Master the Disaster
Kommt bald die Quittung für alles? Nicht, wenn wir jetzt mit digitalen Tools und neuen Ideen dagegenhalten. Plädoyer für ein Systemupgrade.
Ich habe mich nicht immer für Krisen interessiert. Aber drei prägende Momente in meinem Forscherleben haben mich für das Thema sensibilisiert. Erstens waren das die frühen Ausläufer des Rechtsextremismus, die in der Universitätsstadt Göttingen schon in den 1980er Jahren zu spüren waren und für mehrere Menschen sogar tödlich endeten. Zweitens der 11. September 2001, an dem ich ungläubig auf die Textnachrichten auf meinem Nokia Communicator und später auf den Fernseher schaute. Und drittens die grosse Elbflut im September 2002, die unter anderem Dresden unter Wasser setzte – einschliesslich der städtischen Katastrophenschutzzentrale, die folglich wegen Stromausfalls nicht einsatzbereit war. Und so begann ich, mich mit der Beschreibung von Krisen, Katastrophen und sogenannten Massenpaniken auseinanderzusetzen.
Las man Katastrophenberichte eingehend, so waren gewisse Gesetzmässigkeiten festzustellen, die immer wieder auftraten. Daher konnte man mögliche Entwicklungen auch voraussagen und proaktive Massnahmen treffen, statt auf die nächste Hiobsbotschaft zu warten und immer zu spät zu kommen. Das ist umso wichtiger, weil bei Katastrophen oft eins zum anderen kommt; es setzt ein Domino- oder Kaskadeneffekt ein. Dadurch werden die Schäden rasch grösser – bei der Finanzkrise von 2007/08 waren sie mindestens 100mal so gross wie nötig! Es geht also darum, die fatale Fehlerkette so früh wie möglich zu unterbrechen, indem man so etwas wie Brandmauern einzieht oder – besser noch – Sollbruchstellen vorsieht, damit das Unglück eben nicht seinen Lauf nehmen kann.
Kalkuliertes Desaster – oder doch nicht?
Doch spätestens als Lehman Brothers pleiteging, lief alles aus dem Ruder. Eine zerstörerische Kettenreaktion setzte ein. Hunderte von Banken gingen pleite. Hunderte von Milliarden an Verlusten folgten. Bald waren ganze Länder betroffen, Griechenland beispielsweise. Und schon 2010 sagten wir voraus, dass diese Entwicklung zu sozialen Problemen und Extremismus führen würde, wenn man sie nicht schnell genug stoppte. Inzwischen ist es so weit. Das «dünne Eis der Zivilisation» droht zu brechen. Warum hatte man nicht auf uns Forscher gehört? Die Entwicklung war doch absehbar!
Und die Digitalisierung? Es hätte alles so schön werden können. Doch dass die Wirtschaft nach dem Motto «Move fast and break things» handelte und die Politik hinter ihr die Scherben aufkehren musste, war keine gute Arbeitsteilung. Europa: viel zu spät dran! Im «Kampf ums digitale Überleben» blieben Überreaktionen nicht aus. «Jetzt machen wir auch Überwachungskapitalismus und Scoring, aber die Turboversion!», schien das Motto zu sein. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die öffentliche Diskussion über Privatsphäre und Menschenrechte im digitalen Zeitalter, über die europäische Datenschutzgrundverordnung, über Ethik und verantwortungsvolle Innovation, über werteorientiertes Design und digitale Demokratie bereits an Fahrt aufnahm.
«Wir müssten Städte und Regionen in Innovationsmotoren verwandeln, in eine Art riesigen Maker Space.»
Heute muss man sich fragen: Haben wir überhaupt noch die Kontrolle über die datengetriebene Gesellschaft, die wir geschaffen haben? Die Sicherheitsvorkehrungen werden ständig verschärft, und doch nehmen Cyberangriffe rasant zu. Derweil sammeln sich in den Cybersecurity-Centern der Welt mehr persönliche Überwachungsdaten, als die Stasi je hatte – sehr viel mehr. Sind jetzt sogar Freiheit, Demokratie und Menschenrechte bedroht?
