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«Meinen Sie das im Ernst?» – «Klar!»

Frank Schäffler ist für weniger Politik, für mehr Marktwirtschaft und eine föderale EU. Cédric Wermuth ist für weniger Markt, mehr Politik und eine Vergemeinschaftung der Union. Ein offenes Gespräch über Europa, Exportwahnsinn und Enteignung.

«Meinen Sie das im Ernst?» – «Klar!»
Frank Schäffler, Cedric Wermuth und René Scheu, photographiert von Michael Wiederstein.

Herr Schäffler, die politischen Eliten Europas klopfen sich täglich gegenseitig auf die Schultern und entscheiden souverän: Das Schlimmste ist jetzt mal überstanden, die EU auf dem Weg zur Besserung. Teilen Sie den neuen europäischen Optimismus?

Schäffler: Ich wäre gerne EU-Optimist, doch besteht dazu leider kein Grund. Die Probleme der Union sind nämlich nicht gelöst, sondern bloss aufgeschoben. Allein die Europäische Zentralbank (EZB) hat in jüngster Zeit für ein bisschen Beruhigung gesorgt, weil sie unkontrolliert Staatsanleihen faktisch bankrotter Staaten aufkauft. Und es gibt immer mehr Länder, die unter diese Schuldenschirme kommen: Zypern, Portugal, Spanien, Irland. Alle wollen an das Geld der anderen. Das war in den letzten Jahren so, und das wird auch dieses Jahr so sein. Besserung ist also nicht in Sicht.

Mir fällt auf: Sie sprechen von Schuldenschirmen, nicht von Rettungsschirmen. Bewusst gewählt oder ein Versehen?

Schäffler: Meine Haltung ist simpel: Ich finde, in Zeiten des Orwellschen Neusprechs muss man selbst auch neue Begriffe prägen. Wer von Rettungsschirm spricht, karikiert die Sache, um die es geht. Denn von Rettung kann keine Rede sein. Der Schirm ist keine Brandmauer, sondern funktioniert vielmehr als Brandbeschleuniger. Immer mehr Länder kommen unter diesen Schirm, immer mehr zählen zu den Geretteten und immer weniger zu den Rettenden. Immer mehr Geschäftsbanken und Empfängerstaaten halten sich an das Credo der neuen europäischen Solidarität: die Gewinne privatisieren und die Verluste zu Lasten der Allgemeinheit sozialisieren.

Herr Wermuth, ich bin ziemlich sicher: Das ist ein Punkt, in dem Sie Herrn Schäffler zustimmen.

Wermuth: Selbstverständlich. Herr Schäfflers Begriff ist nicht schlecht gewählt. Doch scheint mir der Begriff «Umverteilungsschirm» noch einen Tick präziser. Was wir jetzt beobachten können, ist ja nichts anderes als eine Rettung der grossen Vermögen in Europa. Darum geht es doch letztlich: Private Schulden werden auf die öffentliche Hand überwälzt, und diese öffentlichen Schulden werden dann refinanziert durch «Rettungsschirme» oder «Strukturmassnahmen». Ich teile insofern Herrn Schäfflers Kritik. Die EU überträgt ein meiner Ansicht nach katastrophales Modell – nämlich das deutsche – auf die anderen Staaten und versucht unter dem Diktat Deutschlands, Wettbewerbsfähigkeit durch Lohndumping, also durch die Zerstörung sozialer Rechte, zu erreichen. Das wird Europa zu dem machen, was sich in Griechenland schon jetzt beobachten lässt: zu einem Kontinent, in dem die Leute verzweifelt, arm und empfänglich für neue Nationalismen werden. Die faschistische Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung) macht in Griechenland ja bereits Jagd auf Immigranten.

Deutschland als Täter, Griechenland als Opfer? Herr Schäffler, Sie haben sich im Bundestag dafür stark gemacht, dass Deutschland keine Haftung für Schulden anderer europäischer Staaten übernimmt. Für Sie verhält es sich ökonomisch gesehen wohl eher umgekehrt: Deutsche Bürger zahlen für die griechischen.

