Mehr sozial, weniger Staat
Der Sozialstaat nach westlichem Zuschnitt verspricht mehr, als er halten kann. Seine Reformbedürftigkeit versucht er zu kaschieren.
Auch wenn gegenwärtige Zustände unbefriedigend sind, bleiben bessere Alternativen oft unbeachtet. Denn wir messen die denkbare Alternative nicht an ihren tatsächlichen Vorteilen, sondern an der idealisierten Vorstellung einer perfekten Lösung. Das Bessere ist dann nie gut genug. Weil sie sich an einem angenommenen Idealzustand orientiert, nannte der amerikanische Ökonom Harold Demsetz diese Neigung «Nirwana Fallacy». Wer sich Gedanken zu den Sicherungssystemen des heutigen Sozialstaats macht, trifft unweigerlich auf die Nirvana Fallacy: während Alternativen zum herrschenden Status quo unterschätzt werden, wird dessen Leistung ständig überschätzt. Das ist eine ebenso provokative wie unangenehme These, die der Rechtfertigung bedarf.
Der Sozialstaat ist nicht sozial
Zuerst: was ist überhaupt ein Sozialstaat? Unter «Sozialstaat» werden heute, vor allem in den entwickelten Staaten des Westens, kollektive Umverteilungssysteme verstanden, die der zwangsweisen Absicherung aller Bürger gegen Risiken und
Lebensereignisse wie Alter, Arbeitslosigkeit oder Krankheit dienen. Diese Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass Berufstätige auf staatliches Geheiss einen gewissen Anteil ihres Einkommens in Form von Steuern oder Abgaben, fälschlicherweise oft «Beiträge» genannt, in den Staatshaushalt einzahlen, von wo aus diese Mittel umgehend an unterschiedliche Kategorien von Empfängern ausgeschüttet werden. Je stärker der Staat dabei sozialpolitische Umverteilungsziele verfolgt, desto weniger steht die Höhe der Ausschüttung in einem Verhältnis zur Höhe vorheriger Einzahlungen.
Diese kollektiven Umverteilungssysteme des Sozialstaats – auch die berufliche Vorsorge wird zunehmend zu einem solchen – sind weder Instrumente der Vorsorge noch Versicherung. Da Mittel schlicht umverteilt werden, wird wenig bis nichts gespart, es wird nicht investiert, und damit werden auch keine Zinsen erwirtschaftet. Die «Kunden» des Sozialstaats sichern sich nicht gegen spezifische Zufallsereignisse ab, wie dies bei einer Versicherung der Fall wäre. Sozialstaatliche «Beiträge» sind tatsächlich einfach nur Steuern, die umgehend dem Konsum anderer Menschen zufliessen. Damit wird auch deutlich: die sozialstaatliche Umverteilung macht eine Gesellschaft nicht wohlhabender, sie führt lediglich zu einer politisch determinierten Verlagerung des Konsums von A zu B.
Dabei wäre Sparen, also Konsumverzicht, die Voraussetzung für die Akkumulation von Kapital, welches wiederum investiert werden kann. Aus Investitionen erwächst ein Wohlstandsgewinn. Sparen, Investition, Wachstum – so lautet seit je die Formel für gesellschaftlichen Wohlstand und Fortschritt. Wo Sparen jedoch behindert wird, wird Wohlstand vernichtet – inklusive Zins und Zinseszins. Das systematische Verdrängen von Sparen und Investition durch den Konsum ist eine Eigenschaft des Sozialstaats, die zu dessen Scheitern beiträgt. Sie schwächt langfristig die Ressourcenbasis einer Gesellschaft und reduziert ihr Wachstumspotential.
Dieser Geburtsfehler des herrschenden Sozialstaates wäre an sich schon gewichtig genug, um Zweifel an ihm zu nähren. Doch dazu kommt sein unvermeidliches Versagen angesichts aktueller Herausforderungen. Der Sozialstaat wurzelt in der frühen Industrialisierung und geht darum von statischen, geschlossenen Wirtschaftsräumen aus. Er ist nicht darauf angelegt, der dynamischen Veränderung einer auf Innovation basierenden internationalen, arbeitsteiligen und eben oft auch mobilen Marktwirtschaft zu genügen. Überfordert werden die kollektiven Umverteilungssysteme auch durch die im 19. Jahrhundert noch unvorhersehbare demographische Entwicklung. Sieht die Altersstruktur einer Gesellschaft zunehmend aus wie eine auf den Kopf gekehrte Pyramide, sind die Berufstätigen schlicht nicht mehr in der Lage, die Bedürfnisse der Transferempfänger zu finanzieren. Spätestens dann erweist sich das staatliche Verdrängen der Vorsorge durch Konsum als verhängnisvoller Irrtum.
Es ergibt sich ein trostloses Bild: die kollektiven Umverteilungssysteme des Sozialstaats sind einer zunehmenden Unterfinanzierung ebenso ausgesetzt wie einem chronischen Überkonsum. Ökonomische Fehlsteuerungen verbinden sich mit schädlichen und moralisch fragwürdigen Fehlanreizen. Jeder zur Einzahlung gezwungene Bürger ist letztlich einem handfesten Anreiz ausgesetzt, möglichst hohe Auszahlungen zu erhalten, da geleistete Einzahlungen andernfalls verloren sind. Ebenso auf Seiten der Umverteiler: versagt ein auf Umverteilung gepoltes Sozialsystem, so reagiert die Politik mit einer Erhöhung der Ausgaben – so etwa im Gesundheitswesen, das dennoch längst auf Leistungsrationierungen zusteuert.
