrigens schon – die jungen Milizpolitikerinnen und Milizpolitiker fördern könnten. Ein gewichtiger Nachteil gegenüber der Konkurrenz im offenen Arbeitsmarkt fiele damit ersatzlos weg.

So oder so: Ich rufe Sie auf, geschätzte Chefinnen und Chefs, stellen Sie Milizpolitikerinnen und Milizpolitiker ein und motivieren Sie Ihre Mitarbeitenden zur Milizarbeit in ihrer Gemeinde. Sie werden es nicht bereuen!

  1. Das European Credit Transfer System (ECTS) soll die Anerkennung von Studienleistungen im europäischen Hochschulraum erleichtern. ECTS-Punkte sind Leistungspunkte (Credit Points).

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