Schäffler: Absolut. Zuerst einmal: die sozialen Rechte werden im Zuge dieser Krise nicht zerstört. Es ist vielmehr so, dass der exzessive, sogenannte Arbeiterschutz die Arbeit unnötig verteuert und die Arbeitslosigkeit erst schafft, die er eigentlich zu beseitigen vorgibt. Das ist mit ein Grund, weshalb die griechische Wirtschaft nicht besonders produktiv ist. Und ja, es findet natürlich eine gigantische Umverteilung statt, aber anders, als sich dies Herr Wermuth vorstellt: Es sind die deutschen Arbeiter, die für die griechischen bezahlen. Und die Frage ist doch: Warum sollten sie dies tun? Zudem möchte ich daran erinnern, dass nicht nur eine rechtsradikale Partei ins griechische Parlament gewählt wurde, sondern auch eine linksradikale. Syriza (Vereinte Soziale Front) ist die zweitstärkste, Chrysi Avgi die sechststärkste Partei. Im Kern findet also eine Stärkung der politischen Ränder statt. Immer dann, wenn die Marktwirtschaft abgeschafft wird, wenn also die Politik willkürlich entscheidet, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern gehört, bröckeln die Fundamente der Demokratie. Genau das ist es, was sich gegenwärtig in Griechenland beobachten lässt.

Wermuth: Das Lustige ist doch: 2007/08 gab es den Aufschrei: «Diese Eliten sind alle korrupt und müssen weg!» Dann kam Syriza, die «linksextreme» Partei, wie Sie sie nennen, in Wahrheit eine sozialdemokratische Partei, die das Land sozial reformieren will, und plötzlich hat sich die Stimmung in Europa wieder gewandelt: «Ah, nein, wir hätten doch lieber wieder die korrupten Eliten von vorher.» Die sind wieder da, und mit denen soll die Welt jetzt besser werden. Das ist doch absurd.

Schäffler: Sie werden es nicht glauben, Herr Wermuth, aber ich habe damals gebetet, dass Syriza gewinnt. Ich war ein grosser Unterstützer der linksextremen Partei.

Wie das?

Schäffler: Die sind wenigstens ehrlich. Da hat Herr Wermuth recht. Sie haben angekündigt, dass sie sich nicht an die von der EU befohlenen Sparmassnahmen halten werden – sie empfinden das als Kolonialismus. Das wäre dann die Stunde der Wahrheit in Europa gewesen, dann hätten sich die Eurokraten entscheiden müssen, ob Griechenland pleitegeht oder nicht. Pasok, die weniger extreme sozialistische Schwesterpartei, hat das Land über Jahre hinweg ebenso heruntergewirtschaftet wie die konservative Nea Dimokratia. Und jetzt ist das im Kern eine verlogene Veranstaltung, die da stattfindet. Klar ist, dass Griechenland keine Chance hat, mit dem Euro wettbewerbsfähig zu werden. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

So viel Gemeinsamkeit hätte ich nicht erwartet. Herr Wermuth, beobachten Sie ebenfalls mit Sorge, wie die Marktwirtschaft in Europa ausgehebelt wird?

Wermuth: Ich nehme es zur Kenntnis, aber das stört mich als Sozialisten nicht im geringsten. Ich finde, dass der Staat viel stärker
intervenieren müsste. Die Frage ist doch: Was stand am Anfang dieser Krise? Da steht eine gigantische zweidimensionale Umverteilung, die wir in Europa erlebt haben und noch immer erleben. Einerseits die Umverteilung von unten nach oben in ganz hohe Vermögen und Kriegskassen von Unternehmen, die dann spekulativ verwertet werden, weil sie in der Realwirtschaft gar nicht mehr produktiv angelegt werden können. Und andererseits eine Umverteilung zwischen Zentrum und Peripherie: auf der einen Seite das Kreditwachstum der Griechen, auf der anderen Seite der Exportwahnsinn der Deutschen, auf der einen Seite Verschuldung, auf der anderen Seite eine Aushöhlung der sozialen Rechte, auf der einen Seite Deindustrialisierung, auf der anderen Seite Lohndumping. Daran krankt Europa bis heute. Wenn wir in Südeuropa in den letzten Jahren Löhne gehabt haben, die, was weiss ich, 20, 30 Prozent gestiegen sind, und in Deutschland die Löhne teilweise sogar real zurückgegangen sind, dann begreift man: Die Krise ist kein Zufall, sondern politisch gewollt. Deutschland hat sich so neue Absatzmärkte erschlossen. Was mir Sorgen macht, ist die Eigentumskonzentration in einzelnen Ländern, aber auch in einzelnen Händen von Unternehmen und Privatpersonen. Wir brauchen uns nur mal anzusehen, wie sich die Vermögen parallel zu den Schulden der Staaten entwickelt haben. Dann sehen wir, dass die Schuldpapiere von den Vermögenden gehalten werden, und die erpressen nun die Staaten. Wir brauchen darum endlich eine echte Umverteilung der Vermögen, natürlich eine demokratisch legitimierte.

