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(3) Mehr Kultur, weniger Staat

Die Wirtschaft ist Bestandteil der Kultur. Es geht bei der privaten Kulturförderung nicht um die Verwirtschaftlichung der Kultur, sondern um die Kultivierung der Wirtschaft und um einen Schutz der Kultur vor der Verpolitisierung und vor der Abhängigkeit von Staatsfinanzen.

Kulturaustausch und Handel sind untrennbar verbunden. Der Handel selbst ist ein Kulturphänomen ersten Ranges. Er betrifft nicht nur materielle Güter, sondern beruht seit je auf dem Tausch im Sinn einer umfassenden Kommunikation. Zu den ersten Handelsgütern der Menschheitsgeschichte gehörten kulturelle Artefakte wie Schmuck und Keramik, die schon früh nicht nur zwischen Nachbarn, sondern über erstaunlich weite Verbindungsnetze ausgetauscht worden sind. Auf denselben Wegen gab es auch einen Austausch an musikalischen und dichterischen Motiven und Stoffen, längst bevor es Radio, Fernsehen und Internet gab.

Jakob Burckhardt hat in seinen «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» (hrsg. von Werner Kaegi, Bern: 1941) drei Potenzen (nicht «Subsysteme»!) unterschieden, die in komplexer Weise aufeinander einwirken und so den Lauf der Weltgeschichte beeinflussen: Staat, Religion und Kultur. Wo bleibt die Wirtschaft? Hat der kultur- und kunstliebende Gelehrte aus grossbürgerlichem Milieu sie schlicht und einfach vergessen? Nein, Wirtschaft, Handel und Technik sind wesentliche Merkmale seines Kulturbegriffs. Kultur ist für Burckhardt «Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften» (S. 74). Die Förderung des «materiellen Lebens» steht sogar am Anfang. Die Agrikultur ist nicht nur ein Bestandteil, sondern sogar einer der Ursprünge der Kultur. Nicht dass das materielle Leben für Burckhardt persönlich im Vordergrund gestanden hätte, aber er war genügend realistisch, um dessen tatsächlichen Stellenwert richtig einzuschätzen. Kultur ist für Burckhardt «die Welt des Beweglichen, Freien, nicht notwendig Universalen, desjenigen, was keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt» (S. 113). Er bedauert, dass der Erwerbssinn, «die Hauptkraft der jetzigen Kultur», die Grenzen zwischen den Aufgaben von Staat und Kultur verrücke. «Man will», so Burckhardt, «die grössten Hauptsachen nicht mehr der Gesellschaft überlassen, weil man das Unmögliche will und meint, nur Staatszwang könne dieses garantieren» (S. 217).

Eine staatliche Förderung dessen, was selbst spontan zur Förderung der Lebensqualität beiträgt, ist aus dieser Sicht eine ebenso umfassende wie auch problematische Sache. Mit der Zuordnung von Wirtschaft und Kultur zu einem Gesamtbereich dessen, «was spontan zustande kommt», ist Burckhardt einmal mehr nicht einfach naiv und veraltet, sondern prophetisch und postmodern. In einer zunehmend auf Dienstleistungen basierenden Wirtschaft geht es nicht mehr primär um die Bewirtschaftung und Kultivierung des Bodens oder um die industrielle Massenproduktion von Gütern, sondern um die Bewirtschaftung und Kultivierung zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie sind je kultivierter, desto nachhaltiger und damit wirtschaftlicher im besten Sinn – übrigens genau wie bei der Agri-kultur.

Dass die real existierende Wirtschaft sich leider häufig mit dem Staat zu einer korporatistischen Private Public Partnership verbindet, schafft vielfältige Abhängigkeiten und ist aus liberaler Sicht weder für die Wirtschaft noch für den Staat noch für die Kultur von Vorteil. Natürlich kommt es auch bei einer engeren Verbindung von Wirtschaft und Kultur zu Abhängigkeiten, aber die Abhängigkeit von einem Netzwerk von Wirtschaftssubjekten und Privatpersonen, die sehr unterschiedliche Ziele verfolgen und in Wettbewerb zueinander stehen, ist für die Kultur weniger riskant als die Abhängigkeit von einem Monopolisten namens Staat.

Wer Wirtschaft und Kultur zu einem einzigen grossen Bereich – «dessen, was spontan zustande kommt» – zusammenfasst, steht vor der Herausforderung, die Rolle des Staates bei der Kulturförderung zu definieren und, wenn er sie als Staatsaufgabe sieht, dies auch zu begründen. Die These «Kultur ist Sache der Kultur» die ich in der NZZ (Nr. 35, 11. Feb. 2005, S.15) aufgestellt habe, ist kein Dogma, sondern eine Beweislastregel. Sie besagt nichts anderes, als der gesamte Bereich der Kulturpolitik sei dem Prinzip der Subsidiarität untergeordnet. Staatliche Interventionen sind, ob nun beschränkend oder fördernd, generell begründungspflichtig. Meist wird das Subsidiaritätsprinzip lediglich als Grundlage einer Aufgabenteilung zwischen Gebietskörperschaften verschiedener Stufen (Gemeinden, Kantone, Bund) wahrgenommen. Die diesbezügliche Kurzformel lautet: So kommunal wie möglich und so kantonal bzw. national, bzw. international wie nötig. So ist es auch im Zusammenhang mit der Kulturpolitik in unserer Verfassung verankert. In erster Linie regelt aber das Subsidiaritätsprinzip die Aufgabenteilung zwischen privaten und staatlichen Trägern. Auch hier gibt es eine Kurzformel: So privat wie möglich und so staatlich wie nötig.

