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Mehr Voltaire, weniger Rousseau
Volker Reinhardt, zvg.

Mehr Voltaire, weniger Rousseau

In der Pandemie ist Voltaire, der sich für Wahrheit und Meinungsvielfalt einsetzte, ein besserer Ratgeber als Rousseau, der die Verbreitung gefährlicher Ideen verbieten wollte.

 

Erdbeben können nicht nur tödliche, sondern auch heilsame Erschütterungen zur Folge haben. Als am 1. November 1755 ein Seebeben mit anschliessendem Tsunami einen grossen Teil der Stadt Lissabon zerstörte und Zehntausende von Menschen­leben kostete, griff Voltaire in seiner lieblichen Villa am Stadtrand von Genf zur Feder und schrieb seine endgültige Absage an den gütigen Schöpfergott, die ihm die Frommen aller Länder und Richtungen bis heute nicht verziehen haben. Einer seiner empörtesten Leser war ein citoyen de Genève namens Jean-Jacques Rousseau. Sein Vorwurf an die Adresse Voltaires lautete, auf den Punkt gebracht: nichts als Zynismus und nackter Nihilismus! In Zeiten des Elends brauchten die Menschen nicht brutale Wahrheiten, sondern Trost. Daraus leitete Rousseau die Forderung ab, dass das aufgeklärte Gebot der Toleranz nicht für die Intoleranten, zum Beispiel nicht für verfolgungswütige Geistliche aller Konfessionen, gelten dürfe.

Beides klingt 2021 verblüffend aktuell. Umformuliert in den Jargon der Gegenwart, heisst das: Nachrichten müssen auf die Seelenlage der Masse abgestimmt und entsprechend gefiltert werden. Was deprimiert oder zum Über-die-Stränge-Schlagen animiert, muss unterdrückt oder notfalls geschwärzt werden. Mit anderen Worten: Der Mensch muss zu seinem Besten unmündig gehalten, notfalls sogar getäuscht, auf jeden Fall aber erzogen werden, auch gegen seinen Willen. Und noch gravierender: Schädliche Ideen sind gefährlich, ihre Veröffentlichung muss daher verboten werden. Voltaire war in beiden Fragen entschieden gegenteiliger Meinung: Die Aufgabe eines Schriftstellers ist es nicht, Balsam auf geschundene Seelen aufzutragen, sondern zu sagen, was Sache ist: Die Natur hat die Menschen zu grausamen Übeln verdammt, und die Grausamkeiten, die sich die Menschen selbst zufügen, sind ebenfalls das Werk der Natur, denn sie hat die Menschen so gemacht, wie sie nun einmal sind. Und weil das nun einmal so ist, muss alles, wirklich alles sagbar und publizierbar sein, gerade auch das Falsche und Böse. Gesetze gelten nur für Handlungen, nicht für Ideen. Gedanken sind frei, selbst dann, wenn sie diese Freiheit einschränken wollen. Diese Freiheit geht sogar so weit, dass man schreiben darf, dass bestimmte Ideen verfolgt werden müssen – erst wenn man selbst zur Verfolgung schreitet, hat der Staat einzugreifen.

Rousseau hat sich durchgesetzt

Voltaire wusste, wovon er schrieb: Jesuiten und Juristen forderten seit Jahrzehnten, dass man ihm endlich sein Publizistenhandwerk legen sollte. Der Leitgedanke hinter dieser Forderung nach einer grenzenlosen Freiheit des Sagbaren war, dass nur so und nicht durch Verbote abstruse Vorstellungen wirkungsvoll bekämpft und damit widerlegt werden können. Umgekehrt bildet, was zu sagen und zu schreiben untersagt ist und deshalb in den Untergrund abgedrängt wird, nur den Nährboden für Verschwörungstheorien. Anno 1756 war diese grenzenlose Freiheit eine Utopie, und das ist bis heute so geblieben, mehr denn je. Denn den Kampf um die Zuträglichkeit der Wahrheit und die Grenzen der Toleranz hat Rousseau 2021 auf der ganzen Linie gewonnen: mit seinem Bild vom Menschen, dem die Natur angeblich viel Empathie und keinerlei Neigung zum Bösen mitgegeben hat, und mit seinem Bild einer Natur, in der alles so lieblich und harmonisch geordnet ist, dass das Abbild ihres gütigen Schöpfers für den überall durchscheint, der die Stimme der Natur in seinem Inneren nur frei sprechen lässt. Rousseau schrieb in seinem Roman «Julie ou la nouvelle Héloïse» den Tod schön, für Voltaire war er unnatürlich und inakzeptabel und die Sterblichkeit ein Beweis gegen den lieben Gott. Gerade deshalb zählte für ihn jedes Menschenleben, wie sein Kampf gegen die Justizmorde seiner Zeit belegt.

«Folgsamkeit wird damals wie heute im Zeichen eines

allgegenwärtigen obrigkeitlichen Aktionismus eingefordert.