Schäffler: Nun ja. Diese Meinung teile ich jetzt gar nicht.

Das ist sehr vornehm formuliert, Herr Schäffler, um Himmels willen. Halten Sie mit voller Kraft dagegen!

Schäffler: Ich muss Herrn Wermuth korrigieren. Zum einen werden viele dieser Schulden nicht von den Reichen gehalten, sondern von den Bürgern und Steuerzahlern über ihre Vorsorgeeinrichtungen, die in Staatsanleihen investiert haben, weil die so lange als so sicher galten und die Staaten dies so vorschreiben. Und ich kann Ihnen sagen: da kommt noch einiges auf uns zu. Und zweitens: das Auseinanderfallen der grossen Vermögen der realwirtschaftlichen Welt hat aus meiner Sicht allein mit unserem Geldsystem zu tun. Die Geschäftsbanken kaufen Staatsschulden mit Gratisgeld der Zentralbanken, und die Staaten erlauben ihnen, Staatspapiere als Sicherheiten zu hinterlegen, um neues Geld zu bekommen. In der Realwirtschaft kommt aber dieses Geld nie an. Jene, die zuerst das Geld verteilen und zuerst in Vermögenswerte investieren – das sind der Staat und die Geschäftsbanken mit Zugang zum Tresen der Zentralbanken –, profitieren zugleich von deren Anstieg. Sie investieren also so lange, bis die Blase platzt. Und jene, die am Ende der Geldkette stehen, also die normalen Bürger, die Unternehmer, die Mittelständler, die tragen die Lasten, denn das Geld – da hat Herr Wermuth recht – verliert an Kaufkraft. Das nennt sich Inflation – und bedeutet stille Enteignung.

Das ist eine Diagnose, die viele unserer Autoren teilen. Was ist die Konsequenz?

Schäffler: Geschäftsbanken und Staaten werden voneinander abhängig. Sie helfen einander, greifen einander unter die Arme, wenn es kritisch wird. Da Staaten grosse Banken nicht pleitegehen lassen, gibt es keine Korrektur. Auf die Konzentration im Bankensektor reagiert der Staat mit mehr Regulierung, so dass die Banken anschliessend weiterfusionieren, weil die kleinen Finanzinstitute es nicht mehr schaffen, diese Bürokratie abzubilden. Das heisst, der Staat schafft durch dieses Modell eine korporatistische Staatswirtschaft, und das führt am Ende dazu, dass die Marktwirtschaft, die auf Wettbewerb basiert, sukzessive abgeschafft wird. Wir kommen so in ein System hinein, das jenem der 1920er, 1930er Jahre ähnelt, wo es immer grössere Konglomerate gab: Die Grossen können irgendwann fast beliebig auf die Politik einwirken, so dass die Gesetze letztendlich unter deren Einfluss stehen.

Das wäre dann – um die Rhetorik der 68er zu verwenden – das Zusammengehen von Big Business und Big Government. Könnte man diese Entwicklung so zusammenfassen? Wie sehen Sie das, Herr Wermuth?

Wermuth: Phantastisch, ich bin in vielem mit Kollege Schäffler einverstanden. Wir sind sicher in einer neuen Form des Staatskapitalismus angelangt. In der Schweiz sehen wir das, wenn wir die Personen betrachten: Wir haben eine verkoppelte Elite von Politik und Finanz, die den Schwarzen Peter hin und her schiebt und auch die Pfründe unter ihresgleichen verteilt. Der Unterschied beispielsweise zu Roosevelts New Deal ist, dass es damals in den USA zumindest einen Ausgleich über eine sehr harte Vermögens- und Einkommensbesteuerung gab. Dieses Verfahren hat man in den letzten 30 Jahren in Europa abgeschafft. Darum gibt es auch keine Möglichkeit, diese Blase irgendwie zu korrigieren.

