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«Man ist entweder für Peking oder für die Demokratie»
Glacier Kwong. Bild: Hans Christian Plambeck/Laif.

«Man ist entweder für Peking oder für die Demokratie»

Glacier Kwong ist gezwungen, in Deutschland im Exil zu leben, weil sie in Hongkong für Demokratie demonstriert hat. Was den Menschen in Hongkong widerfahren ist, sagt sie, könnte auch Menschen in anderen westlichen Ländern treffen.

Read the English version here.

 

Glacier, Sie sind in Hongkong aufgewachsen, in einem kapitalistischen, freiheitsliebenden, demokratischen Umfeld. Wann haben Sie zum ersten Mal gespürt, dass etwas nicht mehr stimmt oder nicht mehr so funktioniert, wie es sollte?

Als ich in Hongkong aufwuchs, war es noch sehr frei. Mir wurde beigebracht, kritisch zu denken, zu sagen, was ich für richtig halte, und mich zu äussern, wenn ich Dinge sehe, die problematisch sind. 2012 merkte ich, dass etwas nicht stimmte, weil die Regierung von Hongkong ein Gesetz zur Änderung des Urheberrechts vorschlug, das die freie Meinungsäusserung im Internet einschränken würde – zum Beispiel Memes, eine der gängigsten Methoden, mit denen Hongkonger damals ihre politische Meinung zum Ausdruck brachten. Memes sind in der Regel ziemlich witzig – und ein Weg, die Politik besser zu verstehen, auch für mich. Zusammen mit ein paar Leuten der NGO Keyboard Frontline betrieben wir Lobbyarbeit gegen dieses Gesetz. Und wir waren erfolgreich, die Regierung hat es zurückgenommen. Das war mein erster Erfolg in der politischen Lobbyarbeit. Wir kamen zum Schluss, dass wir etwas bewirken können. Damals war ich sehr zuversichtlich.

 

Zwei Jahre später, im Jahr 2014, gab es Massenproteste auf den Strassen von Hongkong. Sie haben sich daran beteiligt, indem Sie YouTube-Videos gemacht haben.

Ja, ich war diejenige, die um Hilfe rief und jeden bat, Hongkong zu helfen und etwas zu tun (lacht). Diese Idee kam mir zufällig, denn zu der Zeit gab es ein ukrainisches Mädchen, das während der Maidan-Revolution auf ähnliche Weise filmte. Am 28. September 2014 wurde ich zum ersten Mal mit Tränengas konfrontiert, und das hat mich so geschockt – ich hatte das Gefühl, dass ich dem System nicht mehr trauen kann. Dann sagte ein Freund: «Meinst du nicht, dass jemand davon erfahren sollte? Vielleicht können wir etwas filmen, wie dieses Video aus der Ukraine.» Und ich sagte nur: Ja, klar. Ohne darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet.

Schutzschild aus Regenschirmen: Am 1. Juli 2020 fand in Hongkong eine Demonstration gegen das neue nationale Sicherheitsgesetz statt.
Bild: Vincent Yu/AP Photo/Keystone.

Die Demonstrationen, auch die grösseren in den Jahren 2019 und 2020, wurden von sehr jungen Hongkongern, zumeist Teenagern, organisiert. Sie waren die ersten, die Überwachungskameras heruntergerissen haben und gegen den autoritären Überwachungsstaat ankämpften – und auch gegen künstliche Intelligenz (KI), die von einer autoritären Regierung gegen die Bevölkerung eingesetzt werden kann.

Hongkong ist die Frontlinie im Konflikt zwischen der autoritären Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) und der freien Welt. Wir hatten gehofft, dass die Welt aufwachen und erkennen würde, dass die KPCh nicht der gehorsame Akteur ist, den sie zu sein versprochen hat. China überwacht Hongkonger, Chinesen, Tibeter und Uiguren sehr entschieden. Und gleichzeitig exportiert es seine Überwachungstechnologie nach Afrika, um sie dort einzusetzen. Wir dürfen nicht vergessen, dass Unternehmen wie Siemens in Deutschland oder Telefónica in Spanien chinesische Unternehmen und die chinesische Regierung dabei unterstützt haben, diese Art von Überwachungstechnologie zu bauen, um sie zu nutzen, zu testen und später in andere Länder zu exportieren. Und es gibt noch weitere Auswirkungen. Gemäss geltendem EU-Recht können die Daten von Einzelpersonen nach China übermittelt werden. So werden die Nutzerdaten von TikTok, WeChat und anderen in China hergestellten Apps legal nach China übertragen. Gemäss dem chinesischen Datenschutzgesetz muss jeder Dienstanbieter Daten an die Regierung weitergeben, wenn diese sie anfordert. Womit auch europäische Daten zur Analyse ins chinesische Überwachungssystem einfliessen.

