Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Martin Disler – Höhlenbilder für die Gegenwart

Ein vom malträtierten Körper gerissener, blutender Kopf, ein dreibrüstiger weiblicher Torso, eine monumentale Vase, ein Boot, sexualisierte Männchen, ein Skelett, ein Pferd und anderes Getier, ein sinkendes Schiff, eine feuerrote Sonne, ein stürzendes Haus und Gewehre bevölkern in einem albtraumhaften Taumel das vermutlich längste Leinwandgemälde der Schweizer Kunstgeschichte. Die Dispersionsmalerei auf Nessel ist 140 Meter […]

Ein vom malträtierten Körper gerissener, blutender Kopf, ein dreibrüstiger weiblicher Torso, eine monumentale Vase, ein Boot, sexualisierte Männchen, ein Skelett, ein Pferd und anderes Getier, ein sinkendes Schiff, eine feuerrote Sonne, ein stürzendes Haus und Gewehre bevölkern in einem albtraumhaften Taumel das vermutlich längste Leinwandgemälde der Schweizer Kunstgeschichte. Die Dispersionsmalerei auf Nessel ist 140 Meter lang und gut viereinhalb Meter hoch. Martin Disler malte den zum Rundbild gefügten gigantischen Bildstreifen «Die Umgebung der Liebe» im November 1981 in nur vier Nächten im quadratischen Ausstellungssaal des Württembergischen Kunstvereins in Stuttgart. Ausserordentlich wirkungsvoll ist das Werk nicht nur wegen seiner Dimension und der ein Panorama kennzeichnenden Endlosigkeit des Bildes, sondern mehr noch durch die Direktheit und Masslosigkeit in der Darstellung von Erotik und Gewalt, die vor allem die junge Generation zu einer Zeit europaweit aufflammender Jugendrevolten euphorisch reagieren liessen. Stellvertretend für all die gescheiterten Versuche vieler Jugendlicher, den öffentlichen Raum der Städte mit ihrer Kreativität zu erobern, nahm Disler den Stuttgarter White Cube mit seiner raumgreifenden Geste ganz unbescheiden für seine ureigene Bildwelt in Besitz, die manche auch als die ihre empfinden mochten. Mit seiner alles andere als mehrheitsfähigen Ikonographie verweigert sich das Panorama jeder Anbiederung, widersetzt sich mit seinem Format sogar erfolgreich einer Vereinnahmung durch den Kunstbetrieb. Viele der damals verfassten Rezensionen wirken denn auch weniger wie Kunstkritiken als wie Beschreibungen eines Happenings für Eingeweihte. Bezeichnenderweise trug die zweite und bisher letzte Präsentation des Werkes, die 1987 ebenfalls im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart stattfand, den für ein Gemälde eigentlich widersinnigen Titel «Wiederaufführung», um die schiere Gegenwärtigkeit des Bildgeschehens zu betonen.

In den späten 1970er und den 1980er Jahren gehörte der 1949 im solothurnischen Seewen geborene Martin Disler zu den bedeutendsten Schweizer Kunstschaffenden. Als er nach einem exzessiven Leben und rastloser Arbeit als Dichter, Zeichner, Maler, Druckgraphiker und Plastiker 1996 im Alter von erst 47 Jahren an den Folgen eines Hirnschlags starb, stand er schon ein paar Jahre nicht mehr im Zentrum des auf permanente Aktualität fixierten Kunstbetriebs. Seine expressive Kunst und seine demonstrativ gelebte Künstlerexistenz, die ihm einst Omnipräsenz, Erfolg und gar Kultstatus garantierten, galten nun als anachronistisch. Mit seinem kühnen Stuttgarter Auftritt von 1981 war der 32jährige einst zu einer der Leitfiguren neoexpressiver Malerei avanciert, die nach 1980 den globalen Kunstmarkt zu beherrschen begann. Auch wenn diese Assoziation seiner internationalen Karriere sehr förderlich war, stand ihr Disler skeptisch gegenüber. Nicht nur reagierte er stets empfindlich auf alle Versuche, seine Kunst für marktfähige Strömungen zu beanspruchen; er beanspruchte darüber hinaus nach mehr als einem Jahrzehnt mehr oder weniger einsamen Arbeitens die Anciennität auf dem Gebiet subjektiv-heftiger Malerei für sich.