Gegensteuern – doch wie?
An einer anderen Front scheint der Kampf schon beinahe verloren. In zahlreichen Städten in Frankreich, Österreich und Kanada wurde in den letzten Jahren der Klimanotstand ausgerufen. Über die Probleme, die der Notstandsdiagnose zugrunde liegen, wurde schon vor 50 Jahren diskutiert. Doch nun werden global und auch in den Industriestaaten sogar noch mehr Ressourcen verbraucht als in den 1970er Jahren. Selbst die Digitalisierung konnte den Trend nicht umkehren. Im Gegenteil: Es wird prognostiziert, dass der Energieverbrauch durch digitale Technologien sich bis 2030 vervielfachen und weltweit auf über 20 Prozent des gesamten Stromverbrauchs ansteigen wird!1
Und nun? Kommt jetzt die Quittung für alles, die ganz grosse Krise? Nicht unbedingt. Aber so bleiben wie bisher wird die Welt auf keinen Fall. Das sollte jedem klar sein. Umso verwunderlicher sind die Bemühungen der Verantwortlichen, grundlegende Veränderungen am Geld-, Finanz- oder Wirtschaftssystem zu vermeiden – von der besorgniserregenden, vereinzelten Begeisterung für den technologischen Totalitarismus einmal abgesehen, der momentan in China getestet wird. Viele Bemühungen, alternative Lösungen zu entwickeln, wurden systematisch behindert, während die Öffentlichkeit in der Illusion gewiegt wurde, alles werde immer besser. Eine Krise? Weit und breit nicht in Sicht – zumindest solange wir fleissig weiterkonsumierten! Nachhaltig war das natürlich nicht…
Ein wichtiges Aha-Erlebnis hatte ich 2014 in San Francisco. Zusammen mit dem Wissenschafts- und Technologienetzwerk Swissnex organisierten wir einen sogenannten «Hackathon» – einen Programmierwettbewerb – zum Thema Krisenfestigkeit bei Erdbeben. Im Grunde konnte der Katastrophenfall im Silicon Valley jederzeit eintreten – er war eigentlich schon überfällig. Was also tun? Der Workshop förderte das Konzept der partizipativen Resilienz zutage. Ziel: den Menschen digitale Tools zur Selbsthilfe bereitstellen. Besonders in den ersten drei Tagen nach einer Katastrophe sind Staat und Hilfsorganisationen oft nur eingeschränkt einsatzbereit. Daher gibt es innerhalb dieses Zeitfensters die meisten Todesfälle. Viele davon wären vermeidbar.
Kooperation gegen den Kollaps
Ein Team schlug beispielsweise eine App vor, mit der man zerstörte Brücken und Gebäude sowie andere Probleme dokumentieren und im Internet kartieren konnte. Regierung, Hilfskräfte und Nachbarschaft wüssten so schnell Bescheid, wo die Hilfe am nötigsten ist. Ein anderes Team schlug autonome Ladestationen für Handys vor – soziale Treffpunkte, mit Solardächern ausgestattet –, denn in der Krise fällt ja der Strom meist aus. Die Kommunikation kann mit dezentralen Ad-hoc-Netzwerken aufrechterhalten werden, die übrigens auch Demonstranten in Hongkong erfolgreich nutzen. Ein weiterer App-Vorschlag war darauf ausgerichtet, eine lokale Sharing Economy am Laufen zu halten. So sollten sich die Menschen in der Nachbarschaft gegenseitig helfen können. Die Überlebenschancen in der Krise würden generell deutlich steigen, wenn die Menschen nur lernten zu kooperieren.