 

Vor kurzem habe ich versucht, günstige Möbel zu kaufen, die nicht in China hergestellt wurden. Das war ziemlich schwierig. Wie gehen Sie mit der Dominanz Chinas auf so vielen Märkten um? Vermeiden Sie Dinge, die unter der Kontrolle der KPCh hergestellt werden?

Ich gehe wirklich gerne einkaufen, aber viele Anschaffungen sind nicht wirklich notwendig. Oft gibt es andere Möglichkeiten, wie Secondhandkäufe; oder man unterstützt lokale Unternehmen und kleine Läden anstelle von Fast-Fashion-Ketten. Damit wird die Nachfrage nach bestimmten Dingen verringert. Meiner Meinung nach ist es ein Problem der Konsumkultur, dass Produkte nicht lange halten, so dass man schnell ein neues kauft. Während der Pandemie stammten viele der Gesichtsmasken, die wir verwendeten, aus China – viele von ihnen wurden in Zwangsarbeit hergestellt, was vielen nicht bewusst ist. Wir müssen an unseren Lieferketten arbeiten und China für die Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen, insbesondere in der Region Xinjiang.

 

Die meisten Menschen zögern nicht, chinesische Produkte zu verwenden. Westliche Kinder wachsen heute mit TikTok-Streams auf, ohne sich Gedanken über den Einfluss der KPCh zu machen – oder über den Suchtfaktor der App.

Das Problem bei TikTok ist, dass die Regeln zur Inhaltsmoderation dazu führen, dass sogenannte sensible Inhalte gelöscht werden. Wenn Sie zum Beispiel Videos veröffentlichen, die mit dem Ukrainekrieg zu tun haben, bedeutet das, dass sie von TikTok entfernt werden. Der Grund, warum ich US-Technologie für etwas vertrauenswürdiger halte – auch wenn man ebenfalls ausspioniert wird –, ist, dass sie zumindest von privaten Unternehmen hergestellt wird. Aber in China ist jedes private Unternehmen mit der KPCh verbunden. Per Gesetz müssen sie alles, was sie über jeden einzelnen besitzen, herausgeben. Ich finde das höchst problematisch.

 

«Ich hoffe, dass die Kommunistisch Partei Chinas endet, bevor ich sterbe.»

 

Manche Leute beschreiben die KPCh als fast allmächtig. Andere sagen, dass sie in zwei Jahren ­zusammenbrechen werde. Was glauben Sie?

Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass sie sich in Zukunft ändern muss. Vielleicht nicht in den nächsten fünf Jahren. Aber die moderne Geschichte hat mich gelehrt, dass Diktaturen in der Regel fallen – sie können nicht ewig jeden kontrollieren. Und ich hoffe, dass die KPCh endet, bevor ich sterbe. Deshalb tue ich alles, was ich kann, um einen sinnvollen Wandel zu ermöglichen, der zu diesem Ziel führt.

 

Befürchten Sie, dass eines Tages – in einer dystopischen Zukunft – die kommunistische Partei die ganze Welt regiert oder sie mit KI überwacht und kontrolliert?

Es wird immer Menschen geben, die versuchen, ihre Kreativität zu nutzen, um sich zu wehren – auch wenn die Überwachung allgegenwärtig ist. Auch wenn das von den Medien nicht aufgegriffen wird, gibt es Aktivisten, die im Untergrund arbeiten. Menschen, die versuchen, die Zensur zu umgehen. Und Menschen, die versuchen, Proteste zu organisieren.

 

Was tun die westlichen Politiker?

Die Europäische Union denkt jetzt über eine Harmonisierung der KI-Gesetze nach. Aber viele Politiker wissen nicht wirklich, was KI überhaupt ist. China will unbedingt an der Festlegung aller Regeln für aktuelle und künftige 5G- oder KI-Systeme mitwirken. Die Partei ist in verschiedenen internationalen Gremien sehr aktiv und versucht, Standards zu setzen und sie auf chinesische Präferenzen zuzuschneiden. Wir müssen sie aufhalten. Wenn die KPCh unsere Gesetze macht, werden wir definitiv wie in George Orwells «1984» leben.