Das Subsidiaritätsprinzip geht also von der Fragwürdigkeit aller staatlichen Eingriffe in nichtstaatliche Bereiche aus. «Frag-würdig» (im ursprünglichen Sinn) heisst aber nicht «absolut unerwünscht». Das Verhältnis von Staat und Nicht-Staat, und die Frage, ob eine lebendige, kreative und machtskeptische Kultur schwergewichtsmässig auf der einen oder auf der andern Seite anzusiedeln sei, ist eine für Staat und Kultur zentrale Frage.

Das Subsidiaritätsprinzip ist fast grenzenlos interpretierbar und darum fast grenzenlos beliebt. Es überbrückt fast alle Meinungsdifferenzen. In der Diskussion der Definition, was im konkreten Fall «möglich» und was «nötig» sei, vertreten Liberale einen staatsskeptischen Standpunkt. Der Staat ist für sie nicht in erster Linie «Freund und Helfer», sondern Zwangsmonopolist und Kontrolleur. Aus dieser Sicht ist Kultur deshalb so weit wie möglich vom Zwang entfernt anzusiedeln und zu pflegen.

Man sollte den Staat als Zwangsmonopolisten weder verniedlichen noch dämonisieren. Die Sorge um eine Kultur ist begründet, die letztlich finanziell von politischem und fiskalischem Zwang abhängt und vom Wohl- oder Übelwollen einer Mehrheit gewählter Volksvertreter. Sollen wir denn alle von Kulturfunktionären zur Kultur gezwungen werden? Müssen Leute, die lieber Fussball schauen, die Oper und die Kunstmuseen via Steuern mitfinanzieren? Die vom Nationalrat beschlossenen 81 Millionen Franken an die Fussball-Europameisterschaft sind allerdings nicht für die Veranstaltungen selbst, sondern zur Gewährleistung der Sicherheit genehmigt worden, und diese gehört immerhin zu den Kernaufgaben des Staates. Aber soll der Staat generell zur Institution verkommen, die Brot und Spiele offeriert, Veranstaltungen, die jeder auf Kosten des andern konsumieren will und dafür die Hände in die Taschen der andern steckt?

Staatliche und parastaatliche Kulturförderer tendieren aufgrund der administrativen Ressortaufteilung oft zu einem allzu engen und möglicherweise antiquierten Kulturbegriff. Für sie ist «Kultur» all das, was von den Kulturämtern als «förderungswürdig» oder als «kulturelle Grundversorgung» definiert wird. Diese Triage ist weder einfach noch unproblematisch. Kultur als Staatskultur oder als staatlich approbierte Kultur – gesetzlich geprüft – ist keine lebendige und kreative und auch keine echt machtkritische Kraft. In dieser Situation wird für die Kultur nicht das Marktversagen, sondern das Staatsversagen zum Hauptproblem. Man kann in Analogie zum Kaputtsparen von Kaputtfördern reden, denn jede Förderung ist mit dem «Zwangs-Förderungsparadox» verbunden, das auf Folgendem beruht:

Der Staat fördert aus dem ganzen Alphabet der Förderungsgesuche nur A, B und vielleicht auch noch C. Gesuche von D bis Z werden abgelehnt und damit auf dem freien Markt der Kulturangebote massiv diskriminiert, weil sie nicht mehr zu den Konditionen von A, B und C Kultur anbieten können. Garantieren die Fachleute beim Staat wirklich, dass die Besten und Kreativsten zu A, B und C gehören, also zu den privilegierten, weil staatlich Geförderten? Ist das Risiko nicht gross, dass es zwischen D und Z noch Besseres gibt? Glücklicherweise ist die Kulturförderung in der Schweiz noch nicht voll zentralisiert, das Staatsversagen kennt unterschiedliche Varianten, und es gibt einen Wettbewerb der Staatsversager. Genau diesen Wettbewerb, den man despektierlich «Kantönligeist» nennt, will man aber nun von Bern aus «zähmen». Glücklicherweise sorgt nicht nur der «Kantönligeist», sondern auch die Vielfalt der Kulturförderungs- und Sponsoring-Philosophien bei Firmen für einen Wettbewerb. Was Migros nicht fördert, hat eventuell bei Novartis eine Chance, wenn sich die Fachleute nicht allzusehr vernetzen und als private public partnership Kulturkorporatismus betreiben. Gegen Zentralisierung spricht im übrigen auch die Tatsache, dass Kultur offenbar ein wichtiger Faktor im wirtschaftlichen Standortwettbewerb ist. Warum soll nun ausgerechnet Bundesbern hier eingreifen und unter dem Stichwort «nationale Kulturförderung» (durch sogenannte Leuchtturmprojekte!) den einen Standort zu Lasten anderer Standorte fördern?