Aufgrund seines Jahrgangs galt Disler vornehmlich der Schweizer Kritik als «Ahnherr» der sogenannten Jungen Wilden, die nur wenig jünger waren als er. Mehr als die paar Lebensjahre trennte ihn jedoch von ihnen seine künstlerische Haltung. Ironie und Zynismus, wie sie die rotzigen Bilder der «Mülheimer Freiheit» in Köln prägten, waren ihm nicht weniger fremd als die Thematisierung erotischer Praxis innerhalb einer spezifischen sozialen Gruppe, der das Interesse von Berliner Vertretern heftiger Malerei galt. Im Unterschied zu diesen akademisch geschulten Künstlern war Disler Autodidakt. Gerade der Mangel der fehlenden akademischen Ausbildung stellte sein grösstes Kapital dar; denn er verstand die Vermeidung jeder herkömmlichen Bildsprache zugunsten einer kompromisslos persönlichen Ausdrucksweise als Voraussetzung echter Kunst.

Es erstaunt daher nicht, dass er selbst sich auf seinem ehrgeizigen und leidenschaftlichen künstlerischen Egotrip lange in eine Aussenseiterposition gedrängt sah. Allerdings fand er, der zuerst als Dichter hatte reüssieren wollen und dann als Zeichner an die Öffentlichkeit trat, in der Region Olten, wo er zusammen mit seiner Partnerin, der Künstlerin Agnes Barmettler lebte, und auch in der übrigen Schweiz rasch die Unterstützung und Förderung wichtiger Persönlichkeiten. Neben Agnes Barmettler gehörte die junge Galeristin Elisabeth Kaufmann ebenso dazu wie der Oltner Museumsleiter Paul Meier und der Literaturwissenschafter Peter André Bloch neben einigen treuen Sammlern. Früh nahmen ihn auch der Galerist Pablo Stähli und Jean-Christophe Ammann, damals Konservator des Kunstmuseums Luzern, unter ihre Fittiche. Ammann integrierte Disler 1976 in die Ausstellung «Mentalität: Zeichnung» und unterstrich damit seine bedeutende Stellung innerhalb der jungen Schweizer Kunst. 1980 ermöglichte er dann dem inzwischen in Zürich, dem unbestrittenen Zentrum des aktuellen künstlerischen Geschehens, lebenden Disler eine grosse Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel. Sie stellte nicht nur die Quintessenz seines ganzen bisherigen Schaffens dar, sondern das Initialereignis seines enormen internationalen Erfolges in den achtziger Jahren.

«Invasion durch eine falsche Sprache» nannte Disler seine Ausstellung und lieferte mit dem Titel eine griffige Formel für sein Konzept von Kunst als Kommunikationsmittel. Falsch – in Bezug auf vorgeprägte Muster des Sprechens und Verstehens – muss die Sprache der Kunst sein, um überhaupt zu Aussagen jenseits des beschränkten Bezirks kultureller Konventionen vorstossen zu können. Und «Invasion» steht für die Notwendigkeit der Überwältigung durch Masslosigkeit in der Quantität und der Heftigkeit des Ausdrucks, einer Überwältigung, die den Künstler wie die Betrachtenden betrifft und somit die verbindende, kommunikationsstiftende Basis darstellt.

Dislers in obsessiv anmutenden Schüben erarbeitete bildkünstlerische Glossolalie wirkte, nimmt man die Resonanz auf die Basler und im Jahr darauf auf die Stuttgarter Ausstellung zum Beleg, wie ein Pfingstwunder. Seine «falsche Sprache» wurde rasch zum allgemein verständlichen Idiom und schliesslich zur Verkehrssprache der internationalen Kunstszene und Disler selbst zur zentralen Lichtgestalt der Schweizer Kunst. Armin Wildermuth, der St. Galler Philosoph und Theoretiker der Transavantgarde, erhob ihn gar zum «Subjekt dieser Zeit über alles Private hinaus».

