(5) Mehr Selbstvertrauen in Europa
Europa hat viele Gemeinsamkeiten, die in einer – trotz aller Vielfalt – gemeinsamen Geschichte wurzeln und jenes Sozialkapital bilden, das im globalen Umfeld Vertrauen schafft und Erfolg verspricht.
Gibt es gemeinsame Erfahrungen und Wertvorstellungen, die uns Europäer von den Bewohnern anderer Kontinente unterscheiden? Über die Unterschiede zwischen Europäern und Asiaten ist noch bis vor wenigen Jahren von Reiseschriftstellern viel populärwissenschaftlicher Unsinn verbreitet worden, etwa über die wohltuende Wirkung der «asiatischen Werte», die angeblich jenen Zusammenhalt vermitteln, welcher asiatische Nationen so wettbewerbsfähig mache: Geduld, Fleiss, Autoritätsrespekt, Sozialharmonie und Familiensinn, basierend auf den Tugenden des Konfuzianismus und den Notwendigkeiten einer gemeinschaftlichen Wasserverteilung beim Reisanbau. In Tat und Wahrheit sind die Eigenschaften und die Wertebasis der asiatischen Völker und Nationen so unterschiedlich wie die jeweiligen historischen Erfahrungen, gesellschaftlichen Strukturen, Religionen und Lebensweisen von Chinesen, Japanern, Indern, Indonesiern und Filipinos – also vollkommen unterschiedlich.
Gerade im Aussenvergleich mit Asien zeigt sich, dass wir Europäer eben doch mehr als nur die geographischen Grenzen und das milde Klima des Golfstroms gemeinsam haben. Was uns eint, ist eine gemeinsame Geschichte, ungezählte kriegerische und ebenso viele friedliche Durchmischungen und damit gemeinsame sprachliche, staatliche, kulturelle und geistig-ethische, sogar religiöse Wurzeln und Klammern. Auch in der Unternehmensführung gibt es – trotz allen Unterschieden in den Führungsstrukturen und Organisationsformen, in der Mitarbeitermotivation und in den Führungserwartungen, in den Geschäftsusancen und Personalsystemen – mehr Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Vor allem auf drei Ebenen sind wir Europäer uns doch sehr ähnlich: erstens in der Markt- und Geschäftsstrategie, zweitens in unserem inneren Verhältnis zur Arbeit im allgemeinen und zu unserer Firma im besonderen, und drittens in unserer Führungsphilosophie.
Es ist in den letzten Jahren viel über die Wachstumsschwäche Europas geschrieben worden. Es ist wohl wahr, dass die Länder Westeuropas, vor allem Deutschland, Frankreich und Italien in ihrem Wachstum hinter den USA und den «Tigerstaaten» herhinken und dass die notwendigen Strukturveränderungen nur zögernd vorankommen. Das darf aber über zwei Dinge nicht hinwegtäuschen. Einmal spiegeln Europas Durchschnittswerte nicht wieder, dass Länder wie Irland, Finnland oder Schweden im Westen und die meisten neuen EU-Länder im Osten mit ihren Wachstumsraten und Wettbewerbsbedingungen teilweise noch vor den USA liegen. Dazu kommt, dass die allgemeine Lage der Wirtschaft kaum etwas über die aktuelle Verfassung der Unternehmen aussagt. Im Wettbewerbsvergleich mit amerikanischen Unternehmen kann man nämlich erkennen, dass europäische Unternehmen in einer Vielzahl von Industrien strategischer besser geführt werden, einen höheren und stetigeren Cashflow produzieren, internationaler ausgerichtet sind und die globalen Marken-, Vertriebs- und Personalstrategien besser umsetzen.
Immerhin sind 14 unter den Top 20 der am meisten globalisierten Länder europäische Länder, und das liegt nicht nur daran, dass Unternehmen aus kleinen Ländern wie der Schweiz oder Finnland «global gehen» müssen, wenn sie wachsen wollen, sondern dazu gehört auch Deutschland, das immerhin den fünftgrössten Binnenmarkt der Welt besitzt und sich damit eigentlich zufriedengeben könnte. Der unzweifelhafte Erfolg europäischer Unternehmen auf den Weltmärkten beruht auf einer Reihe wertvoller Eigenschaften.
Europäer sind es wie kaum andere Völker gewohnt, im internationalen Handel zu leben und mit anderen Kulturen, Sprachen, Sitten zurechtzukommen. Wir waren immer multikulturell, hatten mehrere Sprachen zu sprechen und mehrere Kulturen in uns oder in unseren Staatsgebilden zu integrieren. Firmen wie Mann und Hummel, Bosch oder Webasto erwirtschaften schon heute weit mehr als die Hälfte ihres Umsatzes ausserhalb des Heimatlandes. Inzwischen ist gerade diese Exportorientierung zu einer der Kernkompetenzen europäischer Unternehmen geworden, da sie ein exzellentes methodisches Know-how entwickelt haben dafür, wie man neue Auslandsmärkte analysiert und angeht.