Herr Wermuth, Ihr Feindbild sind die Vermögenden. Erlauben Sie eine prinzipielle Frage. Vermögen zu bilden ist doch ein erstrebenswertes Ziel, wenn es auf Leistung beruht und jeder die Möglichkeit hat, das durch persönliches Engagement zu tun. Die Vermögensbildung ist dann und nur dann problematisch, wenn sie auf gesetzlicher Privilegierung beruht, zum Beispiel auf der Privilegierung im Zugang zu Geld – so wie Herr Schäffler das geschildert hat. So gesehen, wäre die Lösung eigentlich aus sozialdemokratischer Sicht klar: nicht umverteilen, sondern Privilegien abschaffen.

Wermuth: Das sehe ich anders. Die Vermögensanhäufung, und damit sind wir dann beim Kern der Sache, ist ein prinzipielles Pro­blem. Die Wachstumsraten brechen in Europa in dem Moment ein, in dem wir zulassen, dass die soziale Schere auseinandergeht. Ökonomische Ungleichheit führt zu sozialer Unrast, das zeigt ein Blick auf das 20. Jahrhundert.

Ökonomische Ungleichheit ist an sich nichts Verwerfliches, sofern freie Entscheidungen von Menschen und nicht Zwang bzw. Privilegierung dazu geführt haben. Nur wenn sie auf letzterem beruht, trägt sie auch zur sozialen Unrast bei. Aber ich verstehe natürlich Ihren Punkt: Materielle Gleichheit ist ein zentrales sozialistisches Postulat, das Sie unabhängig von der wirtschaftlichen Konjunktur einfordern.

Wermuth: Wir brauchen mehr ökonomische Gleichheit. Vermögenskonzentration ist an sich gefährlich und noch gefährlicher, wenn Vermögen aus dem Nichts geschaffen werden. So werden Blasen geschaffen. Die Blasen platzen. Und die einfachen Leute, die von all dem nichts verstehen, zahlen den Preis.

Schäffler: Den letzten Satz kann ich unterschreiben. Aber sonst? Schauen Sie, Herr Wermuth: Per se sind Vermögensunterschiede nicht schädlich, sondern sogar notwendig, damit es auch Anreize gibt, in langfristige Projekte und Innovation zu investieren, als Unternehmer aktiv zu werden, Arbeitsplätze zu schaffen, ja Kapital zu bilden, das wieder an anderen Orten eingesetzt werden kann. Das ist eine notwendige Voraussetzung eines marktwirtschaftlichen Systems. Ein Problem entsteht dann, wenn diese Vermögensbildung durch die Geldpolitik verzerrt, wenn der Zins von der Notenbank manipuliert wird, wie es jetzt weltweit gemacht wird. So verliert der Zins seine Lenkungsfunktion, so dass sich plötzlich Investitionen zu lohnen scheinen, die sich unter normalen Umständen nie gelohnt hätten. Das sieht man am Immobilienmarkt in der Schweiz, in Berlin, man sieht es an den Aktienmärkten.

Verstehe ich Sie richtig? Das System, das Sie schildern, ist unser System. Hier und jetzt. Wir leben also bereits in einer Art der monetären Planwirtschaft.

Schäffler: So ist es. Politik will immer kurzfristig agieren und helfen. Da bietet es sich natürlich an, so zu tun, als ob man Konjunktur über Geldpolitik und konjunkturelle Stimulanzien anregen könnte. Aber diese Zeit ist vorbei. Das funktioniert nicht mehr, was man jetzt in der Eurokrise merkt: Die können die Zinsen noch so niedrig ansetzen, das hilft nichts. Die reine Menge an Geld führt eben nicht mehr dazu, dass es über Kreditvergabe in der Realwirtschaft landet. Es dreht seine Runden irgendwo im virtuellen Bereich und hilft den Privilegierten. Das ist leider die Politik, die wir zurzeit weltweit betreiben.

Wermuth: Wiederum teile ich einen Teil der Einschätzung – natürlich nicht den letzten Satz. Es ist doch in der Tat absurd, wenn die Leute heute von Inflationsgefahren sprechen. Inflation entsteht ja nur, wenn sich eine Nachfrage nach Kapital feststellen lässt oder eine Steigerung der Lohnstückkosten. Das ist heute definitiv nicht der Fall. Das Geld kommt nie in der Realwirtschaft an. Es verschwindet. Und genau da liegt das Problem. Eine Lösung bestünde darin, die Unabhängigkeit der Zentralbank ganz abzuschaffen und die Geldpolitik zu verstaatlichen…

Schäffler: Der Punkt ist ja gerade, dass dies längst passiert ist! Wir brauchen weniger, nicht mehr Politisierung des Geldes.