Zu Dislers Status eines «David Bowie vom Jurasüdfuss» (Ludmila Vachtova, 1997) trug ab 1980 die Publikation seines schmalen Bändchens «Bilder vom Maler» bei, in dem er unter anderem die Ereignisse um die Basler Ausstellung literarisch verarbeitete. Diese Sammlung von disparaten Texten, die Regula Krähenbühl in der jüngst erschienenen Monographie zum Genre der «literarisch verfassten Künstlerschriften» zählt, wurde enthusiastisch aufgenommen und erfuhr bis 1983 drei Auflagen. Die Kritik las «Bilder vom Maler» verständlicherweise, wenn auch in verkürzender Sicht, als Autobiographie des Künstlers und gar als Schlüsseltext zum Verständnis der Kunst um 1980. «Es dürfte gültiges Dokument der Empfindungs- und Erlebnisdimension einer ganzen Malergeneration zu Beginn der 80er Jahre sein», war der Kunstkritiker Christoph Schenker überzeugt. Gleichwohl begegnete er, als einer von ganz wenigen, dem Buch auch mit leiser Skepsis. Als problematisch beurteilte er vor allem die radikale Ichbezogenheit des Künstlers, die im Willen zum Ausdruck kommt, den eigenen Körper als autonom agierende schöpferische Instanz zu etablieren. Dies berge die Gefahr in sich, dass sich die Aussagekraft der Werke auf den Körper des Künstlers beschränke. Das Bild des Künstlers, wie es in «Bilder vom Maler» entworfen und von der zeitgenössischen Kritik affirmativ kolportiert wurde, ging aber zugleich von der überindividuellen Verbindlichkeit dieser vorbehaltlos subjektiven Kunst aus. Der Künstler erhält somit die Rolle des für alle Menschen stellvertretend empfindenden, leidenden und schaffenden Mediums, eine Rolle, die ebenso romantisch ist wie sie esoterische und sendungsbewusste Züge besitzt. Dies erschliesst sich aus einem Text in «Bilder vom Maler», der einen troglodytischen Künstler schildert; einsam und zwanghaft malt er in einer Höhle – dem ins Düstere gewendeten Topos des Elfenbeinturms – und opfert sich zum Wohl der Menschen auf. Darauf antwortet die oft zitierte Erzählung auf der vorderen Umschlagklappe, in der ein Maler wie ein Popstar in einem Stadion auftritt. Über einen Computer nicht nur mit den im Stadion Anwesenden, sondern zugleich mit Fernsehzuschauern in der ganzen Welt verbunden, wird er von deren ihm elektronisch übermittelten Wünschen, Ängsten und Sehnsüchten, die er willenlos wie ein Medium in Malerei umzusetzen hat, regelrecht zu Tode gehetzt.

Dass Disler, unbedrängt vom Publikum, in einer selbstauferlegten, scheinbar kaum zu bewältigenden Prüfung durchaus mit Bravour bestehen konnte, bewies er mit seinem Stuttgarter Monumentalwerk «Die Umgebung der Liebe» und anderen malerischen Parforceleistungen. Seine literarische Selbststilisierung zum «heiligen Sebastian» der Kunsthallen tradierte aber den längst als anachronistisch entlarvten Mythos vom Künstler als Opfer der Gesellschaft. Dislers frühes Interesse für den poète maudit Arthur Rimbaud und seine wiederholten Referenzen auf die «verbotenen, verfolgten und gemarterten Dichter und Künstler», wie den paradigmatischen Outsider Antonin Artaud, überrascht deshalb nicht. Zugleich kommt schon in «Bilder vom Maler» sein Widerstand gegen jede Vereinnahmung durch das Publikum und vor allem den Kunstmarkt zum Ausdruck, auf dem er in den achtziger Jahren selbst ausgesprochen erfolgreich agierte. In seinem Vortrag mit dem pathetischen Titel «Der letzte Künstler des Jahrtausends», den er 1988 an einer Tagung zum Thema «Kunst als Ausdruck der Unternehmenskultur?» anlässlich der Basler Kunstmesse «art» hielt, verwahrte er sich dann erneut gegen einen Kunstbetrieb, in dem der Künstler zum Gladiatoren degradiert wird, der seine Aufgabe als Entertainer zu erfüllen hat, gleichviel, ob er heldenhaft reüssiert oder elend scheitert. Noch in seiner letzten Gruppe von Gemälden machte er 1995 den zwiespältigen sozialen Status des Künstlers zum Thema. Die bezeichnenden Titel lauten «Tanzauge» und «Verleihung der Narrenkappe».