Staatskultur ist eine Begleiterscheinung des Totalitarismus, und staatlich geförderte Kultur lässt sich nur schwer von Staatskultur abgrenzen. Die nationale Kulturförderung ist in der Schweiz, historisch gesehen, ein Kind der «geistigen Landesverteidigung», zu dem sich später die Schwester der Marken- und Standortwerbung «Schweiz» gesellte. Der Traum aller Kulturförderer ist Steuergeld – und dieses möglichst ohne Bedingungen und Auflagen an kulturelle Institutionen auszuschütten. Aber ist dies nicht eine Zumutung an die Steuerzahler? Sie sollen zahlen, und weder sie, noch die von ihnen gewählten Vertreter sollen einen Einfluss auf die Verwendung haben, sondern nur die Kulturexperten?

Es wäre interessant herauszufinden, was denn die staatlichen Kulturfördergelder, dort wo sie eingesetzt werden, tatsächlich bewirkt haben und bewirken. Fliesst nicht vieles letztlich wieder in die Taschen derer, die im Kulturbusiness ohnehin das grosse Geld machen? Je mehr Werke eines Künstlers in öffentlichen Museen hängen, desto höher steigt der Wert ihrer Werke in Privatsammlungen. Beraten werden beide von denselben Fachkreisen. Und auch im Musikbereich lassen sich Subventionen nicht «chemisch rein» von Spitzengagen und von den Gewinnen der Verwertungsindustrie isolieren. Ist das wirklich immer Kulturförderung, wenn man in diesen Kreislauf noch Steuergelder hineinpumpt?

Meine These «Kultur ist Sache der Kultur» wird immer wieder als Leerformel, als Tautologie kritisiert. Aber wessen Sache ist sie denn? Tatsächlich der Kantone? Arme Kultur! Oder des Bundes? Oder der EU? Die Antwort bleibt man mir meist schuldig. Die Präsidentin einer grossen Vereinigung von Kulturschaffenden hatte am Schluss einer Veranstaltung die grosse Erleuchtung. Ihre Antwort auf meine Frage, wessen Sache die Kultur denn nun wirklich sei, lautete: Kultur ist Sache der Menschen! Einverstanden! Und je kultivierter die Menschen sind, desto besser für die Kultur, und desto weniger werden sich diese Menschen für die Kultur zwangsbesteuern und zwangsverpflichten lassen.

Die Meinung, der Staat sei die am besten geeignete Institution, um den Menschen zu kultivieren und die Kultur zu vermenschlichen, vermag ich nicht zu teilen. Die bisherigen historischen Erfahrungen sind zu wenig überzeugend. Wer die Kultur liebt und gegenüber allen Formen des Zwangs skeptisch ist, darf nicht zulassen, dass Kultur zum Bestandteil des service public wird. Kultur sollte auch nicht, als Bestandteil eines weitgehend staatlichen Bildungswesens, zum politisch-volks-pädagogischen Pflichtstoff gemacht werden. Kultur muss sich selbst tragen und sich – in kreativ kritischer Distanz zu allen Mächtigen und unabhängig von Steueraufkommen und Volks- und Parlamentsentscheiden – immer wieder neu und frei entfalten.

Nach so viel Kritik und Skepsis soll abschliessend doch noch jener Bereich hervorgehoben werden, in dem auch aus liberaler Sicht und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips Kulturförderung in einem überwiegend positiven Licht erscheint: die Stadt. Die Städte haben als überlappend politische, wirtschaftliche und kulturelle Institutionen in der Kulturgeschichte eine herausragende Rolle gespielt. Stadt und Staat sind nicht dasselbe, und städtische Kulturpolitik kann auch darum ihren Sinn haben, weil es einen Wettbewerb zwischen Städten gibt, bei dem Kulturpolitik, Wirtschaftsförderung und Standortmarketing im Mittelpunkt stehen. Natürlich sind auch Städte staatliche Institutionen – aber eben nicht ausschliesslich staatliche Institutionen. Wer Ja sagt zur städtischen Kulturförderung hat gute Gründe, um gegenüber kantonalen, nationalen und internationalen Förderprogrammen jene Skepsis anzumelden, die den Grundton dieses Beitrags bestimmt, denn die Motivation der städtischen Kulturträger könnte durch nationale und internationale Beiträge (sogenannte Leuchtturmprojekte) auf die Dauer mehr Abreize als Anreize empfangen. Sollen denn die Basler Bundessteuerzahler in Zürich nach Vorgaben aus Bern die Kultur fördern?

Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Referats, das am 8. April anlässlich der Jubiläumsfachtagung 2006 des Schweizerischen Berufsverbands der Kulturmanager (chcm) zum Thema «Darf Kulturförderung auch Wirtschaftsförderung sein?» an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich gehalten wurde.

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