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Man lernt nie aus – wann lernt das die Politik endlich?

Man lernt nie aus – wann lernt das die Politik endlich?

In der sich wandelnden Arbeitswelt wird lebenslanges Lernen immer wichtiger. Die Rahmenbedingungen in der Schweiz sind jedoch ungenügend.

 

Unsere dynamische Gesellschaft und Wirtschaft verlangen ­lebenslanges Lernen. Wissen und Techniken der Grundausbildung veralten schnell. Deshalb ist Weiterbildung mindestens so wichtig geworden wie die erste Berufsausbildung. Denken und Rechtsordnung der Schweiz sind jedoch völlig veraltet: Sie orientieren sich an der Vorstellung der 1950er-Jahre eines Lebens mit den drei Phasen Ausbildung – Berufstätigkeit – Ruhestand. Heute ist der Lebenslauf variabler: Nach der Grundausbildung beginnt die Erwerbsarbeit, oft in Teilzeit und begleitet von lebenslanger Weiterbildung. Stellenwechsel sind häufig, und viele Menschen wechseln ihren Beruf im Laufe des Lebens. In disruptiven Zeiten sind Um- und Neuqualifizierungen häufiger nötig und im längeren Leben auch erwünscht. Die Covid-19-Pandemie beschleunigt den Strukturwandel der Wirtschaft, insbesondere die Digitalisierung.

Wäre Geld vorhanden, würden neuartige Weiterbildungsangebote entwickelt, zum Beispiel Mid Career Programms. Das Alter, in dem man die Erwerbstätigkeit reduziert und beendet, ist heute sehr unterschiedlich. Immer mehr ältere Menschen wollen über das Pensionierungsalter hinaus arbeiten.1 Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters wird nötig sein, um die Altersvorsorge zu sichern. Lebenslange Weiterbildung ermöglicht auch bei älteren Erwerbstätigen eine berufliche Neuorientierung.

Die Ungleichheit wird verschärft

Heute finanziert in der Schweiz der Staat die Grundausbildung, leistet aber nur wenig Beiträge an die Weiterbildung. Wer nicht von seinem Arbeitgeber unterstützt wird, muss seine Weiterbildung oder Umschulung grösstenteils selber finanzieren.

Der hohe finanzielle Aufwand für Weiterbildung behindert das lebenslange Lernen. Dennoch bilden sich Erwerbstätige der Schweiz weiter, allerdings sehr ungleich: Während gut 80 Prozent der Personen mit tertiärem Bildungsabschluss (Hochschulen, höhere Berufsbildung) Weiterbildungskurse besuchen, sind es bei Personen mit Berufsabschluss auf Sekundarstufe 2 nur 60 Prozent und bei Personen ohne Berufsabschluss nur ein Drittel. Im internationalen Vergleich nehmen zwar insgesamt relativ viele Schweizerinnen und Schweizer an Weiterbildungskursen teil, aber die Unterschiede der Teilnahme zwischen den Hoch- und Tiefqualifizierten sind im internationalen Vergleich sehr hoch.2 Die Ungleichheit der Qualifikation nimmt dadurch im Verlauf des Lebens zu, ebenso wie die Einkommensunterschiede und das Risiko der Arbeitslosigkeit, das bei wenig qualifizierten Arbeitskräften am höchsten ist.

Der Staat investiert am meisten in die Universitätsausbildung und am wenigsten in die (Aus-)Bildung der Personen mit Lehrabschluss, die die späteren Weiterbildungen weitgehend selber finanzieren müssen. Wenn beispielsweise eine kaufmännische Angestellte ein Buchhalterdiplom, heute «eidgenössischer Fachausweis für Finanz- und Rechnungswesen» genannt, erwerben will, muss sie mindestens die Hälfte selber bezahlen, während ein vergleichsweise teures Betriebswirtschaftsstudium an der Universität zu über 90 Prozent vom Staat bezahlt wird.

Diese Situation ist nicht nur ungerecht, sondern auch für die Gesellschaft und Wirtschaft problematisch, denn durch die hohe finanzielle Belastung der höheren Berufsbildung sinkt die Bereitschaft der weniger Qualifizierten, sich lebenslang weiterzubilden. Dadurch sinken ihre Chancen, bei beruflichen Veränderungen, beispielsweise bei Umstrukturierungen, eine neue attraktive Stelle zu finden, und das Risiko der individuellen Arbeitslosigkeit nimmt zu, auch wenn es bei anderen Tätigkeiten einen grossen Arbeitskräftemangel gibt.

