«Mein Reich ist nicht von dieser Welt»
Christen können freier auftreten, wenn sie sich weniger an den Staat binden. Eine evangelikale Sicht.
Im Unterschied zu den etablierten Volkskirchen haben evangelikal-freikirchliche Christen einen durchaus ambivalenten Blick auf das traditionell gute Verhältnis von Kirche und Staat. Als mehrfache Opfer einer unguten weltanschaulichen Koalition des Staates und der Volkskirchen haben sie deren problematische Aspekte hautnah kennengelernt. In der Reformation haben Vertreter der Kirchen Druck auf staatliche Stellen ausgeübt, die bereitwillig den Absolutheitsanspruch der jeweiligen Kantonalkirche verteidigten. Dabei wurden im 16. Jahrhundert auch in der Schweiz nicht wenige Täufer und Mennoniten ermordet. Ein bekanntes Beispiel ist die Hinrichtung von Felix Manz 1527 durch Ertränken in der Limmat.
Evangelikale Freikirchen sehen sich in der Tradition der Waldenser des 12. Jahrhunderts und der Mennoniten des 16. Jahrhunderts, die in ihrer Entstehungszeit einer starken staatlichen und kirchlichen Verfolgung ausgesetzt waren. Auch bei der Ausbreitung der klassischen Freikirchen in der Schweiz und in Deutschland im 19. Jahrhundert schlug ihnen stellenweise grosses Misstrauen entgegen. Von der reformierten und der katholischen Kirche wurden sie oftmals als unliebsame Konkurrenz bekämpft: Staatliche Stellen misstrauten ihnen aufgrund ihrer flexiblen und wenig überschaubaren Strukturen. Nicht selten wurden freikirchliche Christen verhaftet und wegen nicht sanktionierter religiöser Versammlungen ins Gefängnis gesteckt. In der Schweiz traf das beispielsweise auf die Mitglieder der Heilsarmee zu, die über viele Jahre mit kantonalen Gesetzen und kirchlicher Propaganda bekämpft wurden.
«Auch als Staatsbürger ist der freikirchliche Gläubige Christ. Er betrachtet die Politik aber nicht als verlängerten Arm der Gemeinde.»
Evangelikale Freikirchen definieren sich bis heute gewöhnlich über eine sehr individuelle Frömmigkeit. Im Unterschied zu den hierarchisch organisierten und auf die Prägung der gesamten Bevölkerung ausgerichteten Grosskirchen heben evangelikale Christen die private Beziehung des Menschen zu Gott hervor und betonen das allgemeine Priestertum aller Gemeindeglieder. In einem konsequenten Verständnis der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre Luthers präferieren freikirchliche Christen gewöhnlich eine weitgehende Trennung von Staat und Kirche. Ihrer Sicht der Dinge entsprechend herrscht Gott trotzdem über beide Bereiche des Lebens; auch wenn das den Vertretern des Staates nicht immer bewusst ist1.
Kein Anspruch auf politische Macht
Evangelikale Freikirchen berufen sich zumeist auf die konsequente Unterscheidung Jesu Christi zwischen Staat und Kirche. Obwohl seine Gegner sich bemühten, ihn in einen politischen Konflikt zu verwickeln, weigerte sich Jesus beständig, einen eigenen politischen Machtanspruch anzumelden. In seinem Verhör vor dem römischen Präfekten Pontius Pilatus wies er den Vorwurf, einen irdischen Staat gründen zu wollen, unmissverständlich zurück: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt.»2 Als er vor seinem Prozess von jüdischen Soldaten festgenommen wurde, forderte er seine Anhänger auf, nicht zu den Waffen zu greifen, sondern sich stattdessen der staatlichen Macht zu fügen – obwohl es sich in diesem Fall um eine rechtlich äusserst zweifelhafte Aktion handelte.3
Schon früher antwortete er auf die Frage, ob Juden verpflichtet seien, der römischen Besatzungsmacht Steuern zu zahlen, ziemlich eindeutig: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!»4 Er plante ganz offensichtlich weder einen politischen Umsturz noch die Gründung einer eigenen Partei oder eines religiösen Staates. Seiner deutlichen Aussage nach waren die Aufgaben vorerst von Gott verteilt: Um Recht und Ordnung, Steuern und Wirtschaft sollte sich demnach der irdische Staat kümmern; das Seelenheil hingegen war seine Aufgabe nicht. Jesus Christus war daran gelegen, den Menschen die Vergebung ihrer Schuld zu ermöglichen und ihr Denken an den Massstäben Gottes auszurichten. Ganz selbstverständlich sollte das dann zu einem veränderten Verhalten der Bürger untereinander führen: beispielsweise zu einem Verzicht von Lügen, Betrug und Hass und zur Förderung von Nächstenliebe, Vergebungsbereitschaft und Friedfertigkeit.