Selbst im Vergleich zu den USA sind europäische Unternehmen in verschiedenster Hinsicht weit voraus. Nur wenige grosse Firmen wie McDonald’s, Coca-Cola, IBM und GE sind global präsent. Dies findet auch in den Personalressourcen seinen Niederschlag: nur 14 Prozent aller Amerikaner haben überhaupt einen Pass! Und japanische Firmen, so erfolgreich sie sich im internationalen Wettbewerb auch geschlagen haben, liegen noch immer weit zurück, wenn es um ihre Präsenz in anderen Ländern geht, denn schon an den Sprachkenntnissen scheitert vieles.
Eigenschaften, die den europäischen Unternehmen zu ihrer globalen Spitzenstellung in vielen Industrien verholfen hat, sind ihre konsequente Innovationsbereitschaft, die Fokussierung auf sehr spezifische, meist technologische Kernkompetenzen und deren ständige Weiterentwicklung sowie unausgesetzte Verteidigung und weiterer Ausbau der Führung im Wettbewerb. Der Begriff Hidden Champions trifft nirgendwo so sehr zu wie in Europa. Es sind meist mittelständische, häufig noch von Gründerpersönlichkeiten oder von der zweiten oder dritten Generation geführte Familienunternehmen mit Technologien und Serviceleistungen, die sich konsequent an Kundenwünschen orientieren. Und sie sind nicht nur in den neuen Industrien wie Pharma, Software oder Medizintechnik zu Hause, sondern gerade in «alten» Branchen, als Automobilzulieferer, als Maschinenbauer, in der Spezialchemie, in Kurierdiensten, sogar auf Gebieten wie «weisser Ware», wo etwa Miele in der dritten Generation beweist, dass man, trotz Kostennachteilen in der Produktion, mit führender Technologie immer eine Nasenlänge vor der Konkurrenz liegen und Geld verdienen kann.
Ein weiteres spezifisches Merkmal europäischer Unternehmen ist ihre Leidenschaft für systematische Abläufe und effiziente Prozesse. Nirgendwo – ausser in Japan – ist dieser Hang so ausgeprägt wie in Europa. Aus gutem Grund. Arbeitskraft war hier immer teuer, und nur durch Präzision in den Prozessen und in der Planung kann man die Arbeitsproduktivität und Produktqualität auf höchstes Niveau bringen. Das gilt natürlich vor allem in der Unternehmenslandschaft, leider weniger in den bürokratischen Strukturen und Institutionen; doch selbst hier findet man schrittweise Veränderungen in Richtung effizien-
terer Abläufe. In Zukunft gilt es wohl, noch vermehrt mit den Nachteilen einer zu hohen Präzisions- und Regelungsleidenschaft zu kämpfen.
Eine Stärke europäischer Unternehmen besteht auch in ihrer Fähigkeit, Markenpositionen aufzubauen und durch konsequente Markenpflege zu erweitern. Japan und – zunehmend – auch China haben eine grosse und wachsende Zahl von begeisterten Markenkäufern, und die multikulturelle Kunst- und Warenwelt kreiert immer wieder neue Konsumententrends. Europäische Unternehmen sind die rührigsten Erfinder und Entwickler von Modetrends und Premiummarken. Man kann nur hoffen, dass im Zuge des allmählichen Alterungsprozesses der europäischen Bevölkerung dieser Vorteil nicht abhanden komme.
In den USA besteht das Arbeitsleben eines Menschen in der Regel aus einer Aneinanderreihung von Jobs, und einer der grossen Vorteile des amerikanischen Wirtschaftssystems wird in seiner Flexibilität gesehen, die es den Menschen ermöglicht und abverlangt, häufig zwischen Jobs und Firmen hin und her zu wechseln. Dagegen überwiegt in Europa – trotz allen sprachlichen Begriffsübernahmen – noch immer das Ethos, einen Beruf zu ergreifen und es darin auch zu einer Spitzenleistung zu bringen.
In einem lesenswerten Buch mit dem Titel «Social Capital and Civil Society» hat der japanisch-amerikanische Autor Francis Fukuyama die These aufgestellt, dass Gesellschaften mit einem hohen Sozialkapital letztlich wirtschaftlich überlegen seien, wobei er unter dem Begriff Sozialkapital die Summe der geschriebenen und ungeschriebenen Regeln und Normen versteht, die die Kooperation von Individuen und Gruppen innerhalb einer grösseren Gemeinschaft fördern und absichern, seien es simple Gebote der Reziprozität von Freundschaftsdiensten und gegenseitige Loyalitätsnormen, oder komplexere Rechts- oder Religionskodices, wie das Christentum oder das Zivilrecht und ein funktionierendes Rechtssystem. Das Mass an sozialem Vertrauen und an Vernetzung, die ordentliche Funktionsfähigkeit der staatlichen Zivilinstitutionen, die Einhaltung von eingegangenen Verpflichtungen, Zahlungsmoral oder Zuverlässigkeit von Geschäftsbeziehungen sind demnach Manifestationen des Sozialkapitals in einer Gesellschaft, sind aber nicht selbst schon Sozialkapital.
