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Marx heute II: Ideologiekritik

Über Thilo Sarrazin und sein Buch «Der neue Tugendterror» (DVA, 2014) die Nase zu rümpfen, ist ein Leichtes. Und ebenso leicht ist es, über jene die Nase zu rümpfen, die über Sarrazin die Nase rümpfen. Nur so viel vorweg: die Seele des deutschen Publizisten Sarrazin ist gekränkt, weil er von sich demokratisch nennenden Diskursverweigerern daran […]

Über Thilo Sarrazin und sein Buch «Der neue Tugendterror» (DVA, 2014) die Nase zu rümpfen, ist ein Leichtes. Und ebenso leicht ist es, über jene die Nase zu rümpfen, die über Sarrazin die Nase rümpfen.

Nur so viel vorweg: die Seele des deutschen Publizisten Sarrazin ist gekränkt, weil er von sich demokratisch nennenden Diskursverweigerern daran gehindert wird, coram publico zu sprechen. Verständlich, dass der Verleumdete nun zurückschlägt. Solche Scharmützel bedeuten für Nichteingeweihte jedoch bloss bedingten Erkenntnisgewinn. Zweitens: der ganze Sarrazinsche Diskurs über die Not einer Gesellschaft, die sich nicht mehr aus eigenen Kräften zu reproduzieren vermag, atmet den Geist eines unheimlichen Kollektivismus (auch wenn Politiker aller Couleur den Mehr-Sex-für-die-Rettung-der-AHV-Diskurs mit Blick auf die Altersvorsorge selbst hierzulande gerne bewirtschaften). Jedenfalls existiert bisher kein Verfassungsauftrag zur gesellschaftlichen Reproduktion – die einzelne Frau darf bis auf weiteres selber darüber entscheiden, ob sie Kinder in die Welt setzt oder nicht.

Niederschreien und Fortpflanzung: auf diese beiden Punkte will ich hier also nicht näher eingehen. Interessant scheint mir vielmehr der zweite Teil seines Buches und sein Versuch, einen «Verblendungszusammenhang» zu beschreiben, um es mit Adorno zu sagen, einen «ideologischen Vorhang, hinter dem sich das reale Unheil zusammenzieht». Die Ideologie heisst «Egalitarismus». Damit ist nicht die «Gleichheit vor dem Gesetz» gemeint und ebenso wenig die «Chancengleichheit», auch nicht die «Gleichwertigkeit», sondern ein Gleichheitsdenken, das «alle Unterschiede zwischen Menschen, Religionen und sozialen Gruppen» verneint.

Sarrazin verwendet einen präzisen Begriff: es geht um die Ideologie des «Gleichheitspostulats». Der egalitaristische Diskurs ist offen normativ. Was noch nicht ist, muss werden.

Demnach stellt der Mensch ein Neutrum dar, ein Atom, eine leere Schiefertafel. Er ist beliebig form- und manipulierbar – oder anders gesagt: er ist ein reines Produkt der Umstände, der Erziehung, der Umgebung, des Kollektivs. Unterschiede sind nicht zufällig und wirken produktiv, sie sind letztlich stets gesellschaftlich fabriziert, also gewollt, und bezwecken bloss eins: Unterdrückung. Wenn sie gesellschaftlich fabriziert sind, lassen sie sich auch beliebig revidieren, sofern die Gesellschaft nur will. Ich habe bereits in meinen letzten «Scheuklappen» darauf hingewiesen: Dies ist der Kern des Marxschen Diskurses über gesellschaftliche Tatbestände, sein «prometheischer Stolz» (Raymond Aron). Er schmeichelt dem Machbarkeitswahn des Menschen.

Wer die menschliche Realität unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, argumentiert automatisch moralisch. Für jede Differenz im Verhalten, in der Intelligenz, in der Leistung, in der Begabung, im Charakter der Menschen ist die Gesellschaft verantwortlich. Alles könnte auch anders sein – wenn es dies nicht ist, dann nur, weil dies jemand verhindern will. Der moralisch-egalitäre Diskurs ist stets latent paranoid. Daher rührt auch der inflationäre Gebrauch von Begriffen wie «Rassismus» oder «Diskriminierung». Ein Rassist ist nicht, wer soziale Phänomene anhand kruder pseudowissenschaftlicher Analogieschlüsse aus der Biologie erklärt, sondern wer überhaupt konstatiert, dass es Unterschiede gibt, die sich nicht diskursiv wegerklären lassen. Und so haben wir heute einen Rassismus des Geschlechts, der Intelligenz, des Alters oder der Religion. Wer es wagt, den Egalitarismus in Frage zu stellen, ist ohnehin ein Rassist. Und wer möchte das schon sein? Wer sich das Leben nicht unnötig schwer machen möchte, hält darum am besten den Mund.

Wer die Welt aus dieser ideologischen Warte betrachtet, ist immer schon aufgefordert zu handeln. Sie bloss zu beschreiben, ist ein Akt der Feigheit. Legitim ist einzig, sie im positiven Sinne zu verändern. Dabei heiligt der moralische Zweck die Mittel – es geht nicht um Wahrheit, es geht um moralischen Fortschritt. Die Welt ist, wie sie sein soll, die Weltsicht immun gegen jede Form des Widerspruchs, die bloss aus der reaktionären Ecke stammen kann. Sind jene, die Sarrazin etwas gar pathetisch die «Tugendterroristen» nennt, womöglich einfach die neuen Spiesser?

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