Gott und dem Staat dienen
Auch Paulus, anerkannte Stimme der frühchristlichen Gemeinden, weigerte sich, unmittelbaren politischen Einfluss auf den Staat zu nehmen. Zwar solle der Christ vertrauensvoll für die Regierenden beten.5 Darüber hinaus bestünde aber kein Auftrag, den damals überwiegend nichtchristlich geprägten Staat zu biblischen Verhaltensweisen zu drängen. In seinem Brief an die Römer fordert Paulus seine Leser dazu auf, sich als gute Bürger dem Staat unterzuordnen; zumindest solange nichts verlangt wird, das deutlichen Aussagen Gottes widerspricht.6 Ganz vehement werden also im Neuen Testament die religiösen Herrschaftsansprüche des Staates zurückgewiesen. Letzterer sei definitiv nicht berechtigt, göttliche Verehrung für sich in Anspruch zu nehmen. Und auch nicht, Christen zu zwingen, gegen die von Gott gegebenen Gebote zu verstossen: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.»7 Aus Glaubensfragen und ihren ethischen Schlussfolgerungen sollte der Staat sich möglichst heraushalten.
Das heisst zwar nicht, dass evangelikale Freikirchen den Staat als glaubensfreie Zone betrachten. Sie unterscheiden aber deutlich zwischen den jeweils geltenden Zuständigkeiten und den Massstäben von Politik und Kirche. Biblische Werte bilden für sie weit stärker die Grundlage christlichen Lebens als die Verpflichtungen eines säkularen Staates. In deutlich höherem Mass als dem Staat weiss sich der evangelikale Christ Gott verpflichtet. Zuerst definiert er sich als Bürger des geistlichen «Reiches Gottes» und dann erst als Glied des nationalen Staates.8
Natürlich gibt es immer auch Schnittmengen bei Interessen und Zuständigkeiten, beispielsweise in der Ethik oder der Pädagogik. Hier kann es gelegentlich auch zu Konflikten zwischen Kirche und Staat kommen, die nicht vorschnell durch eine politische Meinungsführerschaft beendet werden sollten. Seine Verankerung im Letzten (Bonhoeffer) verpflichtet den Christen im Vorletzten der irdischen Gesellschaft, Verantwortung zu übernehmen. Mit den in Gottes Aussagen verankerten Werten ist er allerdings auch aufgerufen, gegebenenfalls Kritik an staatlicher Ungerechtigkeit oder Unwahrhaftigkeit zu üben.
Christ in allen Lebensbereichen
Für den freikirchlichen Christen haben seine Glaubensüberzeugungen ganz selbstverständlich Auswirkungen in all seinen Lebensbereichen. Denn er ist überzeugt, dass die Massstäbe Gottes, nach denen er zu leben versucht, selbstverständlich auch anderen Menschen eine Hilfe sein können. In politischen Fragen wird er sich daher zumeist nach seinem eigenen Gewissen und nicht nach Vorgaben kirchlicher Instanzen richten.
Ursprünglich zogen sich die Täufer als Vorläufer der Freikirchen ganz von jeder politischen Einflussnahme zurück. Später tendierten Evangelikale in England und Amerika zu einer aktiven Beteiligung am öffentlichen Leben. Zumeist verstanden sie das aber als individuelles Engagement des einzelnen Christen und nicht als Einmischung der Gemeinde in politische Entscheidungen. Glaube und Staat berühren sich aus evangelikal-freikirchlicher Sicht weit eher in der Person des einzelnen Christen als in der Organisation der Kirche.
«Ganz sicher kann die Kirche auch gerade ihre ideologiekritische Kompetenz weit besser einsetzen, wenn sie nicht auf staatliche Privilegien Rücksicht nehmen muss.»
Natürlich begrüssen freikirchliche Christen staatliche Unterstützungen für ihre gesellschaftlichen, sozialen und religiösen Initiativen, weil diese zumeist auch dem «öffentlichen Wohl» dienen. Allerdings sollten politische Förderungen keine weltanschaulichen Einschränkungen beinhalten. Christen können ihre Überzeugungen gewöhnlich freier und glaubwürdiger vertreten, wenn sie nicht übermässig durch finanzielle oder rechtliche Bevorzugung an den Staat gebunden sind. Ganz sicher kann die Kirche auch gerade ihre ideologiekritische Kompetenz weit besser einsetzen, wenn sie nicht auf staatliche Privilegien Rücksicht nehmen muss.
Auch als Staatsbürger ist der freikirchliche Gläubige Christ. Er betrachtet die Politik aber nicht als verlängerten Arm der Gemeinde. Motiviert durch seinen Glauben ist er am Gelingen des öffentlichen Lebens interessiert. Gerade Christen mit einer evangelikalen Frömmigkeit engagieren sich auffällig häufig für das Gemeinwohl. Christian Friedrich Spittler, Gründer der Chrischona-Gemeinden, beispielsweise rief das Kinderspital in Basel und die Taubstummenanstalt in Riehen ins Leben. Durch die freikirchliche Société Evangélique geprägt, gründete Henry Dunant in Genf das Internationale Rote Kreuz (1863). Es ist also auch keineswegs so, dass die karitativen Errungenschaften der Staatskirchen denjenigen evangelikal geprägter Christen in ihrer positiven «weltlichen» Wirkung überlegen wären – eine Einsicht, die im öffentlichen Diskurs um die Legitimation ersterer leider häufig vergessen wird.