Wermuth: Formaljuristisch sind die Zentralbanken noch unabhängig, aber sie verletzen ihr Mandat. Das sehe ich auch gleich wie Sie, Herr Schäffler. Nur stört mich die Verletzung des Mandates ein bisschen weniger als Sie. Aber es wäre sinnvoller, wenn die EZB die Nachfrage direkt ankurbeln könnte – ohne Umweg über die Finanzmärkte – und stattdessen direktstaatliche Investitionsprogramme finanzieren könnte. Wir haben heute in ganz Europa das Problem, dass es an Investitionssicherheit fehlt. Es gibt keine Anreize, langfristig zu investieren, und dann muss der Staat diese Lücke eben kompensieren. Das heisst, der Staat muss die Nachfrage schaffen.

Schäffler: Diese Vorstellung halte ich ehrlich gesagt für total absurd. Das Ergebnis der Politik der EU in den letzten zehn, zwanzig Jahren zeigt sich heute: Griechenland hat, seit es 1981 der Union beitrat, 120 Milliarden an Subventionen und Transfers erhalten. Davon hat Deutschland rund die Hälfte bezahlt. Wenn man die Industrieproduktion Griechenlands betrachtet, ist sie niedriger als vor der Euroeinführung. Das ist in Portugal so. Das ist in Spanien so. Was heisst das? Es heisst, dass diese ganzen Stimulanzien nichts gebracht haben. Das sind verschwendete öffentliche Mittel. Keiner hat das kontrolliert. Weil das so weit weg ist, kann das auch keiner kontrollieren. Brüssel verteilt das Geld in Europa aus der Ferne nach dem Gutsherrenprinzip. Dabei entstehen Korruption und alles Mögliche, aber keine Arbeitsplätze. Arbeitsplätze setzen voraus, dass es ein funktionierendes Eigentumsrecht gibt, dass es Vertragsfreiheit gibt, dass es eine vernünftige Bürokratie gibt, und das ist tausendmal wichtiger als irgendwelche Subventionen…

Wermuth: Also, Moment: Arbeitsplätze werden ja nicht geschaffen, sondern Arbeit wird eingekauft. Da besteht eine fundamentale Differenz. Das ist ja nur der eine Teil der Geschichte, den Sie erzählt haben. Der andere Teil sind die inzwischen 2 Billionen Euro Aussenhandelsüberschuss Deutschlands in den letzten zehn Jahren. Auch diese Gelder wurden zum grössten Teil direkt aus der Peripherie wieder zurück ins Zentrum geleistet. Dass die deutsche Regierung heute auf der Erfüllung der Rüstungsaufträge der griechischen Armee besteht, ist ja wohl kein Zufall. Man weiss schon, wer Deutschlands Exportwunder in den letzten Jahren finanziert hat.

[Schäffler lacht laut auf.]

Wermuth: Doch, das meine ich ernst.

Schäffler: Sie wollen sagen, dass die griechischen Konsumenten das Leben der Deutschen grosszügigerweise durch eigene Verschuldung finanziert haben?

Wermuth: Genau. Und das schlägt jetzt zurück.

Schäffler: Deutschland hat seinen Exportanteil in die Eurozone in den Jahren des Euros reduziert, zumindest relativ. Die deutsche Wirtschaft hat im Wesentlichen nach Amerika, in die ehemaligen Ostblockstaaten und nach China geliefert. Deutschland ist von allen 17 Eurostaaten am wenigsten abhängig von der Eurozone. Zu sagen, dass wir von ihr profitieren, ist schlicht falsch.

Kommen wir nochmals auf eine allgemeinere Ebene zurück. Es hat sich eine politische Rhetorik der Alternativlosigkeit eta­bliert. Diese funktioniert nach dem Muster: Ohne Euro keine EU; ohne Griechenland keinen Euro. Ergo: ohne Griechenland keine EU. Ich denke, da ist so ziemlich alles falsch daran, was falsch sein kann, aber das ist der herrschende Diskurs. Wie sehen Sie das, Herr Schäffler?