Der Bund hat diese Problematik erkannt. Seit 2018 erhalten deshalb Absolvierende von Kursen für höhere Fachprüfungen die Hälfte der Kurskosten vom Bund bezahlt. Dies ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Für Bildungsgänge der höheren Fachschulen und Weiterbildungskurse der Hochschulen werden hingegen keine Bundesbeiträge geleistet.

Gute Rahmenbedingungen

Die für eine nachhaltige Finanzierung der Altersvorsorge nötige Erhöhung des Renteneintrittsalters kann nur dann realisiert werden, wenn ältere Menschen aktuelle Kompetenzen haben und damit arbeitsmarktfähig bleiben. Heute haben über 50jährige arbeitslose Personen grosse Mühe, eine neue Stelle zu finden. Wer sich nicht lebenslang weiterbildet, verliert die auf dem Arbeitsmarkt verlangten Kompetenzen. Übergangsrenten für über 58jährige Arbeitslose und Frühpensionierungen sind keine Lösung, sondern eine Verschärfung des Problems.

Wer ist verantwortlich für lebenslanges Lernen? Aus liberaler Sicht ist die Antwort klar: Jeder Mensch verantwortet seine Weiterbildung selber. Für einige Gruppen von Erwerbstätigen funktioniert das auch gut. Hochqualifizierte Professionals besuchen regelmässig Weiterbildungskurse und bilden sich auch im Selbststudium weiter, um beim wissenschaftlich-technischen Fortschritt am Ball zu bleiben. Dies ist allerdings nicht nur bedingt durch ihre individuelle Selbstverantwortung, sondern auch Resultat einer für ihre Berufsgruppen selbstverständlichen Weiterbildungskultur. Selbständig praktizierende Ärztinnen und Ärzte treffen sich beispielsweise jeden Donnerstagnachmittag zu Weiterbildungsveranstaltungen und bilden sich dort nicht nur weiter, sondern pflegen auch ihre kollegialen sozialen Kontakte. Ausserdem ist regelmässige Weiterbildung notwendig, um den Facharzttitel führen zu können.

Ähnliche, das lebenslange Lernen unterstützende Rahmenbedingungen bestehen bei den meisten etablierten akademischen Berufen des Rechts, der Architektur, der Psychotherapie etc. Diese hochqualifizierten, oft selbständigen Berufsleute verdienen auch genug, um ihre Weiterbildung selber zu finanzieren, ganz abgesehen davon, dass gerade ärztliche Weiterbildungen von interessierten Firmen, insbesondere von Pharmaunternehmen, grosszügig unterstützt werden.

Ein grosser Teil der Weiterbildungen wird in der Schweiz von Arbeitgebern finanziert; meist wird auch bezahlte Arbeitszeit zur Verfügung gestellt. Ein Arbeitnehmer, der längere Zeit im gleichen Unternehmen arbeitet, gute Leistungen erbringt und oft auch eine firmeninterne Karriere macht, wird von seinem Arbeitgeber wirksam gefördert, denn adäquat qualifizierte Arbeitskräfte sind das wichtigste Kapital für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens. In diesem Fall ist Weiterbildung das Resultat der gemeinsamen Interessen und der gemeinsamen Verantwortung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Ein grosser, wachsender Teil der Arbeitstätigen werden weder vom Arbeitgeber bei der Weiterbildung unterstützt, noch gehören sie zu einer hochqualifizierten Berufsgruppe, für die lebenslanges Lernen eine Selbstverständlichkeit ist. Dazu gehören etwa:


beruflich nicht oder sehr wenig qualifizierte Personen


Arbeitslose aus schrumpfenden Branchen, die sich um­schulen lassen müssten


Job Hoppers mit kurzen Anstellungen und ohne Karriere­ambitionen. Solange sie jung sind, geht das problemlos, bei steigendem Alter müssten sie sich verpflichten und ­Weiterbildungen besuchen.


Wiedereinsteigende nach längerem Unterbruch in ihrer ­Erwerbstätigkeit, zum Beispiel nach Babypause, lang­jährigem Auslandsaufenthalt, Krankheit etc.


Immigranten mit hohem Potenzial, aber mangelhaften Sprach- und Kulturkenntnissen, ohne Beziehungen, ohne Förderung. Oft sind es Flüchtlinge; am prekärsten ist die ­Situation der Sans-Papiers.

