
Margaret Thatchers vergessene Weisheit: Warum Liberale und Konservative einander brauchen
Die «Iron Lady» war eine einsame Radikale, die sich gegen das etatistische Establishment auflehnte. Ihr Vermächtnis erinnert uns daran, dass Verfechter des freien Marktes nur dann gewinnen können, wenn sie sich mit Konservativen gegen die Feinde der westlichen Zivilisation zusammentun.
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Margaret Thatcher, die heute 100 Jahre alt geworden wäre, war nie eine konservative Politikerin im klassischen Sinn. Die Vorstellung, dass die Treue zu ihrem Andenken eines Tages als Massstab für die Orthodoxie der britischen Konservativen gelten würde, hätte sie ebenso überrascht wie ihre Kritiker. Sie sah sich in gewisser Weise als Gegnerin ihrer eigenen Regierung, als einsame Radikale, die ihre Reformen gegen ein pessimistisches und etatistisches Establishment durchzusetzen versuchte. Und sie hatte nicht ganz unrecht. Ihre Abgeordneten duldeten sie, solange sie erfolgreich war, wandten sich aber gegen sie, sobald sie ins Straucheln geriet.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits gezeigt, dass ihre Massnahmen funktionierten. Grossbritannien, das in den 1970er-Jahren das tiefste Wirtschaftswachstum in Westeuropa aufwies, stieg in den 1980er-Jahren zum Land mit dem zweitstärksten Wachstum auf. (Nur Spanien, das von einem noch niedrigeren Niveau aus startete, wuchs schneller.) Selbst die Labour Party musste eingestehen, dass freier Wettbewerb, weniger Regulierung und niedrigere Steuern den Menschen mehr Wohlstand bringen. Aber weder Labour noch die gemässigten Tories haben jemals wirklich verstanden, warum der Thatcherismus funktionierte. Ihre Einstellung zu Thatchers wirtschaftlichem Erbe glich der Haltung wilder Stammesangehöriger gegenüber einem Artefakt, das ihnen von einer höheren Zivilisation hinterlassen wurde – respektvoll, aber verständnislos.
Ein ungleiches Paar
Thatchers Vorstellung des Manchesterliberalismus hat sich nie in der Konservativen Partei durchgesetzt. Bestenfalls bildete sie eine bedingte Allianz mit dem Mainstream-Toryismus – eine ungleiche Allianz, wie man hinzufügen sollte, denn die Verfechter des freien Marktes waren immer in der Minderheit.
Thatcher war wie eine Reiterin auf dem Rücken eines riesigen Elefanten. Das Tier wurde von seinen eigenen Instinkten getrieben – Patriotismus, religiöser Glaube, Respekt vor Hierarchien, Abneigung gegen Unanständigkeit, Unbehagen gegenüber sozialen Veränderungen. Ein geschickter Reiter konnte ihm zureden, ihm ins riesige Ohr flüstern, es hierhin oder dorthin lenken – aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Thatcher wusste, dass sie nicht zu hart zupacken durfte. In jedem Jahr ihrer Amtszeit als Premierministerin gab es zum Beispiel einen Nettoanstieg der öffentlichen Ausgaben (auch wenn die Wirtschaft insgesamt schneller wuchs als der Staat).
Wie kam sie überhaupt dazu, sich auf die Schultern dieses grossen Tieres zu schwingen? Schliesslich waren Konservatismus und Liberalismus traditionell die beiden gegensätzlichen Pole unseres Parteiensystems, die sich über Jahrhunderte hinweg gegenseitig abgestossen hatten, sei es als Konservative und Liberale oder als Tories und Whigs.
Was Thatcher nach drei Jahrhunderten der Feindschaft zusammenbrachte, war der Aufstieg des Sozialismus. Konfrontiert mit einer enteignungsfreudigen Labour Party im Inland und mit der Roten Armee im Ausland, begruben Konservative und Liberale ihre Differenzen. In westeuropäischen Ländern mit proportionalen Wahlsystemen blieben sie in der Regel in getrennten und konkurrierenden Parteien, wenn auch oft als Koalitionspartner. Im angelsächsischen Raum hingegen, wo das Mehrheitswahlrecht ein Zweiparteiensystem förderte, mussten sie Wege finden, sich zusammenzuschliessen.