Schäffler: Deutschland ist in dieser europäischen Gemengelage besoffen von seiner Geschichte. Wir sind eigentlich verklemmt in dieser Diskussion. Wir ordnen alles dieser Heilsbringung der Eurozentralisierung unter. Alle anderen ziehen uns über den Tisch, aber wir finden das trotzdem europäisch und beklatschen es noch. Also befinden wir uns auf dem Weg in den europäischen Zentralismus, in den europäischen Superstaat. Man will nicht mehr die Währungsstabilität sichern, sondern die territoriale Einheit dieses Währungsgebietes erhalten. Das führt unter dem Strich dazu, dass die EU jetzt so absurde Rettungsmassnahmen ergreift wie jene in Zypern: Eine halbe Insel, von der keiner abhauen kann und deren grösste Bank so klein ist wie die Hamburger Sparkasse, wird mit Milliarden gerettet, also subventioniert. Da geht es nicht mehr um die Stabilität der Währung, sondern um das Währungsgebiet. Man will jetzt vollendete Tatsachen schaffen. Man schafft es demokratisch nicht, diesen europäischen Superstaat durchzusetzen, also tut man das hintenrum.  

Wer ist «man»?

Schäffler: Alle politischen Handelnden in der EU – nur die Schweizer machen nicht mit…

[Gelächter im Publikum.]

Alle deutschen Parteien unterstützen die europäische Zentralisierung – ausser Die Linke. Herr Schäffler, hat der kritische Bürger also keine andere Wahl, als Wagenknecht & Co. zu wählen?

Schäffler: Na ja, so weit würde ich jetzt nicht gehen. Ich habe ja vor gut einem Jahr einen Mitgliederentscheid in meiner Partei gegen diese angebliche Rettungspolitik angestrengt, was letztlich an 2000 Mitgliedern gescheitert ist. Und wenn jetzt 2000 Mitglieder in die FDP eintreten, dann kippen wir diesen Laden und sorgen dafür, dass die europäische Politik verändert wird. Das ist durchaus möglich, es braucht nur einen langen Atem. 

[Scheu blickt zu Wermuth.] 

Wermuth: Nein, ich trete nicht ein.

Schäffler: (lacht) Wir haben auch ein paar Linke bei uns.

Wermuth: Sehr gut. Ich bleibe trotzdem lieber ein echter Sozialdemokrat.

Ich habe mir ein schönes EU-Zitat rausgesucht, Herr Wermuth, von einem Ihrer Genossen. Er heisst Martin Schulz, ist Präsident des Europäischen Parlaments, ist Vizepräsident der Sozialistischen Internationalen und hat jüngst gesagt: «Wäre die EU ein Staat und würde einen Antrag zum Beitritt in die EU stellen, dann würde der Antrag abgelehnt. Mangels demokratischer Substanz.»

Wermuth: Das ist absolut richtig. Europa war von Anfang an ein Elitenprojekt. Da sind wir uns völlig einig. Ich beobachte jedoch trotz allem eine positive Entwicklung: Die Krise hat ein extrem kreatives Potential freigelegt, auch in der Schweiz. Wir haben in der Schweiz noch nie so oft über Europa diskutiert, wie wir es jetzt in der Krise tun. Es gibt erstmals so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit. Ich meine: Wer hat sich je schon für griechische Wahlen interessiert? Das ist für mich zumindest ein gewisser Hoffnungsschimmer, dass Europa in diese Richtung aufgebaut werden könnte. Entweder Europa wird demokratisch sein – oder es wird nicht sein.

Sie reden von Demokratie, aber die Bevölkerung haben Sie bisher mit keinem Wort erwähnt.

Wermuth: Zuerst einmal brauchen wir ein Europäisches Parlament, das wirklich etwas zu entscheiden hat. Und wir brauchen selbstverständlich eine europäische Steuerkompetenz, wir brauchen europäische Kompetenzen in der Wirtschaftspolitik, eine europäische Kompetenz in der Sozialpolitik. Dann spielt Europa auch eine Rolle. Heute ist Europa ja nur für die undemokratischen
Momente zuständig…

…das ist doch allein dann zulässig, wenn die Bevölkerung dem zustimmt. Oder soll man es von oben installieren und das Volk vor vollendete Tatsachen stellen?

Wermuth: Nein, dieser Impuls muss von unten kommen. Das ist das Schwierige an der jetzigen Situation. In einer Situation, in der meines Erachtens der Weg nur über Europa gehen kann, findet eine Renationalisierung der Politik aus Angst vor der Krise statt. Das ist ein historisches Paradox, das wir immer wieder antreffen. Da gibt es keine einfachen Auswege.

