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Pirmin Bundi, zvg.

Migranten können das Milizsystem beleben

Viele Gemeinden haben Mühe, Ämter zu besetzen. Mit einem passiven Wahlrecht für Ausländer würde das Angebot an Kandidaten vergrössert und zugleich die Integration gefördert.

Es ist Dienstagabend, ein Gemeinderat tagt im Gasthof Rössli. Zwei langjährige Mitglieder erklären den anderen drei Anwesenden, dass sie nach über zehn Jahren zum Ende der Legislaturperiode zurücktreten werden. Die Gemeindepräsidentin versucht, die beiden von ihrer Entscheidung abzubringen. Doch sie lassen sich nicht umstimmen.

Einen Moment lang ist es ruhig. Der Gemeinderat muss diese Nachricht zunächst einmal verdauen. Dann nickt die Gemeindepräsidentin, dankt den ausscheidenden Gemeinderatsmitgliedern für die langjährige Zusammenarbeit und wünscht ihnen alles Gute. Innerlich geht sie bereits die Liste potentieller Personen durch, die für die Nachfolge angefragt werden könnten. Allein der Gedanke daran graust ihr. Schon das letzte Mal hatte sie grosse Mühe, eine geeignete Person zu finden, und damals musste nur ein Gemeinderatsmitglied ersetzt werden. Nun müssen gleich zwei neue Mitglieder gefunden werden. Die Gemeindepräsidentin seufzt, weiter hinten am Stammtisch wird noch eine Runde bestellt.

Vorbild Frauenstimmrecht

Diese Szene hat so nie stattgefunden, und doch spielt sich Ähnliches regelmässig in Schweizer Gemeinden ab. Die Schweizerinnen und Schweizer scheinen keine Lust mehr auf das Milizwesen zu haben. Besonders stark betroffen sind die Gemeinden, die den Kern des Milizsystems ausmachen. Jede zweite Gemeinde hat Mühe, Kandidierende für die Gemeinderatswahlen zu finden. Oft finden die Wahlen still statt, das heisst, es gibt nur so viele Kandidierende, wie Sitze zu vergeben sind.

Es sind also Massnahmen gesucht, um wieder mehr Leute für das Milizwesen zu gewinnen. Es gibt nicht wenige davon. Mal wird Amtszwang propagiert, dann sollen Gemeinden mit stärkeren Anreizen wie Steuererleichterungen und Bildungsgutschriften mehr Leute anziehen oder die benötigte Zahl von Personen einfach durch Gemeindefusionen verringern.

Es gibt jedoch noch eine weitere Möglichkeit, die weit eleganter wäre und mit der die Schweiz bereits im Jahr 1971 gute Erfahrungen gemacht hat: die Partizipation einer zusätzlichen Volksgruppe, nämlich der Migrantinnen und Migranten. Heutzutage erfolgt diese vor allem durch Einbürgerungen. Diese Gruppe könnte jedoch noch stärker ins Milizwesen miteinbezogen werden, indem ihr das passive Wahlrecht auf Gemeindeebene gewährt wird, wie es bereits einige Kantone kennen. Ist die Migration also eine Chance für das Schweizer Milizwesen? Können Ausländerinnen und Ausländer einen Pfeiler der Schweizer Demokratie retten?

«Jede zweite Gemeinde hat Mühe, Kandidierende für die Gemeinderatswahlen zu finden.»

Tiefe Beteiligung

Auf den ersten Blick spricht wenig dafür. Es gibt zwar kaum Zahlen zur Beteiligung der ausländischen Wohnbevölkerung im Milizwesen, doch die Statistik zu deren Wahlbeteiligung ist nicht besonders ermutigend. Eine Studie des Swiss Forum for Migration and Population Studies zeigt, dass die Wahlbeteiligung von Ausländerinnen und Ausländern auf Gemeindeebene in den Kantonen Genf und Neuenburg deutlich geringer ist als die von Schweizerinnen und Schweizern. Bei den eingebürgerten Personen sieht es nicht besser aus. So zeigt die Bachelorarbeit von Blerta Salihi, dass eingebürgerte Personen generell seltener an Wahlen teilnehmen als gebürtige Schweizerinnen und Schweizer. Dabei kann man kaum davon ausgehen, dass Eingebürgerte weniger über das Schweizer Milizsystem wissen. Die Hürden für Einbürgerungen sind im Vergleich zu anderen Ländern eher hoch. Bereits im Einbürgerungsprozess werden gemäss einer Studie von Rosita Fibbi, Barbara von Rütte und Philippe Wanner weniger gebildete Ausländer/-innen tendenziell aussortiert.

Das Potenzial wäre aber durchaus vorhanden. Eine Untersuchung von Jens Hainmueller, Dominik Hangartner und Giuseppe Pietrantuono zeigt, dass sich frisch eingebürgerte Personen mindestens genauso stark an den nationalen Wahlen beteiligen wie ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger. Nach einer gewissen Zeit scheint dieser Effekt jedoch zu verpuffen.

