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«Man findet die Macht  nie dort, wo man sie sucht»
Christopher Clark / Mauritius Images.

«Man findet die Macht nie dort, wo man sie sucht»

Wer hat in der modernen Welt eigentlich das Sagen? Ein Gespräch über kriselnde Institutionen, die Unsicherheiten des 21. Jahrhunderts und die Schweiz als Pioniernation Europas.

Herr Clark, die Coronakrise hat unsere Gesellschaft gespalten. Nicht wenige scheinen in ihren demokratisch legitimierten Regierungen die neuen Diktatoren zu sehen, sie schimpfen über die Lügenpresse, die Wissenschaft, die Eliten. Sind die Autoritäten und Machtinstanzen in einer Krise?

Ja, sind sie, und das nicht erst seit der Ausbreitung der Coronapandemie. Diese Krise hat tiefe Wurzeln: Der wichtigste Meilenstein der jüngeren Vergangenheit war sicherlich die Weltwirtschaftskrise von 2007, die das Vertrauen in die Finanzinstitute unterminiert, wenn nicht zerstört hat. Die Krise der Autoritäten liegt aber nicht nur in wirtschaftlichen Ursachen begründet, sondern auch in einer Umstrukturierung der Öffentlichkeit. Die Leute haben das Vertrauen in die klassischen Medien verloren und tun ihren Ärger darüber in den sozialen Medien kund. Das könnte man eine Demokratisierung des Wissens oder jedenfalls der Meinungsäusserungen nennen. Das Resultat davon ist eine endlose Zersplitterung und Fragmentierung der Öffentlichkeit, in der sich Autorität nicht mehr durchsetzen kann. Es kommt zu einer ­Verflachung der Meinungslandschaft, in der keine Meinung mehr Respekt verdient als eine andere.

Aber lebt die Demokratie nicht auch davon, dass Autorität in Frage gestellt wird?

Natürlich, das muss auch nicht etwas Schlechtes sein. Problematisch wird es, wenn die Skepsis gegenüber der Autorität zu einer kompletten Absage an Expertise führt. In keinem Land herrscht nur die Demokratie, überall bestehen auch Teile der Verwaltung, die nicht gewählt werden. Das zunehmende Mass an Intransparenz ist eine natürliche Begleiterscheinung der Komplexität moderner Gesellschaftssysteme. Auch Chefärzte werden nicht ­gewählt, sondern kommen aufgrund ihrer Kompetenzen zu ihrer Position. Natürlich ist das undemokratisch, aber Demokratie in allen Lebensbereichen war nie die Idee.

Was ist das eigentlich, Macht?

Macht ist nicht etwas, was man besitzt, sondern eine Eigenschaft von Beziehungen. Man kann nicht sagen: Ich habe fünf Kilogramm Macht. Das zweite Mysterium der Macht ist ihre Flüssigkeit, sie ist ständig in Bewegung. Man sieht das zum Beispiel im Verhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Parlament in Frankreich oder den USA – mal ist dem Walten des Präsidenten nur wenig ent­gegengesetzt, mal sind ihm durch die Checks and Balances die Hände gebunden.

Die Macht ist also geheimnisvoll?

Sowohl in ihrer Substanz als auch in ihren Wirkungsgebieten. Vor einigen Jahren habe ich an einem Seminar teilgenommen, an dem ehemalige Minister, Verwaltungsangestellte und Presseangestellte dabei waren. Ich habe die verschiedenen Teilnehmer ­gefragt, wie sie die Macht der anderen wahrnehmen. Die Ver­waltungsangestellten meinten, sie hätten immer bei den Ministern betteln müssen. Die Minister sagten, sie seien von der Presse abhängig gewesen. Die Medienleute wiederum behaupteten, sie hätten nichts zu sagen und würden nur reagieren. Kurz: Niemand hatte das Gefühl, er sei dort gewesen, wo die Macht war. Man findet die Macht nie dort, wo man sie sucht. Sie ist immer woanders.