Schäffler: Demokratie heisst «one man, one vote». Jetzt repräsentiert ein deutscher Wähler nur einen Bruchteil dessen, was ein luxemburgischer oder maltesischer Wähler repräsentiert, und das muss man fundamental ändern. Ich glaube auch, die EU hat im Wesentlichen strukturelle Probleme. Sie ist deshalb nicht demokratisch und neigt zu Zentralismus, weil die Strukturen einfach so angelegt sind. Zum Beispiel gibt es auf europäischer Ebene nur eine Institution, die über Gesetzgebungsinitiative verfügt, und das ist die Kommission. Dieses Recht wird von ihr ständig missbraucht. Sie regelt alles im Rahmen der Verträge und legt diese Verträge aus, wie sie will. Das ist das erste, das man ändern müsste.

Die EU profiliert sich gerade als eine Art eigener Machtblock, der Regeln diktiert. Das ist ja okay, wenn es um die Mitgliedschaft im Club geht. Der Club kann sagen: «Wenn du mitmachen willst, sind das die Regeln. Take it or leave it.» Aber die EU tritt auch aggressiver gegenüber Ländern auf, die nicht zum Club gehören und auch nicht zum Club gehören wollen, zum Beispiel gegenüber der Schweiz. Herr Wermuth, wie soll die Schweiz mit diesen machtpolitischen Avancen umgehen?

Wermuth: Ich muss ein Missverständnis ausräumen: Ich vertrete nicht die Schweiz. Ich habe mich auch nie als Standortpolitiker verstanden. Ich bin Sozialdemokrat, und da liegt mir Europa genauso nahe wie die Schweiz. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie ein nationales Interesse der Schweiz gibt. Aus meinem Jahr der klassischen Parlamentstätigkeit kann ich sagen: Bei 40 bis 60 Prozent der Vorlagen können wir im Parlament weder ja noch nein sagen. Wir können nur zur Kenntnis nehmen, dass wir copypasten, was in Brüssel entschieden wurde. Die Demokratie wird in diesem Land heute ganz real durch die Abstinenz ausgehöhlt. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der wir massiv profitiert haben. Das war nach dem EWR-Nein durch den sogenannten «bilateralen Weg». Aber diese Zeit ist vorbei. Das merken langsam alle. Das Verheerende in der Schweizer Politik ist, dass die bürgerliche Mehrheit immer die allgemeine Strategie fährt: «Augen zu und durch», bis sich irgendwann alle die Nase an der Wand wundgeschlagen haben. So warʼs beim Bankgeheimnis, und so wird es bei der Unternehmensbesteuerung sein.

Sollten wir also, wie die SVP fordert, am besten gleich die bilateralen Verträge kündigen?

Wermuth: Ja gut, wir können die Verträge schon kündigen. Ich bitte einfach zu bedenken, dass zwei Drittel der Einnahmen, die unsere Volkswirtschaft generiert, aus dem Handel mit der EU stammen.

Schäffler: Die Schweiz muss selbstbewusster auftreten! Es geht hier um ein Geben und Nehmen. Die EU ist ja auch ganz massiv von der Schweiz abhängig, wirtschaftlich, aber auch, was die Verkehrswege betrifft. Die Schweiz macht sich gerne ganz klein, bis man sie fast nicht mehr sieht. Realistischerweise kann es sich die EU gar nicht leisten, die Verträge zu kündigen. Das wird sie auch nicht tun. Nur die Schweizer glauben, dass die EU einen Schritt machen würde, der deren eigenen Interessen zuwiderläuft.

Wermuth: Einspruch. Die Schweiz hat in den Verhandlungen über das Steuerabkommen mit Deutschland versucht, einen selbstbewussten Auftritt hinzulegen. Grandioser scheitern kann man fast nicht. Zu Recht, wie ich finde. In den Streitpunkten, die wir jetzt konkret mit der EU haben, ist die Schweizer Politik auch aus der Sicht eines Liberalen schlicht nicht haltbar. Was wir zum Beispiel in den Steuerprivilegien für die Domizilgesellschaften machen, wonach Auslandsgewinne tiefer besteuert werden als Gewinne im Inland, das ist sogar gegenüber der eigenen Wirtschaft eine absolut idiotische Dumpingstrategie.

