Manipulationen der Geschichte
Falschmeldungen sind kein Phänomen des Internetzeitalters. Bereits vor der Erfindung des Buchdrucks wurden immer wieder falsche Tatsachen verbreitet – und geglaubt.
«Es ist ein kapitaler Fehler, eine Theorie aufzustellen, bevor man entsprechende Anhaltspunkte hat. Unbewusst beginnt man Fakten zu verdrehen, damit sie zu den Theorien passen, statt dass die Theorien zu den Fakten passen.»
Sherlock Holmes
1475: Antisemitismus in Trient
Am Ostersonntag 1475 hielt der Franziskanerprediger Bernadino von Faltre in Trient eine Reihe von Predigten. Darin behauptete er, dass die Juden der Stadt einen zweieinhalbjährigen Jungen entführt, ermordet und sein Blut getrunken hätten. Das alles sei geschehen, um Passah zu feiern. Die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt wurde verhaftet, gefoltert und fünfzehn von ihnen wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dieses Ereignis stellt ein frühes Menetekel des mörderischen Antisemitismus dar, mit dem wir in Europa bis heute zu kämpfen haben.
1761: Die Calas-Affäre
In Toulouse wurde der 63-jährige Protestant Jean Calas von den Behörden des Mordes am eigenen Sohn bezichtigt. Der Sohn habe zum Katholizismus konvertieren wollen, was sein Vater vermeintlich um jeden Preis zu verhindern versucht habe. Der angebliche Mord wurde nie nachgewiesen, der Fall bleibt bis heute ungelöst. Beim Mordvorwurf handelte es sich wahrscheinlich um eine Falschmeldung, wie auch Voltaire damals in Pamphleten argumentierte, die in Europa grosse Beachtung fanden. Calas wurden trotzdem die Schultern ausgekugelt, zehn Krüge Wasser in seinen Rachen geschüttet und sein Körper auf dem Rad zertrümmert. Damit sollte er dazu gebracht werden, seine Tat zu gestehen, was er nicht tat.
1835: Fledermausmenschen auf dem Mond
Auf dem Mond sei Leben entdeckt worden, darunter eine Art Fledermausmensch (Vespertilio-homo) sowie kleine «braune Vierfüsser», die wie Bisons aussähen, sowie ziegenähnliche Wesen. Diese sensationelle Entdeckung habe der Astronom Sir John Herschel gemacht, berichtete die «New York Sun» 1835 in einer Serie von sechs Artikeln. Wie wir wissen, handelte es sich dabei um ein vom britischen Autor Richard Adam Locke verfasstes Ammenmärchen. Nachdem sie einige neue Abonnenten gewonnen hatte, musste die «New York Sun» schliesslich zugeben, dass die ganze Geschichte erfunden war.
1844: Edgar Allan Poes Streich
Neun Jahre nach den Falschmeldungen der «New York Sun» über Mondlebewesen publizierte Edgar Allan Poe in derselben Zeitung seine eigene Falschmeldung: Thomas Monck Mason habe die Überquerung des Atlantiks in einem Heissluftballon innert drei Tagen bewältigt. Diese vorgegaukelte Geschichte überlebte jedoch nicht länger als die fiktive Atlantiküberquerung; sie wurde nach bloss zwei Tagen zurückgezogen.
1907: Mark Twains Tod
«Twain and Yacht Disappear at Sea», titelte die «New York Times» 1907. Den Ausschlag für diese Meldung gab die Besorgnis von zwei Bekannten von Twain aus Virginia, die ihn auf seinem Weg nach New York in ein Segelschiff einsteigen sahen. Einen Tag später versicherte Twain höchstpersönlich in den Seiten der «New York Times»: «Ich kann meinen Freunden in Virginia versichern, dass ich die Meldung, ich sei auf See verschollen, gründlich untersuchen werde.»
1920: Die Feen von Cottingley
Sir Arthur Conan Doyle ist vor allem für Sherlock Holmes bekannt, die von ihm geschaffene fiktive Figur, die so echt wirkte, dass viele Menschen glaubten, Holmes sei eine echte Person. Doch Doyle fiel einst selbst auf einen seltsamen Schwindel herein. Der begeisterte Spiritualist glaubte den Berichten über die Feen von Cottingley. Dabei handelte es sich um von Elsie Wright und Frances Griffiths gekonnt gefälschte Fotografien, welche die beiden in Cottingley in der Gesellschaft von Feen zeigten. Doyle erklärte 1920 im «Strand Magazine», dass diese Aufnahmen die Existenz von Feen bewiesen. Die Täuschung wurde erst nach Doyles Tod endgültig entlarvt.
1938: Invasion von Ausserirdischen
Viele Amerikaner gerieten in Panik, als 1938 im brandneuen Medium Radio berichtet wurde, Ausserirdische seien ins Land eingedrungen, hätten das Militär besiegt und würden alles zerstören. Was wie ein Tatsachenbericht daherkam, war in Wirklichkeit eine Täuschung durch Orson Welles, der H. G. Wells Buch «Der Krieg der Welten» (1898) als Vorlage verwendete.
1939: Überfall auf den Sender Gleiwitz
Das Städtchen Gleiwitz gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland, heute befindet es sich in Polen und heisst Gliwice. 1939 inszenierte Adolf Hitler einen Anschlag auf den Funkturm in Gleiwitz unter falscher Flagge: Angehörige der SS verkleideten sich als polnische Soldaten, um den Turm anzugreifen. Dies war einer der Vorwände für den deutschen Überfall auf Polen, über den deutsche Radiokanäle und Medien sofort berichteten.
1989: Die Hillsborough-Katastrophe
1989 ereignete sich im Hillsborough-Stadion in Sheffield eine Tragödie, bei der 96 Fans des FC Liverpool starben und Hunderte verletzt wurden. Die Zeitung «The Sun» berichtete fast unmittelbar nach dem Ereignis, die Personen seien gestorben, weil betrunkene Fans Amok gelaufen seien. Ironischerweise lautete die Schlagzeile «Die Wahrheit». Wie eine unabhängige Untersuchungskommission 2016 bestätigte, verhielt es sich anders: Die Fussballfans waren – ironischerweise um für Sicherheit zu sorgen – in Stahlgitter eingeschlossen worden. Als Panik unter den zu dicht gedrängten Fans ausbrauch, öffnete die Polizei ein Tor, worauf viel zu viele Fans in den bereits überfüllten Liverpool-Sektor drangen. Dutzende wurden zu Tode erdrückt.
2003: Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen
Vor dem Irakkrieg 2003 behaupteten US-Präsident George W. Bush und der britische Premierminister Tony Blair, dass der irakische Diktator Saddam Hussein über Massenvernichtungswaffen verfüge. Mainstreammedien wie die «New York Times», die «Washington Post», der «New Yorker» oder CNN wiederholten diese Falschmeldung. Die britische Zeitung «The Sun» trieb dies mit folgendem Titel auf die Spitze: «He’s got ’em … Let’s get him [Saddam].» Harmlos war das nicht, dienten doch die vermeintlichen Massenvernichtungswaffen als Hauptargument für die Intervention im Irak.