«Die Schweiz gibt es, weil sie nicht in das Grössere aufgehen wollte.

Die Existenzgrundlage dieses Staates

basiert auf der Nichtbereitschaft, sich aufzugeben.»

Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, dass «selbst in einem extrem repressiven System die Ausübung von Macht über komplexere Muster erfolgt, als ein simples, von oben nach unten verlaufendes Modell es gestatten würde». Warum lässt sich Macht nicht diktieren?

Michel Foucault hat die Komplexität auf den Punkt gebracht: Derjenige, der Macht ausübt, muss sich ihr zuerst beugen. Die italienischen Faschisten haben das Wort Totalitarismus erfunden. Sie postulierten einen Staat, in dem kein Leben existiert ausserhalb des Staates. Die Wirklichkeit in Italien war jedoch eine ganz ­andere: Es gab konkurrierende Institutionen wie die Monarchie oder die Kirche. Das ging so weit, dass der König Benito Mussolini zu sich rufen und ihn demissionieren konnte. Selbst in sehr stark zentralisierten Machtstrukturen wie dem Stalinismus finden wir Gegenströmungen. Eine Frage stellt sich immer wieder bei der ­Betrachtung von totalitären Regimen: Wenn Macht sich erfolgreich ausbreitet, wie viel hat das mit Zwang zu tun und wie viel mit der Bereitschaft vieler Menschen, mitzumachen, weil auch sie etwas davon haben? Lebt also Macht von Zwang oder von Einverständnis? Es gibt zum Beispiel Studien über die Gestapo im Dritten Reich; man würde meinen, die Macht dieser Institution würde allein auf Zwang basieren. Aber die Gestapo konnte nur deshalb so viele Fälle untersuchen, weil sie stets benachrichtigt wurde durch die Zivilbevölkerung. Die Gestapo war sehr klein, in der Industriestadt Essen zum Beispiel gab es nur sieben Gestapo-­Beamte. Man kann sagen, dass die Gestapo von der Kollaborations­bereitschaft der deutschen Gesellschaft lebte.

Wie wichtig ist es, dass eine Regierung von ihrer Bevölkerung als legitim betrachtet wird?

Nicht alle Regierungen suchen die ständige Bestätigung ihrer ­Legitimität. Denn es gibt auch die Legitimation sich selbst gegenüber; das Regime vergewissert sich dabei selbst, dass es seine «historische Aufgabe» erfüllt. Die Kommunistische Partei Chinas macht es so und begründet damit ihre Repression. In offenen ­Gesellschaften hingegen ist Legitimität eine Vorbedingung für die Akzeptanz der Autorität des Staatswesens in der Bevölkerung. Wenn das Staatswesen nicht mehr legitim erscheint, ist die Bereitschaft nicht mehr da, seine Autorität zu akzeptieren. So ­erweist es sich immer wieder als ungeheuer schwierig, wenn Behörden versuchen, Projekte ohne Legitimität durchzusetzen.

Nun könnte man argumentieren, dass die technologische Entwicklung die Spielregeln verändert habe. Ist die Zentralisierung von Macht im digitalen Zeitalter nicht sehr viel einfacher geworden?

Die neuen Bedingungen des digitalen Zeitalters können in zwei Richtungen wirken. Sie können eine Konzentrierung von Macht ermöglichen: Das sieht man vielleicht in China, das zu einer Überwachungsgesellschaft neuen Typs geworden ist; mit dem System des Social Scoring wird dort zunehmend alles erfasst, was der einzelne macht, und zentral gespeichert. Es kann aber auch das ­Gegenteil passieren: Autorität verflüssigt sich in einer digitalen Landschaft, in der viele neue Stimmen gleichberechtigt nebeneinander sprechen können, und gewisse strukturierende Autoritäten werden in Frage gestellt.

Welche Macht geht von Privatunternehmen aus?

