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«Menschen sind eher bereit, sich einer künstlichen  Intelligenz zu öffnen als einem Menschen»
Alison Darcy. Bild: 1IMAGE Photography/Bryan Brophy.

«Menschen sind eher bereit, sich einer künstlichen
Intelligenz zu öffnen als einem Menschen»

Alison Darcy hat Woebot gegründet, ein Unternehmen, das Therapie mittels Chatbot anbietet. Sie glaubt, dass künstliche Intelligenz Menschen mit psychischen Problemen ebenso wie Psychologen helfen kann.

Read the English version here.

Alison Darcy, digitale Technologien werden oft für die Entstehung psychischer Probleme verantwortlich gemacht. Sie bestehen jedoch darauf, dass sie auch zu deren Heilung beitragen können. Warum?

Technologie ist ein Teil unserer heutigen Lebensweise. Sie ist ein Werkzeug, das auf schlechte Weise genutzt werden kann. Es gibt bestimmte wirtschaftliche Anreize, die nicht unbedingt mit menschlichem Wohlbefinden in Einklang stehen. Es gibt viele Probleme mit der Technologieabhängigkeit. Doch wir haben die digitalen Werkzeuge nun einmal in unseren Taschen, was auch sehr spannende Möglichkeiten für Hilfe und Unterstützung bietet. Nur weil Technologie in der Vergangenheit missbraucht wurde, heisst das nicht, dass sie nicht auch zum Guten eingesetzt werden kann.

 

Aber Sie haben auch einen wirtschaftlichen Anreiz, dass Leute Ihren Chatbot nutzen.

Viele, die medizinische Geräte und Medizintechnik entwickeln, tun dies, um Geld zu verdienen – so kann die entsprechende Technologie aufrechterhalten werden. Es geht darum, wie das Nutzererlebnis monetarisiert wird. Wir verkaufen Woebot nicht als App für den Direktvertrieb. Stattdessen arbeiten wir mit Gesundheitsdienstleistern zusammen, die für unser Produkt bezahlen und es an ihre Patienten verteilen, wie es der Arzt oder die Ärztin für angemessen hält. Wir müssen hoffen, dass dieses Geschäftsmodell aufgeht.

 

Wie kann man Woebot nutzen?

Woebot kann auf unterschiedliche Weise genutzt werden. Manche nutzen es regelmässig zur allgemeinen Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit, indem sie täglich kurze Gespräche führen. Andere nutzen es in schwierigen Phasen einige Wochen lang intensiv, bis sich die Symptome abgeschwächt haben. Es gibt auch Nutzer, die Woebot in Momenten der Not nutzen, als ob sie ein «Schmerzmittel» für die psychische Gesundheit einnehmen würden. Unser Ziel ist es, Unterstützung zu bieten, die in das Leben von Menschen passt, ohne sie unnötig zu beanspruchen.

Bild: woebothealth.com

Fühlen sich Menschen wohl, wenn sie von einem Algorithmus therapiert werden?

Überraschenderweise ja. Studien haben gezeigt, dass Menschen eher bereit sind, sich einer künstlichen Intelligenz gegenüber zu öffnen und tiefergehende Gespräche zu führen, als wenn sie mit einem Menschen sprechen. Natürlich sind menschliche Beziehungen wichtig, und Woebot wird diese niemals ersetzen. Aber KI kann eine wirksame Soforthilfe bieten, ohne das Stigma oder die Verurteilungen, die oft mit menschlicher Interaktion verbunden sind.

«Natürlich sind menschliche Beziehungen wichtig, und Woebot wird diese niemals ersetzen. Aber KI kann eine wirksame Soforthilfe bieten.»

 

Ich gehe davon aus, dass die Verwendung von Woebot die Bildschirmzeit erhöht. Ist das nicht ein Problem?

Wir konzipieren die Interaktionen mit Woebot so, dass sie kurz sind und in der Regel fünf bis zehn Minuten dauern. Unser Fokus liegt auf der Linderung von Symptomen, und sobald sich ein Nutzer besser fühlt, besteht keine Notwendigkeit, das Gespräch fortzusetzen.

 

Ab welchem Alter kann man anfangen, Woebot zu benutzen?

Im Moment kommt Woebot nur bei Erwachsenen zum Einsatz. Es gibt aber ein paar Pilotprojekte in Spitälern für Jugendliche ab 13 Jahren.