Was einst wie heute zählt, ist der Eindruck:

‹Die da oben› tun etwas für dich.»

Seine konkrete Nutzanwendung lautete: Im Umgang mit Tod und Leben hilft Tränenseligkeit, gepaart mit Illusionen, nicht weiter, sondern nur nüchternste Rationalität. In diesem Sinne ist nicht das Gegeneinanderaufrechnen von Sterblichkeitsziffern menschenfeindlich, sondern die überbordende Gefühligkeit, die sich gegen solche «Hartherzigkeiten» wehrt. Brutal ist die Con­ditio humana, nicht derjenige, der sie aufdeckt. Als der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer Ende April 2020 die Rechnung aufmachte, dass mit dem Lockdown in Europa der Tod mancher alten Menschen verhindert, aber durch exorbitante Einnahmenverluste der öffentlichen Hand der Tod von sehr vielen Kindern in der Dritten Welt in Kauf genommen werde, ging ein Shitstorm über ihn nieder, der sich in Wirklichkeit gegen die angeblich so menschenfreundliche «Schöpfung» hätte richten müssen. Würde der Staat Alkohol und Tabakgenuss verbieten, würde er die Mortalität in viel höherem Masse als durch alle Corona-Eindämmungs-Massnahmen reduzieren; dasselbe gilt für flächendeckende Tempolimits auf allen Strassen. Da er das nicht tut, nimmt er die entsprechenden Todesfälle in Kauf. Ist er deswegen grausam und unmenschlich? Die Antwort lautet: Der Staat hat seine eigene Räson, die man Staatsräson nennt. Ohne Alkohol und Zigaretten brechen staatliche Einnahmen weg, also appelliert er an die individuelle Eigenverantwortung. Darüber echauffiert sich niemand, ganz anders sieht es in Sachen Corona aus. Man kann das Heuchelei nennen, zumal ein durchgreifender Schutz der Verwundbarsten durch obligatorische Tests von Pflegepersonal lange vernachlässigt wurde. Zudem hält sich das Mitleid mit denjenigen, denen de facto Berufsverbot erteilt wird, in bemerkenswert engen Grenzen. Nochmals: Rousseau hat auf der ganzen Linie ­gesiegt.

Eine ideologische Polarisierung wie im Kalten Krieg

1756 bestand die von Voltaire eingeforderte frei räsonierende Zivilgesellschaft europaweit aus ein paar tausend wohlhabenden und gebildeten Bürgern, die sich teure Zeitungen und Zeitschriften leisten und diese auch noch lesen und verstehen konnten. 2021 umfasst diese Zivilgesellschaft die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger, denen man individuell und kollektiv zutraut, in freier und rationaler Willensentscheidung an der Wahlurne eigenverantwortlich zu ihrem eigenen Vorteil und zugleich zugunsten des Gemeinwohls zu entscheiden; zu dieser Gruppe zählen ohne Unterschied von Geschlecht, Besitz und Bildung – die Kriterien, die im 18. Jahrhundert und oft noch lange danach für Er­teilung oder Verweigerung politischer Rechte ausschlaggebend waren – alle Personen ab 18 und wahrscheinlich bald sogar ab 16 Jahren. Das damit ausgestellte öffentliche Mündigkeitszeugnis aber wird im Zeichen von Corona allenthalben zurückgenommen und entwertet.

Das zeigt sich mit durchschlagender Wirkung auf allen Ebenen. Die gegenwärtige Debatte über die Art und Weise, wie sich die Ansteckung durch Covid-19 am effizientesten bekämpfen lässt, hat nicht zu einer Freiheit des Diskurses, sondern zur extremen Verengung, mehr noch: zu einer ideologischen Polarisierung, geführt, die an Lagerbildungen des Kalten Krieges erinnert. Wer an den von oben verordneten Strategien der Pandemiebekämpfung Skepsis oder gar Zweifel anmeldet – wohl gemerkt: nicht an der Existenz oder am Gefahrenpotenzial der Pandemie oder an der Notwendigkeit, diese zu bekämpfen, sondern ausschliesslich an der Effizienz der getroffenen Massnahmen –, wird als Abweichler ausgegrenzt, und zwar nach dem aus der Geschichte nur allzu bekannten Verkettungsmuster: Falsche Meinungen stecken an, führen zu Defätismus, lösen die Disziplin breiter Bevölkerungsschichten auf und haben deshalb eine Verschlimmerung der Infektionslage zur Folge. Genauso haben die Inquisitoren des 16. und 17. Jahrhunderts argumentiert: Ketzereien stecken an, ­Bücher mit «nicht korrekten» Meinungen müssen deshalb verboten, besser noch: verbrannt, werden. Dahinter steht die Überzeugung, dass diejenigen, die sie lesen, von irrigen Thesen verführt werden, weil sie selbst zur Wahrheitsfindung unfähig sind und dazu autoritativer Anleitung und Anweisung bedürfen. Deshalb führte die katholische Kirche bis 1965 einen Katalog der verbotenen Bücher, die devote Gläubige bei Gefahr für ihr Seelenheil nicht lesen durften.

