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Mein 68

Nostalgiker und Kritiker von «1968»
haben eines gemeinsam: sie überschätzen jene aufregenden Sommertage.

«Alles ist politisch; auch das Private ist politisch» – die Fallhöhe zwischen utopischem Anspruch und studentischer Realität war gross. Die 68er-Parole diente im Alltag oft ganz gewöhnlich dazu, einem Genossen seine Freundin auszuspannen oder in einem Warenhaus einen Gegenstand mitlaufen zu lassen (pardon: zu «vergesellschaften»). Die Russen, die schon etwas längere Erfahrung mit dem realen Kommunismus besassen, benannten das konkreter: «Was mein ist, ist mein. Was dein ist, ist auch mein.» Nur interessierte uns das damals noch nicht sehr.

Mein diesbezüglicher Beitrag zu 1968, in dessen Verlauf ich keinem Genossen die Freundin ausgespannt, keinen Pflasterstein geworfen habe und keiner revolutionären Zelle beigetreten bin, bestand im banalen Kauf von Turnschuhen – nicht, wie damals üblich, für den ausschliesslich sportlichen, also privaten Gebrauch, sondern für das schnellere Vorankommen zwischen Universität, Globus-Provisorium, Bellevue und anderen Plätzen Zürichs, an denen in jenen zwei, drei Sommermonaten etwas los war. Man war kein Aktivist, aber man war «politisiert» und wollte vom aufregenden Geschehen nichts verpassen.

Es ging ja weniger um konkrete politische Inhalte, vielmehr um den Eindruck, dass die junge Generation die Verhältnisse weltweit zum Tanzen brächte: die Bewegung gegen den Vietnamkrieg, der Pariser Mai und de Gaulles Wanken, das Aufbrechen verkrusteter Universitätsstrukturen in ganz Europa… Es war ein kollektiver Rausch, das Wohin spielte eine untergeordnete Rolle. Der Historiker Herbert Lüthy, für mich einer der brillantesten Zeitdiagnostiker des vergangenen Jahrhunderts, merkte zum Phänomen jugendlichen Aufbegehrens im Jahre 1969 sarkastisch an: «Mit dem sicheren Instinkt ihrer kritischen Intelligenz hatte die studierende Jugend von jeher begriffen, dass die einzig wahre Klassengliederung der Gesellschaft die Gliederung in Altersklassen ist und der einzig wahre Klassenkampf somit der ihre.»

Begonnen hat mein «1968» in meinen beiden Semestern 1965/66 an der Berliner FU. Überhaupt spielte sich der grössere Teil dessen, was heute unter dem Label «1968» als Mythos bestaunt oder als Beginn moralischen Zerfalls verdammt wird, in den Jahren zuvor ab. In Berlin, wo viele linke und pazifistische Studenten studierten, um dem Dienst in der Bundeswehr zu entgehen, war die Stimmung schon damals fiebrig. Sit-ins, Vollversammlungen, Demonstrationen gab es fast täglich. Für einen Schweizer war der Fanatismus Dutschkes und der Seinen unheimlich – man begann schon 40 Jahre vor dem Buch des Historikers Götz Aly («Unser Kampf», 2008) heimlich Vergleiche mit dem Fanatismus der Nazis anzustellen.

Hitlers Drittes Reich war noch nahe, die Schlacht um Berlin im tristen Osten der Stadt noch an jeder zweiten Hauswand ablesbar. Auch im bürgerlichen Schöneberg waren die Fensterrahmen verzogen, liessen im Winter den eisigen Wind ins Badezimmer blasen. Aus vielen Gesprächen musste ich schliessen, dass in den Familien meiner deutschen Kommilitonen die schrecklichen zwölf Jahre 1933 bis 1945 noch so verstörend waren, dass sie kaum je zum Thema wurden – und auch von den Söhnen und Töchtern nicht zur Sprache gebracht wurden. Stattdessen wurde lieber das unaufhörliche Reden studentischer Wortführer über «faschistische Tendenzen» in der Bundesrepublik und der westlichen Welt nachgeplappert.

Aktiv, ja aktivistisch war dann an der Zürcher Universität mein Engagement als Fachschaftspräsident der Germanisten und als Studentenparlamentarier für Studien- und Prüfungsreformen. Die anschwellende Maturandenflut hatte den Druck auf ein strukturierteres Studium ohnehin erhöht. Ob die Studienreformen jener Zeit ein einseitiger Erfolg der studentischen Unruhe waren, bleibt dennoch zu bezweifeln. Die zunehmende Dynamik der Nachkriegszeit hatte damals eben auch die Hochschulen erreicht. Von Muff unter den Talaren war in Zürich ja, im Gegensatz zu vielen Magnifizenzen und Spektabilitäten gewisser deutscher Unis, wenig zu spüren, auch wenn uns damals explizit grossbürgerliches oder gar militärisches Gehabe verdächtig erschien.

So bleibt man heute als damals Dabeigewesener gegenüber rosigen Selbstverklärungen ebenso skeptisch wie gegenüber jenen Politikern, die «1968» zum Ursprung allen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Übels machen wollen. Beides sind wohl Überschätzungen des Phänomens. Dass zuvor alles «dumpf, eng und verbiestert» gewesen, danach aber die Gesellschaft «freier, heiterer, offener» geworden sein soll, wie es der Schriftsteller Urs Widmer erlebt haben will, befremdet daher doch erheblich. Denn nach einem gesellschaftlichen Aufbruch, der vielleicht zuallererst Symptom einer Wachstumskrise war, folgten die verhängnisvollen Verengungen der 70er Jahre in ganz Europa: politisches Sektierertum, Abdriften in gewaltsame Umsturzphantasien, die bleiernen Jahre. Die Verhältnisse tanzten also höchstens einen Sommer lang – jenen von 1968.

GOTTLIEB. F. HÖPLI, geboren 1943, hat bei Emil Staiger mit einem Lizentiat in Germanistik abgeschlossen und ist Chefredaktor des «St. Galler Tagblatts».

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