In den USA waren Parteizugehörigkeiten bis dahin vor allem eine Frage der regionalen Loyalitäten gewesen, aber in den 1950er-Jahren begann sich eine kohärentere Rechte zu bilden. Die Neuausrichtung wurde von William F. Buckley vorangetrieben, dem brillanten, gutaussehenden und charismatischen Herausgeber der «National Review», der der Meinung war, dass Verfassungsrechtler, Patrioten, Libertäre, Christen und andere sich gemeinsam gegen die sowjetische Bedrohung stellen müssten. Diese Idee wurde als «Fusionism» bekannt. Obwohl sie Kritiker hatte (der mächtige konservative Intellektuelle Russell Kirk argumentierte, dass er mit Libertären noch weniger gemeinsam habe als mit Sozialisten), funktionierte sie und ebnete den Weg für den Aufstieg von Ronald Reagan.
Etwas Ähnliches passierte zur gleichen Zeit in Grossbritannien. Ralph Harris, der Gründer des Institute of Economic Affairs, erzählte mir kurz vor seinem Tod, dass er und seine wirtschaftsliberalen Mitstreiter nach dem Untergang der Liberalen Partei bei den Wahlen von 1950 vor einer wichtigen Entscheidung gestanden seien. Einige wollten sich aus der Politik zurückziehen, sich gegenseitig bei der Mont Pèlerin Society Vorträge vorlesen und die Reinheit ihrer Lehren bewahren wie Mönche, die im Mittelalter mühsam Handschriften kopierten. Harris interessierte sich aber nicht für Ideen, die nicht umgesetzt werden konnten. Der fröhliche Pfeifenraucher meinte, die Freunde der Freiheit müssten mindestens eine der beiden potenziellen Regierungsparteien zu erobern versuchen.
Die Konservative Partei war damals aristokratisch, imperialistisch und akzeptierte die Schaffung von Attlees staatlichen Monolithen. Also machten sich Harris und seine Kollegen daran, einige der aufstrebenden Abgeordneten zu überzeugen: Enoch Powell, Geoffrey Howe, Nick Ridley und vor allem Keith Joseph, der zu Thatchers Johannes dem Täufer wurde.
Die britische Version des Fusionism, eine Mischung aus wirtschaftlichem Liberalismus und kulturellem Konservatismus, erwies sich als ebenso erfolgreich wie die amerikanische. Die Konservativen regierten 18 Jahre lang.
Neue Bedrohungen
Heute bröckelt diese Allianz auf beiden Seiten des Atlantiks. Ohne die rote Gefahr, die sie zusammenhielt, zerfällt das Gebilde in seine Bestandteile – und wie zuvor sind die Liberalen bei weitem die kleinere Gruppe. Die Geschwindigkeit, mit der die Republikaner in den USA vom Reaganismus zum Trumpismus, vom Laisser-faire zum aggressiven Populismus, vom Freihandel zu Zöllen übergegangen sind, ist atemberaubend.
Wir klassischen Liberalen waren schon vor 2020 in der Minderheit. Der Durchschnittswähler stand in wirtschaftlichen Fragen immer links von uns und in kulturellen Fragen rechts von uns. Aber die Pandemie hat uns noch stärker zu einer Minderheit gemacht und die Erwartungen der Menschen an die Regierung verändert.
Verständlicherweise fragen sich einige Verfechter des freien Marktes, ob sie sich zurückziehen und aufhören sollten, so zu tun, als hätten sie etwas mit den etatistischen Konservativen gemeinsam. Warum sollten sie sich in eine Krise hineinziehen lassen, die durch eine Politik verursacht wurde, die sie grundsätzlich ablehnen?
Die Antwort ist, dass die Logik des Fusionism nicht verschwunden ist. Mitte des 20. Jahrhunderts waren Konservative und Liberale gleichermassen vom revolutionären Sozialismus bedroht; heute sind sie gleichermassen vom Fanatismus der Identitätspolitik bedroht. Damals ging die Bedrohung von sowjetischen MiG-Kampfflugzeugen aus, heute von chinesischen Cyberangriffen. In beiden Fällen ist die westliche Zivilisation, welche die konservativen und liberalen Traditionen hervorgebracht hat, in Gefahr. Für klassische Liberale wäre es schlicht anmassend, die konservative Koalition aufzugeben. Das würde bedeuten, die letzten Beschränkungen für den Staat aufzuheben und dafür zu sorgen, dass die Schulden- und Inflationskrise unnötig verschärft wird. Es würde bedeuten, sich in die politische Bedeutungslosigkeit zurückzuziehen.
Vielleicht sind die Wähler noch nicht in der Stimmung für Freiheit. Vielleicht sind wir Anhänger eines schlanken Staates derzeit eher auf dem Stand von Keith Joseph als auf dem von Margaret Thatcher. Aber wenn wir die Wende schaffen, dann wird dies im Rahmen einer breiten Allianz geschehen, die in der Lage ist, Macht zu erlangen und auszuüben. Wir haben kein Recht, jetzt aufzugeben.
Aus dem Englischen übersetzt von Lukas Leuzinger.