Punktuelle Ansätze

Viele Akteure haben in der Schweiz die Problematik erkannt und suchen nach Lösungen. Vorbildlich ist das Konzept «Arbeit dank Bildung» der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) und des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung (SVEB) von 2018, eine Weiterbildungsoffensive für Bezügerinnen und Bezüger von Sozialhilfe. Das Konzept beinhaltet die niederschwellige, staatlich finanzierte Verbesserung der Grundkompetenzen und der beruflichen Kompetenzen von Personen, die Sozialhilfe beziehen, mit dem Ziel einer Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Die staatliche Finanzierung zahlt sich aus, wenn ein erheblicher Teil der am Programm Teilnehmenden erwerbstätig wird und keine Sozialhilfe mehr bezieht. Das Programm Formad des Kantons Waadt und das Angebot Enter des Kantons Basel-Stadt haben bewiesen, dass dies möglich ist.3

Wir sollten aber nicht warten, bis jemand Sozialhilfe bezieht, sondern lebenslanges Lernen präventiv fördern, so dass die Arbeitsmarktfähigkeit aller Erwerbstätigen erhalten bleibt. Dazu liegen verschiedene Angebote und Modelle vor, bei denen im Rahmen der gegenwärtigen Rechtslage mit Fonds, Stipendien, Darlehen etc. bei Weiterbildungen geholfen wird.

Der Industrieverband Swissmem hat eine Umschulungsinitiative gestartet. Der Verband stellt fest, dass die heutigen Wege in der Berufsmobilität zu viele Verlierer produzieren und die Sozialversicherungen unnötig belasten. Im Umschulungsmodell von Swissmem werden Personen, die vom wirtschaftlichen Strukturwandel betroffen sind, auf einen Berufsfeldwechsel vorbereitet.4 Das Bildungsmodell fokussiert auf erwachsene Personen, die bereits über einen Berufsabschluss verfügen und eine Re- beziehungsweise Neuqualifizierung anstreben. Die Bildungs- und Lebenshaltungskosten sollen durch den Umschulungsteilnehmer, den Arbeitgeber und die öffentliche Hand gemeinsam finanziert werden.

Die Stiftung Educa Swiss unterstützt motivierte Menschen bei der Umsetzung ihres Bildungsvorhabens durch kostenlose Begleitung bei der Planung ihres berufsbezogenen Bildungsprojektes und durch Vermittlung von zinsgünstigen Bildungsdarlehen. In den vergangenen fünf Jahren hat sie mit über 3 Millionen Franken mehr als 250 Aus- oder Weiterbildungen finanziert. Allerdings bleibt jährlich schätzungsweise über 10 000 Personen in der Schweiz eine angestrebte Aus- oder Weiterbildung aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln verwehrt.5 Die Unterstützung von Educa Swiss deckte also ­gerade einmal 0,5 Prozent des Bedarfs.

Die zahlreichen Projekte, Programme und Fonds zur Förderung der Weiterbildung erreichen nur einen beschränkten Teil der Personen, die für lebenslanges Lernen motiviert und unterstützt werden müssten. Bei allem Respekt für die guten existierenden Lösungen: Es sind letztlich Produkte einer typisch schweizerischen Pflästerlipolitik. Meines Erachtens wäre ein grosszügiges, flächendeckendes Förderprogramm von Bund und Kantonen notwendig.

Ein Bildungskonto für jeden

Ein radikaler Systemwechsel könnte folgendermassen aus­sehen: Wie bisher finanziert der Staat die Allgemeinbildung und die Grundausbildung der ersten zwölf Schuljahre, also bis zum Sekundar- oder Mittelschulabschluss beziehungsweise bis zum Lehrabschluss. Für die anschliessende tertiäre Bildung (Hochschulen, höhere Berufsbildung) wird auf eine Subjekt­finanzierung umgestellt: Der Staat zahlt den Studierenden in einem bestimmten Umfang ihre Bildungsleistungen, während die Bildungsinstitutionen ihre Angebote mit kostendeckenden Preisen verrechnen müssen. Die tertiären Bildungsangebote werden damit Weiterbildungsangeboten finanziell gleichgestellt. Neu erhält jede Person vom Staat nach Abschluss ihrer Allgemein- und Grundausbildung ein Bildungskonto mit einem grosszügigen Guthaben zur Finanzierung des Besuchs zertifizierter Bildungsprogramme. Dieses Guthaben kann bis zum Lebensende verwendet werden.6

Für Personen mit Lehrabschluss wäre dies eine starke Verbesserung im Vergleich zu heute: Sie könnten mit ihrem persönlichen Guthaben Angebote der höheren Berufsbildung, Umschulungen, Berufsmatur, Passerelle zur Universität, aber auch Allgemeinbildungskurse finanzieren, während sie dies heute weitgehend selber bezahlen müssen. Wer das Guthaben aufgebraucht hat und weiter Aus- oder Weiterbildungskurse besuchen will, kann ein zinsloses Darlehen beantragen, das später bei erfolgreicher Erwerbstätigkeit zurückbezahlt werden muss. Das Konzept impliziert eine völlig neue Art der staatlichen Bildungsfinanzierung: Sie ersetzt die (Objekt-)Finanzierung der Hochschulbildung durch eine Subjektfinanzierung sämtlicher Bildungsangebote nach der primären und sekundären Allgemein- und Grundausbildung. Mit der neuen Bildungsfinanzierung würde die Privilegierung der Hochschulstudierenden ersetzt durch eine finanzielle Gleichstellung aller Aus- und Weiterbildungsangebote.