Ein Jahr nach Dislers Tod schrieb die Kunstkritikerin Ludmila Vachtova 1997 im Zusammenhang mit einer Ausstellung der letzten Aquarellserie des Künstlers: «Alles, auch das Nichtbiographische, wird in Ich-Form interpretiert und zu einem … Solipsismus geführt: Die Welt ist Disler.» Schon in den siebziger Jahren hatte seine offensive Introspektion bisweilen Irritationen ausgelöst. Wiederholt rückte man die krud handschriftlichen Notate seiner subjektiven Bildzeichen und die gestisch gemalten Figurenrudimente denn auch in die Nähe des Art brut. Anders als einige seiner damaligen Kollegen, wie Peter Fischli und David Weiss, Urs Lüthi und Jean-Frédéric Schnyder, die sich selbst und die Welt mit demonstrativer Lakonik oder mit distanzierender Ironie betrachteten, geriet Disler nach dem abrupten Ende der Euphorie um die neoexpressive Malerei gegen Ende der achtziger Jahre aus dem Fokus des sich wandelnden Kunstbetriebs. Dennoch bestand er weiterhin auf der Produktivität des künstlerischen Regresses auf atavistische Zustände. Es sei gerade am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die Pflicht des Künstlers, «der Computerkultur das modernste Höhlenbild an die Wand [zu] malen, das aus der tiefsten Erinnerung eines kollektiven Körperbewusstseins hervorgeholt wird», schrieb er 1985. Der Troglodyt ist für Disler also nicht der weltvergessene Einsiedler, sondern ein Forschender nach der «universalen Sprache», die in Zeiten «steigende[r] Spannung zwischen Süden und Norden» ein notwendiges Gegengewicht der Verbindlichkeit zu den allgegenwärtigen, aber ephemeren elektronischen Bildern darstelle.

Das mag plakativ formuliert sein und vermag eine Bemerkung Harald Szeemanns über «visionäre Schweizer» nicht ganz zu entkräften, zu denen er auch Martin Disler zählte, den er 1991 in seine gleichnamige Ausstellung aufnahm. Die Schweizer Gesamtkunstwerker unterschieden sich, so Szeemann, von ihren deutschen, italienischen und russischen Kollegen durch das «Fehlen der sozialen Dimension in ihrem Hang zum Umfassenden». Statt gesellschaftspolitische Utopien zu formulieren, nähmen sie das «Pathos ins eigene Ich zurück, leiteten die Aussenwelt mit Appellen fehl, um das eigene Gemach um so intensiver zu bearbeiten. Verletzlich.»

Dislers Rhetorik eines Erniedrigten und Beleidigten scheint diese Aussage zu bestätigen. Die mit unverhohlener Aggressivität dargestellte Verwundung und Verstümmelung des Körpers und ebenso die Verbildlichung triebhaft ausgelebter Sexualität sind jedoch nicht bloss Ausdruck der eigenen, nach aussen gewendeten exaltierten Emotionalität. Sie sind vielmehr positiv verstandene, radikalisierte Chiffren des zwischenmenschlichen Austauschs. Auch wenn er tatsächlich, wie die meisten Künstler seiner Generation, keinen konkreten Gesellschaftsentwurf lieferte, besitzen seine Zeichnungen und Gemälde somit doch einen utopischen und sozialen Gehalt. Dieser besteht im Glauben, dass erst die hemmungslos egozentrische Perspektive auf die Welt ein Bild zu einem wahren Bild macht, das die Menschen in ihrem Innersten zu berühren und damit für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen zu öffnen vermag. In der erwähnten neuen Monographie hat denn auch Beat Wismer, langjähriger Direktor des Aargauer Kunsthauses, darauf insistiert, Disler als engagierten Maler «moralischer» Bilder zu sehen, der auf Krieg, aber auch auf gesellschaftliche Verwerfungen in der eigenen Umgebung – wie die Drogenszene und AIDS – mit eindringlichen Werken reagierte.

