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Mangel ist unausweichlich
Elena Leontjeva, fotografiert von Delfi Andrius Ufartas.

Mangel ist unausweichlich

Der Ukrainekrieg hat im wohlhabenden Westen das Bewusstsein für Knappheit zurückgebracht. Das Beispiel Litauen zeigt, dass nun Optimismus und Flexibilität gefragt sind.

 

In den vergangenen zwei Jahren haben viele Intellektuelle darauf hingewiesen, dass sich das menschliche Zusammenleben durch die Pandemie für immer verändern könnte. Nun ist der Wandel da: Urplötzlich sah sich die Welt, einschliesslich des freien und wohlhabenden Westens, mit einer weitreichenden Mangellage konfrontiert, die vielerorts beinahe in Vergessenheit geraten ist.

Der Krieg in der Ukraine hat den Knappheitsschock gar noch verschlimmert. Krieg bringt immer Verwüstung, Tod und einen sinkenden Lebensstandard mit sich. Sanktionen und die Unterbrechung des Welthandels bedeuten einen Wohlstandsrückgang für alle. Einige osteuropäische Länder schienen auf solche Herausforderungen jedoch besser vorbereitet gewesen zu sein als ihre westlichen Nachbarn.

Wichtige Fortschritte

Osteuropäische Staaten wie Litauen haben vor nur 30 Jahren zum letzten Mal einen umfassenden Wandel durchlebt. Das litauische Volk hat den damaligen Umbruch sogar selbst herbeigeführt: Die Litauer haben mit ihrer Unabhängigkeit das Ende des Sowjetimperiums eingeleitet. Was hat uns dazu motiviert? Es war die fundamentale Einsicht, dass das kommunistische Regime der menschlichen Natur widerstrebte: Unzählige liessen in den Gulags ihr Leben, trotz fruchtbarem Boden musste das litauische Volk hungern. Auch wir stellten jedoch nach dem Umbruch fest, dass unsere Vorstellung von Freiheit in den frühen Neunzigerjahren etwas naiv gewesen war: Wir dachten damals, dass die Zulassung von Privateigentum und freiem Handel automatisch zu mehr Wohlstand für alle in einem bürgerlichen Leben führen würde.

Es trifft zwar zu, dass mittlerweile in Litauen alle, die ihre Arbeitskraft und ihr Eigentum in den Dienst anderer zu stellen bereit sind, für sich und ihre Familie sorgen können. Der durchschnittliche Monatslohn, der 1991 noch bei 20 Franken lag, beträgt heute rund 1700 Franken. Zudem können wir unseren Lebensstil, unseren Glauben und unseren Beruf frei wählen. Wir können am allgemeinen Wohlstand der Gemeinschaft teilnehmen. Die Menschen dürfen frei Wissen erwerben und reisen.

Die Erkenntnis, dass der freie Markt jedoch nicht automatisch Wohlstand bringt, bleibt nach wie vor eine zentrale Herausforderung. Fast jeder Litauer musste irgendwann feststellen, dass die neue Ordnung immer noch Mangel bedeutet, und nicht wie von Zauberhand Reichtum für alle. Während wir Osteuropäer uns der unvermeidlichen Knappheit immer bewusst waren, schlug der wohlhabende Westen den entgegengesetzten Weg ein – er verfiel zunehmend der Illusion, dass das Knappheitsproblem für immer gelöst worden sei.

Der Optimismus vieler westlicher Intellektueller zeigt sich in einem Meinungsbeitrag in der NZZ vom Juli, den der Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) verfasst hat: «Die zentrale Raison d’être der Ökonomie, die Knappheit von Gütern, ist obsolet geworden: Knappheit ist heute nicht mehr Folge mangelnder Produktivität, sondern die Folge einer ungleichen Verteilung.»1 Der Westen war bereit für den Überfluss. Selbst die Unsterblichkeit wurde mancherorts als eine Frage von Jahrzehnten angesehen.

Knappheit ist eine starke Herausforderung

Als Antwort auf die postsozialistische Nostalgie und die postmodernen Utopien haben sich litauische Wissenschafter aus Philosophie, Anthropologie, Theologie, Wirtschaftswissenschaften und anderen Disziplinen zusammengetan, um das Phänomen der Knappheit und des Mangels über die Grenzen der Wirtschaft hinaus zu unter­suchen. Eine eingehende interdisziplinäre Analyse hat ergeben, dass Mangel – oder Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit in ihrem allgemeinsten Sinne – überall in der Struktur des Seins und der Natur zu finden ist: Zusammen mit Form und Materie kann Unvollkommenheit als das Hauptelement hinter jedem Werden betrachtet werden. Alles in der Welt ist unvollständig oder befindet sich in einem ständigen Zustand der Erneuerung, ist daher offen für Veränderung und Weiterentwicklung. Laut Naglis Kardelis, Philosophieprofessor an der Universität Vilnius, ist Knappheit somit viel mehr als nur ein Problem der Wirtschaftswissenschaften: «In der griechischen Philosophie taucht die Auffassung von Mangel erstmals in einem spirituellen Kontext auf. Erst später wurde der Begriff auf die ökonomische Ebene projiziert.»

