Mein Vater geht jeden Tag vier Mal die Treppe hinauf und herunter
Geborgen – wo? Mag sein, dass manches von dem, was Francesco Micieli in seinen neun kurzen «Texten zu Sprache und Heimat» sagt, so oder so ähnlich schon einmal gesagt worden ist. Aber es ist kaum jemals so überzeugend und vor allem so schön gesagt worden. Und ausserdem, das ist die individuelle Note dabei, lernt man […]
Geborgen – wo?
Mag sein, dass manches von dem, was Francesco Micieli in seinen neun kurzen «Texten zu Sprache und Heimat» sagt, so oder so ähnlich schon einmal gesagt worden ist. Aber es ist kaum jemals so überzeugend und vor allem so schön gesagt worden. Und ausserdem, das ist die individuelle Note dabei, lernt man hier einen feinsinnigen Schweizer Schriftsteller und den in ihm pochenden Antrieb zum literarischen Schreiben genauer kennen. 1956 in Süditalien geboren, anfangs zwischen der italienischen und der albanischen Sprache aufgewachsen, seit 1965 in Lützelflüh, Burgdorf und Bern mehr oder minder heimisch, ist der Schauspieler, Theaterregisseur und Dichter, der auch als Dozent an der «Schule für Gestaltung» in Bern und Biel wirkt, im Laufe der Jahre für sein bisheriges literarisches Schaffen vielfach ausgezeichnet. Wer seine seit 1986 angewachsene «Trilogie einer Emigration» oder sein 2006 erschienenes Werk «Am Strand ein Buch» gelesen hat, wird unschwer feststellen, wie genau die nicht durchgängig neuen, jetzt aber in einer sehr durchdachten Reihenfolge neu präsentierten «Texte zu Sprache und Heimat» dem literarischen Werk Micielis entsprechen – und dass sie diesem eine empfindsame und luzide Poetik des Schreibens in der Fremde hinzufügen.
«Warum schreibst du nicht über ein anderes Thema?» heisst die programmatisch an erster Stelle stehende Reflexion, und man merkt gleich, dass Micieli diese Frage schon mehr als einmal hat hören müssen. Während ein Krimiautor kaum jemals gefragt wird, warum er ständig Krimis schreibe und darin immer den gleichen Kommissar auftreten lasse, erscheint es vielen Zeitgenossen noch immer merkwürdig, dass ein Autor mit fremdem Namen andauernd das Fremde und das Fremdsein schreibend umkreist. Dabei sei die Antwort recht einfach, meint Micieli: Es gebe bekanntlich im Leben Momente, in denen man nicht mehr weiterwisse – und der Mensch als historisches Wesen könne nun einmal nur dann vorwärts gehen, wenn er seine eigene Geschichte kenne und ihr immer wieder nachsinne. Womit er sein Thema habe – und das Thema natürlich auch ihn. Ganz wichtig dabei: die Sprache. «Die Grenzen unserer Sprache, / die Grenzen unserer Welt», heisst es in einem schönen Text, in dessen Titel ein mehrdeutiges Semikolon auffällt: «Mutter; Sprache». Der Vater, der seit 40 Jahren in der Schweiz lebt und seit 40 Jahren mit seiner Familie nach Italien zurückkehren möchte, spreche gebrochen Italienisch und gebrochen Deutsch, erfährt man in dem der Sammlung ihren Titel gebenden Text. «Gebrochen. Seine Sprache ist kein richtiges Werkzeug und keine Waffe. Ein Existenzminimum … Vaters Sprache war die Arbeit.»
Der Sohn, der schon als kleiner Bub erfahren musste, dass man Wörter und Sprache auch verlieren kann – «Wörter sind mir aus der Hosentasche gefallen und ich habe sie nie mehr gefunden» heisst eine anrührende autobiographische Skizze in diesem Buch –, dieser Sohn wollte es anders machen. In der überaus eindrücklichen Geschichte «Ich habe mich lügend in die (bern-)deutsche Sprache gestohlen» wird sinnfällig, was für eine fundamentale Verletzung Sprachbrüche und Sprachwechsel für einen sich nach Zugehörigkeit sehnenden Heranwachsenden bedeuten können: «Ich fühlte mich zum Kleinkind degradiert. Nach dem ersten Salü begann ich langsam das Schweigen zu brechen … Ich verlor so meine Eltern.» Wie aus diesem «Sprach-Arlecchino», dessen Sprach-Kleid «ein buntes Gemisch aus Sprach-Stoff-Fetzen» war, ein fast echter Emmentaler wurde – mit den Worten des Autors: ein «Ämmitaliäner» –, legt ein Essay dar, den man auch als kultur- und sozialgeschichtliche Fundgrube auffassen kann und dessen vorläufiges Fazit lautet: «Die Schweiz hat sich verändert. Sie ist italienischer geworden … Die Angst vor dem Fremden ist aber geblieben. Es sind jetzt andere.»
2002 hat Francesco Micieli den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis bekommen und sich mit einer eindrucksvollen Rede dafür bedankt, die ebenfalls im hier vorgestellten Buch zu finden ist. Den Schriftsteller bezeichnet er dort als «den Fremden schlechthin», und er fragt sich: «Ist die Sprache meine Heimat geworden, wie ich manchmal hochtrabend behaupte; oder ist die Suche nach Heimat zu meiner Sprache geworden?» Eine Antwort darauf gibt er nicht, und das ist beruhigend, vielleicht weniger für ihn als vielmehr für seine Leser. Denn die Frage wird ihn weiter an- und umtreiben. Und von diesem bemerkenswerten Schweizer Dichter, dessen so kleine wie feine Textsammlung unbedingt empfehlenswert ist, möchte man gerne noch viel mehr lesen.
vorgestellt von Klaus Hübner, München
Francesco Micieli: «Mein Vater geht jeden Tag vier Mal die Treppe hinauf und herunter. Texte zu Sprache und Heimat». Biel: die brotsuppe, 2007.