Bei der Verbesserung der Resilienz von Gesellschaften und Gemeinschaften – also der Krisenfestigkeit und der Fähigkeit, sich an unerwartete Entwicklungen anzupassen – können mehrere Dinge helfen: Diversität, Dezentralität, Partizipation und neue Technologien, beispielsweise sogenannte «Maker Spaces». Das sind die Bastelwerkstätten des digitalen Zeitalters, in denen man sich gegenseitig beibringt, wie man mit 3D-Druckern und Lasercuttern Dinge selber herstellen kann, Werkzeuge etwa – oder gleich ganze Maschinen. Eigentlich sollten wir energieautonome Maker Spaces in jedem Stadtviertel haben. Ich staune immer wieder, wie wenig getan wird, um sich auf andere Verhältnisse einzustellen. Dabei ist oft genug gesagt worden, was getan werden kann.
Da es keine Patentlösung gibt, muss mehr experimentiert werden. Lokale Experimente müssen gewagt und ausgewertet, die Erfahrungen geteilt werden. Durch «Open Innovation» kann man voneinander lernen und sich gegenseitig helfen. «Glokalisierung» nennt man das. Ko-Kreation, kombinatorische Innovation, kollektive Intelligenz und Ko-Evolution sind die neuen Erfolgsprinzipien.
Wir müssen die besten Köpfe zusammenbringen
Wir müssten Städte und Regionen in Innovationsmotoren verwandeln, in eine Art riesigen Maker Space. Warum veranstalten wir nicht Städteolympiaden: freundschaftliche Wettbewerbe zwischen Städten und Regionen, in denen neue Lösungen zu Weltproblemen wie Klimawandel, Energieeffizienz, Resilienz und Nachhaltigkeit entwickelt, ausprobiert und angewandt werden? Die besten Lösungen würden dann prämiert. Alle Lösungen wären «Open Source», also frei zugänglich, da steuerfinanziert, und könnten von allen Städten und Regionen genutzt werden. Unternehmen jeder Grösse, Nichtregierungsorganisationen, Forschungseinrichtungen, Bürgerinnen und Bürger könnten sie weiterentwickeln und beliebig kombinieren. Würden so nicht die besten Ideen weltweit zum Zug kommen und miteinander vernetzt? Es würde kollektive Intelligenz gefördert statt ein «Jeder gegen jeden».
Wenn Sie zwischen Krise und Kooperation wählen müssten: Was würden Sie wählen? Tja, dann ist es wohl an der Zeit, die Art und Weise zu ändern, wie wir unsere Gesellschaft organisieren. Wenn uns die Digitalisierung eines lehrt, dann das: Digitale Ressourcen sind nicht strikt begrenzt. Es lassen sich leicht und billig Kopien herstellen. Die Welt müsste nicht mehr von Mangel geprägt sein. Informationen zu teilen, kann sie sogar noch wertvoller machen. Und nun lernen wir, dass Ähnliches sogar für die materielle Welt gilt, wenn wir nur eine Sharing Economy und eine Kreislaufwirtschaft kreieren.
Hierbei können wir daraus lernen, wie Ökosysteme organisiert sind. Sie basieren oft auf erstaunlich effizienten Stoffkreisläufen. Das Geheimnis: multiple Rückkopplungen. So etwas können wir nun auch bauen – durch Kombination von Messnetzwerken mit lokalen, multiplen Anreizsystemen. Das Internet der Dinge, richtig eingesetzt und mit einem neuartigen Finanzsystem kombiniert, würde es ermöglichen, effiziente Lösungen mit nachhaltigen und sozialverträglichen Lösungen zu kombinieren. Wohlstand, Nachhaltigkeit und Demokratie müssen sich nicht widersprechen. Wir benötigen aber ein Systemupgrade, damit sie sich gegenseitig verstärken können. Es ist höchste Zeit, das anzupacken, bevor tatsächlich die Mutter aller Krisen vor der Tür steht.