Die einzige liberale Antwort ist doch: Kantone dieser Schweiz, vereinigt euch und senkt alle die Unternehmenssteuern!

Wermuth: Liberal vielleicht, aber nicht richtig. Die einzige richtige Antwort bestünde darin, die Unternehmenssteuern zu nationalisieren und sie dann anzuheben auf mindestens 25 Prozent schweizweit.

Meinen Sie das im Ernst?

Wermuth: Klar. Oder wir führen die Kapitalgewinnsteuer ein, das ist die andere Variante. Die Unternehmenssteuern, die wir teilweise heute für Domizilgesellschaften haben, bewegen sich im einstelligen Prozentbereich. Glencore hat im letzten oder vorletzten Bericht angegeben, dass das Unternehmen faktisch bloss 7 oder 8 Prozent Steuern zahlt.

Wunderbar! Alle Unternehmen sollten maximal 7 oder 8 Prozent Steuern zahlen.

Wermuth: (lacht) Dann können wir aber die staatlichen Dienstleistungen streichen. Eigentlich wollte ich etwas anderes sagen… 

…ich weiss…

Schäffler: …mit Verlaub: alle eben diskutierten Varianten wären in Deutschland schon ein Beitrag zur Besserung! (lacht)

Herr Wermuth würde also mit seiner Forderung von 25 Prozent zu den Liberalen zählen?

Schäffler: Absolut. Was hier zum Sozialisten qualifiziert, würde in Deutschland von allen Seiten als «zu neoliberal» abgestraft. Sie sagten das ja eingangs schon: Hätte die EU die Probleme der Schweiz, uns allen ginge es gut… (lacht)

 

 

Das ist die leicht gekürzte Wiedergabe eines Streitgesprächs, das am 28. Januar 2013 im Zunfthaus zur Waag auf Einladung dieses Magazins stattfand. Mehr zu weiteren Debattenveranstaltungen unter: www.schweizermonat.ch

 

 

Frank Schäffler contra Cédric Wermuth

Am letzten «Monat»-Debattenabend sind der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler und der SP-Nationalrat Cédric Wermuth vor einem gebannt lauschenden Publikum im Zunfthaus zur Waag aufeinandergetroffen. Es war ein Schlagabtausch auf hohem Niveau, den wir für alle unsere Leser auf diesen Seiten dokumentieren. 

Schäffler hat Bekanntheit weit über die deutschen Grenzen hinaus erlangt – er ist jener unbequeme Geist, der gegen alle möglichen europäischen Rettungsschirme gestimmt hat. Er setzt sich ein für die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien, für eine Überwindung des Softsozialismus, für Privatinitiative und echte Marktwirtschaft. Wermuth ist für mehr Politik, letztlich für eine Politisierung des ganzen Lebens, für eine Überwindung des Kapitalismus durch einen neuen demokratischen Sozialismus. Der eine will, wenn überhaupt, eine EU nach helvetischem Vorbild, der andere will die Schweiz in die EU führen. 

Und dennoch – die beiden haben auch vieles gemeinsam. Zunächst einmal sind beide profilierte Autoren dieses Magazins. Beide reden nicht um den heissen Brei herum. Beide sind Stehaufmännchen. Beide sind Aussenseiter in ihrer Partei. Beide lieben die Auseinandersetzung. Und beide setzen sich für die «Freiheit» ein – auch wenn sie etwas je völlig anderes darunter verstehen. 

Schäffler hat die Marxistin Sahra Wagenknecht für ihre luzide Analyse der Finanzkrise gelobt, jedoch zugleich vor ihren Konklusionen gewarnt – Verstaatlichung der Banken und Vergemeinschaftung der Schulden («Monat», Ausgabe 1002). Wermuth beklagt, dass es kaum mehr echte bürgerliche Politiker gebe, sondern bloss noch «sogenannt Bürgerliche», die prinzi­pienlos ihren eigenen Vorteil verfolgen («Monat», Ausgabe 997). 

Der Abend hat Spass gemacht. Und wir haben den Narren gefressen am neuen Format. Das ist wie Kino. Darum, für all jene, die unsere Debattenabende künftig live miterleben wollen: Abonnieren Sie unseren Newsletter, um stets informiert zu sein. Oder schreiben Sie mir eine E-mail an rene.scheu@schweizermonat.ch.

René Scheu

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