 

Sie sind so etwas wie ein Staatsfeind von China. Was hat die Partei mit Ihrem Leben gemacht?

Die Art und Weise, wie die Partei in mein Leben eingedrungen ist, hat mir Angst gemacht – es ist die Angst vor der Ungewissheit und die Angst, andere Menschen in dieses Chaos hineinzuziehen. 2020 habe ich einer Kandidatin in Hongkong bei der Organisation ihrer Wahl geholfen. Das Sicherheitsgesetz war zu diesem Zeitpunkt bereits verabschiedet, und unser Team setzte sich zusammen, um herauszufinden, was wir sagen können und was nicht. Ich war schockiert darüber, denn ich konnte nicht glauben, dass wir so etwas tun würden. Es war, als betrieben wir Selbstzensur, um eine Wahl zu gewinnen. Und als ich danach Hongkong verliess, in Deutschland und an anderen Orten war, begann ich zu überlegen, was ich sage und was nicht – weil ich Angst habe, mit meinen Aussagen andere Menschen in Schwierigkeiten zu bringen. Wenn ich zum Beispiel über meine Kollegen spreche, die im Gefängnis sitzen – würde ich sie damit in Schwierigkeiten bringen? Oder wenn ich mich in den sozialen Medien mit meinen Freunden treffe, die keine Aktivisten sind – wenn sie mich online taggen, würde ihnen das Probleme bringen? Der Bereich, in dem die KPCh den grössten Einfluss hat, ist im Grunde diese Art von Angst und das damit einhergehende Potenzial zur Selbstzensur.

 

Sie können nicht mehr in Ihrem Heimatland leben.

Ja, ich lebe im selbstauferlegten Exil. Ich kann niemals zurückkehren. Wenn ich mit Menschen in meiner Heimat Kontakt aufnehme, setze ich sie einem Risiko aus, selbst wenn wir sehr sichere Kommunikationskanäle wie die Signal-App benutzen – sie könnten auf der Strasse von der Polizei angehalten und gezwungen werden, ihr Telefon herauszugeben. Wenn es um die Sicherheit anderer Menschen geht, versuche ich stets, auf Nummer sicher zu gehen.

 

Sie leben jetzt in Hamburg. Darf ich fragen, wie Ihr rechtlicher Status in Deutschland ist? Sind Sie als Flüchtling anerkannt?

Ich habe ein Studentenvisum und studiere Datenschutz an der Universität Hamburg.

 

Wie läuft es denn so?

Ich bin in meinem zweiten Jahr als Doktorand. Und wie jeder Doktorand prokrastiniere ich ziemlich viel (lacht). Etwa einen Drittel meines ersten Entwurfs habe ich geschrieben. Hoffentlich werde ich die Arbeit in zwei Jahren fertigstellen.

 

Wie gefällt es Ihnen in Deutschland?

Ich bin noch dabei, mich an den Kulturschock zu gewöhnen. Vieles ist anders. In Deutschland Post zu bekommen, ist nicht ganz einfach – DHL ist nicht sehr zuverlässig. Oder nehmen wir das Online-Portal an der Universität: Ich dachte, es wäre so wie an der Universität in Hongkong, dass alles in diesem Portal zu finden sei. Aber nein, man muss zu diesem und jenem Büro gehen und dann noch zu zwei weiteren Stellen. Ausserdem dachte ich, dass die Deutsche Bahn pünktlicher sein würde. Bahnfahren ist das Schlimmste.

 

Sie schreiben eine Kolumne für die «Welt am Sonntag». In einer Ausgabe, «Rote Linien in Deutschland», haben Sie über die Selbstzensur in Deutschland geschrieben.

Deutschland ist frei, technisch gesehen. Aber viele deutsche Beamte sind sehr vorsichtig und zurückhaltend, wenn sie zum Beispiel über Taiwan reden. Sie wollen nicht als fremdenfeindlich oder als chinafeindlich angesehen werden.

 

«Einige Leute, denen ich in Berlin begegnet bin,
nannten mich rechtsextrem, eine Hongkong-Nationalistin
und eine Anti-China-Rassistin – weil ich meine Identität
als Hongkongerin betonte.»

