
Menschenrecht auf Geschlechtswechsel?
Was einst «Transsexualität» genannt wurde, ist in den letzten Jahren von einer medizinischen Diagnose in einen Menschenrechtsbelang umdefiniert worden. Ein Paradigmenwechsel, der polarisiert.
Als das Schweizer Parlament am 18. Dezember 2020 das Gesetz für die «Ehe für alle» mit grosser Mehrheit passierte, war die Aufmerksamkeit erheblich. Allerdings war dies nicht die einzige Novelle von weitreichender gesellschaftlicher Bedeutung, über die an jenem Tag abgestimmt wurde. Entschieden wurde auch über ein Gesetz, das Regelungen enthält, die es transsexuellen und intersexuellen Menschen ab dem Alter von 16 Jahren ermöglichen sollen, ihr amtlich dokumentiertes Geschlecht mittels einer einfachen Erklärung und ohne medizinische Nachweise oder Ähnliches beim zuständigen Zivilstandsamt ändern zu lassen. Nationale Interessenvertretungen wie das Transgender Network Switzerland und InterAction Suisse kritisieren diese Altersgrenze jedoch. Sie stellt aus ihrer Sicht eine erhebliche Verschlechterung dar, weil es zuvor eine entsprechende Grenze nicht gab. Ebenso wird bemängelt, dass keine dritte Option als Eintragungsmöglichkeit existiert. Politisch rechte und religiöse Kräfte machten indes von der Möglichkeit Gebrauch, mittels Unterschriftensammlung ein Referendum herbeizuführen. Erfolgreich waren sie lediglich gegen die «Ehe für alle», über die voraussichtlich im Herbst abgestimmt wird. Wann die Vereinfachung der Änderung des amtlich eingetragenen Vornamens und Geschlechts in Kraft treten wird, ist noch unklar.
In anderen europäischen Ländern waren ähnliche Vorstösse, die den Geschlechtswechsel rechtlich vereinfachen sollten, nicht durchgehend erfolgreich. Während beispielsweise Malta, Irland und Norwegen Gesetze für juristische Geschlechtswechsel auf der Basis einer schlichten Selbsterklärung erlassen haben, wurden in Deutschland Verhandlungen über Gesetzesentwürfe der Partei Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, die das inzwischen 40 Jahre alte Transsexuellengesetz ablösen sollten, kürzlich abgebrochen. Die Grünen planen für Sommer eine offene Abstimmung, um das Gesetz doch noch durchzubringen. Kernpunkt für das Scheitern war das Beharren der Unionsparteien auf einer Regelung, wo eine Beratung und für Minderjährige eine psychiatrische Begutachtung Bedingung(en) wäre(n). Grüne und FDP hingegen wollten in ihren Gesetzesentwürfen eine vergleichbare Lösung, wie sie nun in der Schweiz kommen wird. Gescheitert sind ähnliche Vorhaben bereits in Schweden und in Grossbritannien. In Schweden war geplant, juristische Geschlechtswechsel bei Minderjährigen ohne Einwilligung der Eltern ab 12 Jahren zu ermöglichen und ab dem Alter von 15 Jahren geschlechtsangleichende Operationen – ebenfalls ohne elterliche Zustimmung. Doch dann brachte die investigative Fernsehsendung «Uppdrag granskning» ans Licht, dass es einen bislang nicht erklärbaren Anstieg bei weiblichen Teenagern unter Behandlungssuchenden und zugleich auch mehr Personen gibt, die die Behandlungsschritte im Nachhinein bereuen. Schliesslich verschwand der schwedische Gesetzesentwurf in der Schublade. In Grossbritannien sollte der Gender Recognition Act von 2004 reformiert werden, worauf Radikalfeministinnen mit vehementem Widerstand reagierten. In der Möglichkeit eines Geschlechtswechsels per Selbsterklärung sahen sie die Gefahr eines Missbrauchs, weil dies beispielsweise Männern, die sich zu Frauen erklären, ermöglicht hätte, Plätze in Frauenräumen zu beanspruchen.
Kritik wird als «rechts» diffamiert
Aus der Sicht des Transaktivismus und seiner Verbündeten sind die Ursachen für das Scheitern vor allem in den seit Jahren bekannten Umtrieben rechtspopulistischer und christlich-fundamentalistischer Netzwerke zu suchen, die gegen «Gendergaga» und «Frühsexualisierung» wettern. Ganz gleich, ob Frauen um ihre Sicherheit fürchten oder medizinisch begründete Bedenken genannt werden – es hat sich im öffentlichen Diskurs bewährt, jegliche Kritik pauschal als «rechts» zu diffamieren, um sich mit ihr in toto nicht befassen zu müssen.
Wesentliche Grundlage hierfür ist ein Paradigmenwechsel, der Transsexualität nicht länger primär als medizinische Frage versteht, sondern als Menschenrechtsbelang. Eingeleitet wurde dies 2007 mit der Veröffentlichung der «Yogyakarta-Prinzipien». In der indonesischen Hauptstadt hatten sich im Vorjahr internationale Menschenrechtsexperten und -expertinnen getroffen, um ein Dokument zu verabschieden, das 29 Prinzipien für die Anwendung internationaler Menschenrechte in bezug auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Vielfalt definierte. In «Prinzip 3» heisst es unter anderem: «Niemand darf als Voraussetzung für die rechtliche Anerkennung seiner geschlechtlichen Identität gezwungen werden, sich medizinischen Behandlungen zu unterziehen, darunter operativen Geschlechtsanpassungen (Sex Reassignment Surgery), Sterilisationen oder Hormonbehandlungen.» Diese Forderung ist grundsätzlich nachvollziehbar, wenn…

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Dieser Artikel ist in Ausgabe 1087 – Juni 2021 erschienen. Er ist nur registrierten, zahlenden Nutzern zugänglich. Vollen Zugang erhalten Sie über unsere attraktiven Online- und Printangebote.
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