Ludwig von Mises, der grosse Denker des europäischen Liberalismus, erklärt sich die ausschlaggebende Rolle des Fortschritts in menschlichen Angelegenheiten wie folgt: «Der Anreiz, der einen Menschen zum Handeln antreibt, ist immer ein gewisses Unbehagen. Ein Mensch, der mit dem Zustand seiner Angelegenheiten vollkommen zufrieden wäre, hätte keinen Grund, die Dinge zu ändern. Er hätte weder Wünsche noch Begierden; er wäre vollkommen glücklich. Er würde nicht handeln; er würde einfach frei von Sorgen leben.» Mises geht davon aus, dass der Mensch das Gefühl von Knappheit als unbefriedigend empfindet, was dann ein Streben nach Verbesserung auslöst.

 

«Der Mensch neigt dazu, die negative Seite der Knappheit zu sehen. Mangel kann aber auch als Potenzial gesehen werden, als Motor, der den Menschen zum Handeln anregt.»

 

Der Mensch neigt dazu, die negative Seite der Knappheit zu sehen. Mangel kann aber auch als Potenzial gesehen werden – als Motor, der den Menschen zum Handeln anregt. Diese Wahrnehmung des Mangels als universeller und inhärenter Lebensgrundsatz ist befreiend. Im Laufe unserer Existenz bewegen wir uns alle von einer Knappheit zur anderen: Ein Mangel an Nahrung wird durch eine Knappheit an finanziellen Ressourcen ersetzt, ein Mangel an Geld wiederum durch einen Mangel an Zeit, Liebe, Gesundheit oder Sinnhaftigkeit. Diese verschiedenen Erscheinungsformen haben ein und denselben gemeinsamen Nenner: das ontologische Phänomen des Mangels. Zu verstehen, dass Knappheit allgegenwärtig und unüberwindbar ist, kann uns von der Illusion befreien, dass das Paradies auf Erden möglich ist. Wer Mangel als ständigen Begleiter akzeptiert, kann auf ihn reagieren.

Am Steuer der Knappheitsmaschine

Die Menschheitsgeschichte kann als eine Abfolge menschlicher Reaktionen auf die verschiedenen Erscheinungsformen des Mangels wahrgenommen werden. Der Historiker Arnold Toynbee etwa hat anhand der Theorie von «Herausforderung und Reaktion» erklärt, wie Zivilisationen aufstiegen und untergingen. Es liegt an jedem einzelnen, an unseren kleineren und grösseren Gemeinschaften, auf die jeweiligen Knappheiten zu reagieren und Verantwortung zu übernehmen. Ist es nicht ermutigend, dass wir, um handlungsfähig zu bleiben, eigenverantwortlich am Steuer unseres Knappheitsmotors sitzen und nicht alle Antworten an Behörden delegieren? Da die grösste Herausforderung der Gegenwart die Verknappung von Energie ist, können wir davon ausgehen, dass sich die grössten Anstrengungen der menschlichen Kreativität ebenfalls auf diesen Bereich konzentrieren werden und so grosse innovative Durchbrüche bei der Erzeugung, Speicherung und Übertragung von Energie erzielt werden können.

Wenn Wandel unvermeidlich ist, dann liegt in der Reaktionsfähigkeit der Schlüssel zur Erhaltung des Lebens. Die Zukunft, die durch die Pandemie und den Krieg unsicherer geworden ist, wird davon abhängen, wie wir auf die unvorhergesehenen Herausforderungen reagieren und sie in Potenziale umwandeln. Die gegenwärtigen Erscheinungen der Knappheit, ob bei Gütern oder Arbeitskräften, erinnern insbesondere den wohlhabenden Westen daran, dass die Unvollkommenheit nicht verschwinden wird. Das hilft uns, sie als Konstante zu akzeptieren. Ausserdem lädt es uns ein, Freiheit, Eigentum, freien Austausch und all die grundlegenden Institutionen zu schätzen, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte als friedliche und fruchtbare Antwort auf Knappheitsprobleme entwickelt haben.

Das kleine Land Litauen, das einst den Zerfall der So­wjetunion einleitete, befindet sich erneut im Epizentrum geopolitischer Veränderungen. Es ist kein Zufall, dass wir nicht zögerten, ukrainischen Flüchtlingen Unterkunft zu gewähren – Menschen, die ihre Familien und ihr Zuhause verloren haben, aber nicht ihre Hoffnung. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich diesen Artikel schreibe, hat Litauen bereits 60 000 Ukrainern eine neue Heimat geboten.

Eine Gruppe ukrainischer Soldaten, die in Litauen Prothesen für ihre Gliedmassen erhielten, erteilte jüngst meiner Nichte, einer Flüchtlingshelferin, eine Lektion in Sachen Widerstandswillen: «Gib mir bitte nur eine Hand statt zwei, aber mach es schneller», sagte ihr ein Soldat. «Ich möchte bald zurückkehren und meinen Mitmenschen helfen, indem ich für Nachschub bei der Artillerie sorge. Ich kann zwar nicht schiessen, aber ich kann Hilfsdienste leisten.» Das aktuelle Unheil in Europa erinnert uns daran, dass die Vernichtung der Freiheit weitreichende und verheerende Auswirkungen hat. Wir engagieren uns für künftige Generationen, indem wir dem Prinzip des Lebens, der Veränderung und der Reaktionsfähigkeit Priorität einräumen.

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