Mehr noch als in ihren Markt- und Produktstrategien zeichnen sich die europäischen Unternehmen durch ihr Führungsmodell aus, das sich von dem der Angelsachsen, insbesondere dem amerikanischen Unternehmensmodell, deutlich unterscheidet. Seit vor etwa 10 Jahren in Europa die Diskussion darüber begann, ob das amerikanische Shareholder-Modell dem europäischen Stakeholder-Modell überlegen sei, ist diese Debatte nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die Orientierung der europäischen Unternehmen, die beide Interessen gleich hoch bewerten, hat sie letztlich auch besser befähigt, neue Markt- und Gesellschaftstrends wahrzunehmen und für sich zu nutzen, zum Beispiel in umweltfreundlichen Technologien, in denen schweizerische und deutsche Unternehmen heute marktführend, oder in energiesparenden Technologien, in denen uns nur die Japaner überlegen sind.
Europäische Unternehmen sind auch im Kampf um die besten Managementtalente besser gerüstet, weil sie für sich in Anspruch nehmen können, verschiedene Kulturen im eigenen Unternehmen erfolgreich zu integrieren. Sie können sich besser auf die nationalen Eigenheiten anderer einstellen und sind bei vielen Arbeitnehmern beliebter als amerikanische oder japanische Arbeitgeber, weil sie mehr Kontinuität und Sicherheit bieten – alles gute Voraussetzungen, um sich im Wettbewerb um die besten Leute in den neu entstehenden Zukunftsmärkten Asiens und Osteuropas erfolgreich zu behaupten.
Um im globalen Wettbewerb zu bestehen und ihre Position auszubauen, müssen sich die europäischen Unternehmen daher nicht den Amerikanern anpassen – im Gegenteil. Sie müssen noch europäischer werden. Dazu gehören drei Ziele, die die Zukunftsagenda europäischer Unternehmen bestimmen sollten:
Erstens: Auf den bestehenden Stärken aufbauen: Innovationskraft, Kundenorientierung, Qualitätsführung und Markenwert.
Zweitens: Das Sozialkapital durch vertrauensbasierte Unternehmensführung pflegen und stärken.
Drittens: Die nationale Identität bewahren, aber gleichzeitig als globale Unternehmen auftreten und die besseren Ideen, Methoden und Führungskräfte aus anderen Ländern integrieren.
Die Globalisierung aller Wirtschaftssektoren zwingt die europäischen Unternehmen dazu, zwei konträre Zielsetzungen gleichzeitig zu verfolgen: die Restrukturierung ihrer bestehenden Produktions- und Vertriebsstrukturen in Europa und ein forciertes Wachstum im Ausland, vor allem in Osteuropa und Asien. Beide Ziele sind nicht voneinander zu trennen, und gleichzeitig leider auch nicht leicht vermittelbar, weder gegenüber den Arbeitnehmern an den alten Standorten in Europa, noch gegenüber den betroffenen Regierungen. Den Kapitaleignern muss klargemacht werden, dass die Arbeitsverlagerung in Niedriglohnländer allein noch kein Wachstumskonzept ist und dass Investitionen in die Zukunft des Unternehmens für die Entwicklung wichtiger sind als Quartalsergebnisse. Ein derart fundamentaler Transformationsprozess ist nur mit einer integrierten und glaubwürdigen Strategie möglich.
Europäische Unternehmen müssen zu glaubwürdigen und vertrauensbasierten Organisationen werden. Mit ihrer Tradition in Demokratie und dank humanistischen und ethischen Prägungen sind sie dazu viel eher in der Lage, als etwa asiatische Firmen, denen das Image intransparenter Bilanzen, familiärer Partikularinteressen und undurchschaubarer Beziehungsgeflechte anhängt. Glaubwürdigkeit erreicht ein Unternehmen jedoch nur durch einen Führungsstil, der Klarheit in der Zielsetzung, Führungsstärke, Interessensausgleich und Verlässlichkeit im Handeln vorlebt. Vertrauensbasierte Gesellschaften und Unternehmen haben letztlich grosse Wettbewerbsvorteile, weil sie geringere Kontroll- und Prozesskosten haben, da sie ihre Mitarbeiter besser binden und motivieren, und weil der offene Dialog mehr Kreativität fördert. Vertrauensbasierte Unternehmen sind flexibler, reaktionsschneller und damit besser auf die Anforderungen vorbereitet, die die Globalisierung mit der Verlagerung und Reorganisation ganzer Industrien und Wertschöpfungsketten mit sich bringt.