 

Wie nehmen Sie die deutschen Studenten wahr?

Ich bin nicht so oft auf dem Campus, weil ich kein Büro habe und keine Vorlesungen besuchen muss. Aber natürlich habe ich schon Gespräche geführt. Einige Leute, denen ich in Berlin begegnet bin, nannten mich rechtsextrem, eine Hongkong-Nationalistin und eine Anti-China-Rassistin – weil ich meine Identität als Hongkongerin betonte. Sie fragten mich immer wieder, ob ich in Hongkong als links oder rechts gelte. Aber unser politisches Spektrum ist nicht davon geprägt, ob man links oder rechts ist, sondern davon, wie nahe man der KPCh steht. Man ist entweder für Peking oder für die Demokratie. Ich weiss nicht, ob ich links oder rechts bin, darüber habe ich nie nachgedacht. In Deutschland ist das aber immer noch sehr relevant. Vielleicht liegt es an der 68er-Bewegung, dass diese Art von Denken hängengeblieben ist. Die Deutschen bleiben oft in solchen Gesprächen stecken, und am Ende wird jemand wie ich beschuldigt, eine Rassistin zu sein. Wie kann man rassistisch sein, wenn man nur für seine Grundrechte kämpft? Das ergibt doch keinen Sinn.

 

Was sind Ihre wichtigsten politischen Ziele für die Zukunft?

Die Menschen müssen verstehen, dass die Entscheidungen, die sie fällen, wichtig sind. Als Mensch entscheidet man, was für Sachen man kauft. Und welche Politiker man wählt. Sie sind diejenigen, die über alle politischen Massnahmen entscheiden, mit denen man leben muss.

 

Was für Ziele haben Sie selbst?

Ich werde weiterhin die unbeliebte Person am Esstisch sein, die fragt, ob du die Nachrichten über China oder Hongkong gelesen hast. Man hat mir gesagt, dass ich beim Essen nicht über Politik oder Religion sprechen solle. Aber ich werde es trotzdem tun. Nun werde ich mich wohl auf meine Doktorarbeit konzentrieren und mich für die Politik einsetzen. Zurzeit arbeite ich als Koordinatorin der Hongkong-Kampagnen für die Interparlamentarische Allianz zu China (@ipacglobal) – eine Plattform, auf der Politiker mit Schwerpunkt China zusammenfinden. Das gibt mir die Möglichkeit, mit ihnen zu sprechen, sie kennenzulernen und Beziehungen aufzubauen. Gemeinsam versuchen wir, Kampagnen und Gesetze auf den Weg zu bringen, die uns helfen, China zur Rechenschaft zu ziehen.

 

Im allgemeinen scheinen Sie immer noch Vertrauen in die Reformfähigkeit von Regierungen und internationalen Organi­sationen zu haben. Im Gegensatz zu vielen Libertären, die sich auf die Entwicklung von Lösungen ohne Regierungen konzen­trieren, wie zum Beispiel Bitcoin oder Free Private Cities.

Um ehrlich zu sein, bin ich selbst sehr enttäuscht und wütend auf die internationalen Organisationen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie uns im Stich gelassen haben. Sie haben versprochen, die regelbasierte Weltordnung aufrechtzuerhalten. Aber schauen Sie sich Hongkong an, schauen Sie sich die Ukraine an, schauen Sie sich all die humanitären Krisen an, die es überall auf der Welt gibt. Meiner Meinung nach haben die internationalen Organisationen nicht gehalten, was sie versprochen haben, und das macht mich absolut wütend. Gleichzeitig bleiben die Staaten trotz der Dezentralisierung auf allen Ebenen in den verschiedenen Bereichen der Welt die Hauptakteure. Wir können die Grenzen nicht abschaffen, nicht jetzt und nicht in naher Zukunft. Wir sind also nach wie vor auf die staatlichen Institutionen angewiesen, um mit ihnen zu arbeiten und diese Probleme anzugehen. Wie frustriert oder wütend ich auch sein mag, ich muss mit ihnen zusammen­arbeiten.

 

Ist Ihr Name Glacier eine Erfindung von Ihnen?

Als ich jünger war, bin ich Schlittschuh gelaufen, und da haben mich meine Freunde Glacier, also Gletscher, genannt, es wurde mein Spitzname. Aber Chung Ching Kwong ist mein offizieller Name.

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