Die Migration ist zweifellos eine Chance für das Schweizer Milizsystem. Es gibt nichts schönzureden: Wir brauchen dringend Menschen, die sich in der Gemeindepolitik engagieren wollen. Auch wenn die Bevölkerungszahl in der Schweiz ständig wächst und die Anzahl der Gemeinden sinkt, wird es in Zukunft nicht einfacher werden, geeignete Personen für das Milizwesen zu finden. Die Erweiterung des potentiellen Personenkreises, sei es durch Einbürgerungen oder durch die Erweiterung des Stimmrechts, könnte Abhilfe schaffen. Ein positiver Nebeneffekt wäre, dass das passive Wahlrecht für Ausländer und Ausländerinnen deren Integration fördern würde, da sie sich so stärker am Gemeindeleben beteiligen könnten.

Und nicht nur das. Zugezogene aus dem Ausland bringen häufig neue Sichtweisen und kulturelle Kompetenzen ein, von denen Milizbehörden profitieren können. Es gibt viele Themen wie Digitalisierung, Umwelt oder Migration, die bereits jetzt und sicher auch in Zukunft für die Schweizer Gemeinden zentral sein werden. Ausländerinnen und Ausländer können hier mit ihrem Fachwissen einen grossen Beitrag leisten. Zudem legen zahlreiche Studien nahe, dass eine deskriptive Repräsentation, das heisst, dass politische Institutionen wie Parlamente oder Regierungen die Bevölkerung in ihren sozioökonomischen Merkmalen abbilden, zu besserer Politik führt.

Doch die politische Beteiligung einer neuen Bevölkerungsgruppe geschieht nicht einfach so, wie das Beispiel der Einführung des Schweizer Frauenstimmrechts im Jahr 1971 zeigt. Fabrizio Gilardi hat in einer Studie gezeigt, dass der Anteil von Frauen in der Politik zunächst stark angestiegen ist, insbesondere durch den Vorbildeffekt von Pionierinnen. Nach ein paar Jahren verpuffte dieser Effekt jedoch wieder. Die eidgenössischen Wahlen 2019 mit der Kampagne «Helvetia ruft!» haben gezeigt, dass Frauen sich eher beteiligen, wenn die Förderung ihrer Beteiligung ein gesamtgesellschaftliches Anliegen wird. Dafür braucht es allerdings Zugang zu Ressourcen wie Ausbildung, Zeit und finanziellen Mitteln.

Die Gemeinden und Kantone sind also gefragt. Ein erster Schritt ist die flächendeckende Einführung des passiven Wahlrechts für Ausländerinnen und Ausländer. Das wäre für die aktuellen Miliztätigen übrigens kein Problem. In einer Befragung von 2018 haben wir fast 2000 Miliztätige nach ihren Präferenzen für ein Milizamt befragt. Dabei sahen sie das Schweizer Bürgerrecht nicht als zentrale Voraussetzung für eine Miliztätigkeit an.

«Zugezogene aus dem Ausland bringen häufig neue Sichtweisen und kulturelle Kompetenzen ein, von denen Milizbehörden profitieren können.»

Selbstverständlich sollten Ausländerinnen und Ausländer bestimmte Voraussetzungen für ein solches Amt erfüllen. Die Gesetzgebung der Kantone, die das passive Wahlrecht kennen, geben einen guten Anhaltspunkt. Ohne ein gewisses Wissen über die Funktionsweise des Schweizer Politiksystems und seiner Behörden wird man allerdings auch nicht so einfach in ein Amt gewählt. Gegner der Erweiterung des passiven Wahlrechts müssen also keine Angst haben, dass der Gemeinderat plötzlich von Nichtschweizern dominiert wird.

Barrieren abbauen

Das passive Wahlrecht allein reicht jedoch nicht aus, um die politische Teilhabe von Ausländerinnen und Ausländern zu erhöhen. Auch die Gemeinden müssen etwas tun. Das Spektrum reicht von einfachen Informationsveranstaltungen und Einführungskursen speziell für Ausländerinnen und Ausländer bis zum Abbau von Barrieren. Die Bundesverwaltung macht es vor: Die Sitzungssprache kann auch mal variabel sein und muss nicht Schweizerdeutsch sein. Zudem könnten Gemeinden Kooperationen mit Vereinen und Migrationsorganisationen eingehen.

Am wichtigsten ist jedoch, dass diese Bevölkerungsgruppen bei einer Vakanz gezielt angesprochen werden. Hier kommt die Gemeindepräsidentin aus dem Anfangsbeispiel wieder ins Spiel. Sofern die kantonale Verfassung dies zulässt: Warum nicht die nichtschweizerische Nachbarin fragen, ob sie Lust habe, für den Gemeinderat zu kandidieren?

Von der Migration darf man sich für das Milizwesen aber keine Wunder erhoffen. Auch mit der Beteiligung von Ausländerinnen und Ausländern wird es schwierig bleiben, geeignete Personen für ein Milizamt zu finden. Wenn sich aber auch nur einige dieser Personen in der Gemeindepolitik einbringen könnten, wäre bereits viel gewonnen – sowohl für die Gemeinden als auch für die engagierte Person.

Einem afrikanischen Sprichwort zufolge braucht es ein ganzes Dorf, um ein Kind aufzuziehen. Vielleicht braucht es auch ein ganzes Dorf, um eine Gemeinde zu verwalten. Es ist an der Zeit, das volle Potenzial aller Bewohnerinnen und Bewohner zu nutzen.

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