Die Idee eines Bildungskontos ist nicht neu. Mehrere Länder bieten den Erwerbspersonen individuelle Konten an, die sie für Weiterbildungskurse einsetzen können, zum Beispiel Frankreich und Singapur. Eine Übersicht der OECD zeigt allerdings, dass der zur Verfügung gestellte Geldbetrag meist bescheiden ist, in Frankreich zum Beispiel maximal 500 Euro pro Jahr, und dass nur eine Minderheit der Bevölkerung diesen Kredit in Anspruch nimmt.7

Die Erfahrungen vieler Programme weisen darauf hin, dass Geld allein nicht genügt. Wenig qualifizierte Personen, denen «lebenslanges Lernen» kein Begriff ist, müssen zuerst informiert, motiviert und beraten werden, bevor sie Weiterbildung besuchen.

Traditionellerweise wird Berufsberatung vor allem von jungen Menschen in Anspruch genommen. In Zukunft muss Berufsberatung und Coaching vermehrt älteren Menschen angeboten und attraktiv gemacht werden. Die zukünftige Altersvorsorge kann nur gesichert werden, wenn das Pensionierungsalter steigt, und dies setzt voraus, dass ältere Menschen qualifiziert und motiviert sind, länger als bisher erwerbstätig zu sein. Dazu ist eine nachhaltige Förderung von Weiterbildung im höheren Alter notwendig.

Längerfristiges Ziel muss eine in allen Bevölkerungsgruppen verankerte Weiterbildungskultur sein, in der lebenslanges Lernen aller Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, unabhängig von sozialem Status und Alter.

Der Staat profitiert

Grosszügige Leistungen des Staates zur Förderung der lebenslangen Weiterbildung wären sinnvoll und notwendig. 1874 wurde mit der Totalrevision der Bundesverfassung in der ganzen Schweiz der obligatorische und unentgeltliche Primarschulunterricht eingeführt, weil für die industrialisierte Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie eine angemessene Allgemeinbildung unabdingbar wurde. Während damals Allgemeinbildung für alle genügte, ist heute lebenslange Weiterbildung gleich wichtig geworden. Es wäre zweifellos weder sinnvoll noch zeitgemäss, eine staatliche Weiterbildung einzuführen, aber ein stärkeres Engagement wäre wünschenswert. Zu bedenken ist dabei, dass der Staat nicht nur Leistungen erbringen müsste. Er würde durch gelungene Weiterbildung auch entlastet durch sinkende Kosten der Sozialversicherungen (weniger Arbeitslose, weniger Sozialhilfebezüger) und er würde profitieren durch steigende Steuereinnahmen. Und last but not least: Lebenslange Weiterbildung ermöglicht eine Erhöhung des Renteneintrittsalters um mehrere Jahre und verhindert damit eine Kostenexplosion der Altersversicherungen.

  1. Elisabeth Michel-Alder: Länger leben – anders arbeiten. Erwerbstätige im ­demografischen und digitalen Wandel. Zürich: Orell Füssli, 2018.

  2. Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung: Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau, 2018, S. 293 f.

  3. Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe und Schweizerischer Verband für Weiterbildung: Arbeit dank Bildung. Weiterbildungsoffensive für Bezüge­rinnen und Bezüger von Sozialhilfe. Bern, 2018. skos.ch/fileadmin/user_­upload/skos_main/public/pdf/medien/medienkonferenzen/2018_­medienkonferenz/2018_Arbeit_dank_Bildung.pdf, S. 7.

  4. Swissmem: Mit Umschulungen in eine erfolgreiche Zukunft. Zürich, 2018.

  5. «Bildungsdarlehen multiplizieren die positive Wirkung von Geld», Fokus ­Finanzen, November 2020.

  6. Peter C. Meyer: Aus- und Weiterbildung finanziell gleichstellen. In: Neue Zürcher Zeitung, 3.9.2019.

  7. OECD: Individuelle Weiterbildungskonten. Allheilmittel oder Büchse der Pandora? Paris, 2019.

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