 

Sie betonen oft, wie wichtig der Zugang zu Unterstützung im Bereich der psychischen Gesundheit sei. In den letzten Jahren ist der Zugang zu Therapeuten erleichtert worden, und dennoch haben die Probleme mit der psychischen Gesundheit nicht ab-, sondern zugenommen. Wie erklären Sie sich dieses Paradox?

Über die eigene psychische Gesundheit zu sprechen, wurde so sehr entstigmatisiert, dass wir gerade einen enormen Anstieg von Menschen mit leichten bis mittelschweren Symptomen erleben. Das Problem ist, dass das Gesundheitssystem heute nicht gut darauf ausgelegt ist, zwischen verschiedenen Symptomstufen zu unterscheiden. Man geht davon aus, dass man, wenn man an einem psychischen Problem leidet, direkt zu einem Therapeuten gehen sollte, obwohl das bei vielen Menschen nicht nötig ist. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir diese Menschen mit den Mitteln ausstatten können, die sie brauchen, um schnell wieder gesund zu werden. Wenn sie nicht darauf ansprechen, können wir sie in eine höhere Betreuungsstufe versetzen, anstatt allen gleich die höchste Betreuungsstufe zu erteilen.

 

Sie glauben also nicht, dass wir uns in Sachen psychische Gesundheit in einer Krise befinden?

Doch, wir befinden uns definitiv in einer Krise. Wenn man sich die Daten ansieht, stellt man eine alarmierende Zunahme psychischer Probleme fest, insbesondere bei jungen Menschen. Aber wir stecken vor allem deshalb in einer Krise, weil wir nicht schnell genug mit Innovationen den Bedarf decken konnten.

 

In Ihrem neuen Buch «Bad Therapy» argumentiert Abigail Shrier, dass es bereits zu viele Therapien gebe, insbesondere für Kinder, und dass diese schädliche Auswirkungen haben könnten. Sie schreibt auch kritisch über Apps in diesem Bereich: «Die heranwachsende Generation hat bereits eine Menge Therapie erhalten. Dank der künstlichen Intelligenz könnte aus dem Regenschauer bald eine Sturzflut werden.» Was sagen Sie dazu?

Die Daten belegen nicht die Behauptung, dass Kinder übertherapiert würden, ganz im Gegenteil. Sprechen Sie mit einem beliebigen Therapeuten darüber, wie lang seine Warteliste ist. Ich stimme jedoch absolut zu, dass eine Therapie schädliche Auswirkungen haben kann, und wir sollten uns mit den Problemen des Fachs befassen. Eines davon ist die sogenannte «Forschungs-Praxis-Lücke», was bedeutet, dass das, was wir tatsächlich erforscht haben und von dem wir wissen, dass es wirksam ist, von Klinikern nur selten praktiziert wird. Die Psychologie ist wahrscheinlich der einzige Zweig der Medizin, in dem die Experten mit zunehmender Erfahrung schlechter werden. Wir müssen diese Probleme beheben, und ich glaube, dass Technologie dabei wirklich helfen kann. Unser Ansatz mit Woebot ist systematisch und bleibt der ursprünglichen Konzeptualisierung des Modells treu. Ich denke, das ist eine starke Grundlage, auf die sich bauen lässt.

«Die Psychologie ist wahrscheinlich der einzige Zweig der Medizin, in dem die Experten mit zunehmender Erfahrung schlechter werden.»

 

Wie sehen Sie die Zukunft der KI im Allgemeinen?

Wenn KI dem «Hype-Zyklus» folgt, befinden wir uns jetzt auf dem Höhepunkt des Hypes, wo die Erwartungen sehr hoch sind. Typischerweise werden wir viele Unternehmen scheitern sehen. Mit der Zeit sollten sich die Dinge stabilisieren, und die Hersteller, die Lösungen mit echtem Wert schaffen, sollten sich halten. Aber es ist noch sehr früh, und KI hat schon viele andere Annahmen über Technologie auf den Kopf gestellt, zum Beispiel das Moore’sche Gesetz. Das Tempo des Fortschritts ist im Vergleich zu anderen Technologien atemberaubend hoch.

Das Gespräch wurde am Rande des Europäischen Trendtags des Gottlieb Duttweiler Instituts geführt.

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