Die schon seit Jahren beobachtbaren ständigen Krisen und die endlose Reformbedürftigkeit des Sozialstaats sind somit kein Zufall. Sie lassen sich auch durch das Drehen an der einen oder anderen regulatorischen Schraube (am Ende ist es meist die Steuerschraube) nicht beheben.
Erfolgsmodelle aus Chile und Singapur
Erstaunlicherweise sind diese Analysen in Fachkreisen ebenso bekannt und verbreitet wie die möglichen Alternativen zum sozialstaatlichen Status quo. Allein, sie haben aufgrund einer weitverbreiteten Realitätsverweigerung kaum eine Chance, in der öffentlichen Debatte Anerkennung zu finden. Sozialpopulistische Tabus und sozialdemokratische Traumtänzereien verhindern noch immer eine nüchterne Bewertung der Lage.
Nur vereinzelt finden sich darum heute Beispiele zivilgesellschaftlicher Alternativen zum Sozialstaat – dort jedoch mit durchschlagendem Erfolg. Chile führte bereits vor 30 Jahren ein Rentensystem ein, das den Umverteilungsmechanismus durch tatsächliche Vorsorge ersetzt. Arbeitnehmer zahlen etwa 10 Prozent ihrer Einkommen auf individuelle Sparkonten ein. Die Konten sind persönliches Eigentum des Arbeitnehmers und können bei Berufswechseln beliebig transferiert werden. Jeder Sparer kann unter verschiedenen Investitions- und Anlageoptionen auswählen, die Verwaltungsgesellschaften haben sich im Wettbewerb zu bewähren. Ein obligatorisches Rentenalter gibt es nicht mehr. Jeder Bürger kann sein gewünschtes Rentenalter angeben und die notwendige Höhe und Dauer der Sparleistungen berechnen lassen.
Die Ergebnisse sprechen für sich: im Vergleich zum umlagefinanzierten Rentensystem, das noch Einzahlungen in Höhe von 25 Prozent erforderte, sind die Rentenzahlungen deutlich gestiegen. Durchschnittlich bezieht jeder chilenische Rentner 78 Prozent seines bisherigen Einkommens. Das Vorsorgevermögen der Chilenen ist bis heute auf 180 Milliarden Dollar angewachsen, das chilenische Wirtschaftswachstum erzielt seither Spitzenwerte. Kann es da verwundern, dass sich bis heute 99 Prozent der chilenischen Arbeitnehmer freiwillig dem neuen System angeschlossen haben? Die Rente wurde so der politischen Schacherei effektiv entzogen.
Ein ähnliches Modell der Gesundheitsvorsorge wird heute in Singapur praktiziert. Arbeitnehmer zahlen hier 6 bis 8 Prozent ihres Einkommens in individuelle Gesundheitssparkonten ein, die kapitalisiert werden und Zinsen erwirtschaften. Bedeutende Behandlungs- und Pflegekosten werden im Bedarfsfall aus diesen Konten bezahlt. Das Vermögen bleibt jedoch in jedem Fall im Besitz des Sparers und kann auch vererbt werden. Hinzu kommen freiwillige Hochrisikoversicherungen, welche Entschädigungsleistungen im Falle unvorhersehbarer schwerer Krankheiten garantieren. Das Einkommensniveau und die Lebenserwartung des asiatischenKleinstaates entsprechen heute jenen der Schweiz. Singapurs Gesundheitsausgaben belaufen sich auf 3,5 Prozent des BIP, jene der Schweiz auf 10,7 Prozent. Jedes Jahr lassen sich hunderttausende ausländische Patienten im ausgezeichneten Gesundheitssystem Singapurs behandeln.
Ein systematisches Infragestellen des Sozialstaats ist somit nicht nur notwendig, sondern auch möglich.
Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen
Individuelle und nachhaltige Vorsorge führt zu Sparen und Investition, sie fördert Innovation und Wachstum und beschränkt dabei die Kosten. Private, profitorientierte oder auch genossenschaftliche Versicherungskonzepte ermöglichen zudem massgeschneiderte Absicherungen und fördern echte Solidarität. Ein Ende der kollektiven Zwangsumverteilung macht auch Raum und Ressourcen frei für zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten der Mitmenschen. Die Übernahme von Eigenverantwortung – individuell oder gemeinschaftlich – für jene Risiken, die schlicht nicht versichert werden können, macht die Menschen mündig, selbständig und selbstbewusst, statt sie zu überforderten und masslosen Kleinkindern zu degradieren.
Im Zeitalter weltweiter Kommunikationsnetze und Handelsströme, in dem Produkte wie Smartphones, Hybridautos, Solarpanels oder Flachbildfernseher die Leistungen von Arbeitskräften in der Schweiz, China, Kanada, Brasilien, Indien und Deutschland kombinieren, um dann an jedem Ort der Erde erhältlich zu sein, hat sich das nationale Umverteilungsinstrumentarium des Sozialstaats überlebt. Dessen absehbares Scheitern birgt die Chance für den Durchbruch zivilgesellschaftlicher Alternativen. Ein System echter Vorsorge verbunden mit nachhaltigen Versicherungslösungen und freiwilliger Solidarität kann auch einen fortschreitenden demographischen Wandel absorbieren und abfedern. Nur ein solches System kann das Ziel sozialer Sicherheit tatsächlich erreichen und dabei Investition, Wachstum, Innovation und Wohlfahrt fördern. Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen damit die Gefahren um ein Vielfaches. Der Nirwana-Fehlschluss hebt sich auf. Was fehlt, ist nur der Mut, vielversprechende Alternativen beherzt anzupacken.