Die drei grossen Leinwände, die Disler 1982 für die Kasseler documenta 7 in seinem New Yorker Atelier gemalt hat und die Anfang 2007 anlässlich der Retrospektive im Aargauer Kunsthaus zum erstenmal seit einem Vierteljahrhundert wieder zusammen ausgestellt waren, sind solche Manifeste der Untrennbarkeit von Selbstbespiegelung und wacher Zeitgenossenschaft. Ihre Titel – «Killing of a Pregnant Woman», «El Salva Pietà» und «Opening of a Mass Grave» – reagierten auf Berichte und Bilder vom Bürgerkrieg in Zentralamerika, ohne dass die Gemälde ein konkretes Ereignis illustrieren würden. Mit der souveränen Variation im Kolorit und im Grad der graphischen Konkretisierung der durch die Titel festgelegten Motive präsentieren sie sich zugleich als stolze Belege erreichter Meisterschaft eines noch jungen Künstlers, der sich vom autodidaktischen Aussenseiter zum Teilnehmer an der weltweit wichtigsten Ausstellung für Gegenwartskunst hingearbeitet hat. Der Bedeutung der Ausstellung entsprachen neben den gewichtigen Themen und den monumentalen Formaten der Leinwände vor allem die sonst kaum je so deutlich vorkommenden Referenzen auf die Kunstgeschichte.

Disler griff einerseits für den Titel und das Motiv eines Bildes auf den traditionellen christlichen Typus der Pietà zurück, so wie man die triptychonartige Werkgruppe insgesamt als Darstellung einer profanen Passionsgeschichte ohne das Moment der Erlösung auffassen kann: Tötung, Beweinung, Graböffnung. Anderseits erinnert die Mitteltafel «Opening of a Mass Grave» mit ihrem Format von mehr als sieben Metern Breite und der dynamischen Komposition sich überschneidender Schrägen unweigerlich an Picassos Gemälde «Guernica», eines der berühmtesten Protest- und Anklagebilder der Kunstgeschichte. Es bietet sich als Referenz für Disler an, nicht nur weil es ebenfalls – für die Pariser Weltausstellung 1937 – als Ausstellungsbild entstanden, sondern vor allem weil es über den Bezug auf den konkreten Anlass hinaus zu einer allgemein verständlichen Allegorie des massenhaften, sinnlosen Opfertodes mit universalem Rezeptionspotential geworden ist. Disler entpolitisierte seine «Historienbilder» aber weit stärker, indem er mit der körperzentrierten, aktionistischen Malerei, die er in den achtziger Jahren kultivierte, die Aussage in den «vegetativen» Bereich emotionalen Erlebens und unbewussten Agierens verlagerte. Dargestellt sind denn auch nicht Individuen, sondern entpersönlichte Köpfe und jeder physischen Integrität spottende Körperfragmente in einem dramatischen Taumel. Im «Bild ohne Anfang und Ende», wie Disler die ein Jahr zuvor entstandene «Umgebung der Liebe» charakterisierte, fügen sie sich zu einem skurrilen Welttheater der Gewalt und des Eros.

Ende 2006, genau ein Vierteljahrhundert nach der Entstehung des Werkes und ein Jahrzehnt nach dem Tod des Künstlers, erwarb die Eidgenössische Gottfried-Keller-Stiftung «Die Umgebung der Liebe», Martin Dislers harmonieferne Vision der condition humaine. Die Stiftung erachtete den Kauf nach eigenem Bekunden als «spektakulär» und als einen der «fulminantesten» in ihrer Geschichte, womit dem Gemälde nun gleichsam auch offiziell der Rang des epochalen Kunstwerks zuerkannt und sein Maler zum Klassiker der Schweizer Kunst geadelt wird.

Eine vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft betreute Werkdatenbank und Web-Dokumentation zu Martin Disler findet sich unter www.martin-disler.ch. Anfang Jahr erschien bei Scheidegger & Spiess die von Franz Müller herausgegebene Monographie «Martin Disler: 1949–1996».

Franz Müller, geboren 1962, ist Kunsthistoriker und arbeitet am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK) in Zürich.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!