Die Analogie zur Coronalage sticht ins Auge. Wenn der Staat momentan mit seinen Versuchen, die Ansteckung durch die Regulierung des öffentlichen Raumes zu bekämpfen, an Grenzen stösst, weil sich das Leben und mit ihm die Infektion aufgrund der äusseren Sperrungen in die Privatsphäre verlagern, hat er das ­zuzugeben und sich auf dringende Appelle an die individuelle Verantwortung zu beschränken; jeder Schritt über diese Grenze hinaus ist ein Verstoss gegen die Theorie der demokratischen Mündigkeit und damit eine Infragestellung seiner eigenen Existenzberechtigung.

Erwünschte Angst: Mit Schreckensszenarien zum Gehorsam

Das gilt umso mehr, als die Meinung der Expertinnen und Experten zu vielen relevanten Aspekten der Pandemie keineswegs einheitlich oder auch nur eindeutig ist. Das ist keineswegs ein Vorwurf, sondern auch nur eine nüchterne Bestandsaufnahme. Auch von dieser Seite wären mehr Eingeständnisse des zumindest partiellen Nichtwissens in vieler Hinsicht heilsam. In einer selbstbestimmten Zivilgesellschaft führen sie nicht zu Verunsicherung, sondern im Gegenteil: zu selbständiger Meinungsbildung und damit zu gesteigerter Akzeptanz vernünftiger Verhaltensregeln. Wer der Meinung ist, dass die Zivilgesellschaft dazu nicht in der Lage ist – und diesen Eindruck erwecken staatliche Organe augenblicklich oft –, möge das bitte offen sagen, denn damit stellt er die Grundlagen der Demokratie als ganze in Frage.

So aber ähnelt die gegenwärtige Lage den Lebensverhältnissen längst vergangener Pestkatastrophen, in denen ein Viertel bis ein Drittel aller Menschen einen entsetzlichen Tod starben, auf ­bizarre Weise. Schon im Jahr des Unheils 1348 fühlten sich die ­Obrigkeiten zur Regulierung der kollektiven Stimmungslage berufen. So wurde im Zeichen des Massensterbens das Läuten der Totenglocke verboten, um eine weitere Ausbreitung von Angst und Panik zu verhindern. 2021 ist die Absicht, die öffentliche Seele zu streicheln und damit kollektives Verhalten zu steuern, dieselbe, das konkrete Vorgehen aber eher umgekehrt. Medien ­aller Art, in Deutschland leider auch die öffentlich-rechtlichen, berichten vorzugsweise von Schreckensszenarien in anderen Ländern und meiden konsequent Vergleiche mit Gegenden, die es besser haben: um Angst zu schüren, die Durchhaltemoral hochzuhalten und Forderungen nach einer grundlegenden Umorientierung gar nicht erst aufkommen zu lassen. Dabei wird Differenzierung bewusst vermieden – was in Italien, England oder Portugal anders ist, zum Beispiel bezüglich Altersstruktur oder des öffentlichen Gesundheitswesens, wird bewusst nicht herausgearbeitet: Angst ist erwünscht, weil sie die erwünschten Reaktionen hervorbringen soll. Im Zeitalter der Inquisitionen war das die Angst vor dem lodernden Scheiterhaufen und den ewigen Feuern der Hölle und als deren Folge Kirchenfrömmigkeit, heute ist es Unterwerfung und Gehorsam. Entmündigung ist es in beiden Fällen. Das gilt auch für auffallende Ausblendungen, etwa zu den ökonomischen Langzeitfolgen der beiden Lockdowns.

Folgsamkeit wird damals wie heute im Zeichen eines allgegenwärtigen obrigkeitlichen Aktionismus eingefordert. Was einst wie heute zählt, ist der Eindruck: «Die da oben» tun etwas für dich. Ob diese Massnahmen wie etwa die deutsche 15-Kilometer-Umkreis-Regel in sich schlüssig, aufeinander abgestimmt oder gar erfolgversprechend sind, ist zweitrangig. Das war in Pestepidemien vergangener Jahrhunderte ähnlich: Die Mächtigen mussten ihre angeblich von Gott übertragene Macht rechtfertigen, mit ­Tatenlosigkeit hätten sie diese Legitimität verloren. Auch die Voltaire’sche Idee, dass die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt absurde Vorstellungen aller Art hervorbringt, bewahrheitet sich 2021. Zuzugeben, dass das Meinungsspektrum zur effizienten Bekämpfung von Covid-19 – dem vernünftigen und für alle verbindlichen Ziel – durchaus geteilter und das gesicherte Wissen über die Pandemie geringer ist, als der Anschein erweckt wird, wäre wahrscheinlich die beste Methode, Corona-leugnern und anderen Verschwörungstheoretikern das Wasser abzugraben.

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