Treffend ist hierfür der Begriff von den «tausend Plateaus», der von den Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägt wurde. Demnach müssen wir im Zeitalter des Spätkapitalismus Abschied nehmen von der Annahme, die Macht sei an einem bestimmten Ort konzentriert. Es sei vielmehr zu einer Verflachung der Macht gekommen, mit der aber nicht etwa eine Demokratisierung einhergehe. Ganz im Gegenteil entständen durch diese Verflachung viele kleinere Gebiete, in denen wiederum sehr steile Machtverhältnisse herrschen könnten. Ein Beispiel dafür wären Unternehmen, die Rechte ihrer Mitarbeiter missachten. Die beiden scheinen mit ihrer Analyse nicht unrecht zu haben: Tatsächlich haben jene, die keine Macht haben, ihre Unmündigkeit in den letzten Jahrzehnten nicht überwunden. Stattdessen ist es zu einer Zuspitzung der Ungleichheiten gekommen.

Charakteristisch dafür ist, dass zum Beispiel die grossen Internet­konzerne in den USA den demokratisch legitimierten Kongress an den Zügeln halten. Ist es da zu einer gewissen Monopolisierung gekommen?

Es war schon erstaunlich zu sehen, wie nach den Präsidentschaftswahlen die Tweets von Donald Trump mit einer kleinen Warnung versehen wurden. Zu Recht, wie ich finde. Aber es ist doch schon sehr bemerkenswert, dass nicht einmal der US-Präsident sich öffentlich äussern kann, ohne dass ein Internetkonzern seine Aussagen kuratiert.

«Man kann sagen, dass die Gestapo von der

Kollabora­tionsbereitschaft der deutschen ­Gesellschaft lebte.»

Auf Ebene der Geopolitik sehen wir die Wiedergeburt einer multipolaren Welt. Wie ist es dazu gekommen?

Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion existierte ein gefühltes Gleichgewicht auf geopolitischer Ebene, eine verhältnismässig stabile bipolare Weltordnung. Darauf folgte die Jugoslawienkrise, die Georgienkrise, die Finanzkrise, überhaupt das krisenreiche Zeitalter, in dem wir uns befinden. Zuerst sah es so aus, als würde nicht eine Multipolarität, sondern eine Unipolarität entstehen. Wir glaubten, dass der Fall der Berliner Mauer und die Befreiung Osteuropas die einzige Geschichte sein würden.

Was ist stattdessen passiert?

Inzwischen ist klargeworden, dass die heutige Zeit dual geprägt ist, durch den Mauerfall in Berlin ebenso wie durch die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tiananmenplatz. China ist zum hauptsächlichen Herausforderer Amerikas geworden, das muss nicht unbedingt schlecht sein. Bis anhin wissen wir einfach nicht, wo das Gleichgewicht in der Beziehung von China und den USA liegt. Wir haben somit keine Stabilität, viele neue ­regionale Mächte sind entstanden. Der Iran spielt eine Rolle, die vor zwanzig Jahren so nicht vorstellbar gewesen wäre. Im öst­lichen Mittelmeerraum haben wir es mit einer neuen Orientfrage zu tun. Russland bleibt ein Schwergewicht und will mit China zusammen nicht nur die Macht Amerikas, sondern die gesamte sogenannte westliche Ordnung in Frage stellen.

Sind Zerbrechlichkeit und Instabilität nicht unzertrennlich mit den Werken der Menschheit verbunden? Wie aussergewöhnlich sind die Ereignisse, die wir im 21. Jahrhundert miterlebt haben?

Eine Kollegin von mir hat das 21. Jahrhundert einmal als das «What-the-Fuck-Century» bezeichnet: Immer wieder kommt ­etwas Neues um die Ecke und sorgt für Erstaunen. Das kann eine Erklärung dafür sein, wieso wir ständig so beunruhigt sind. Wir Menschen gehen gerne davon aus, dass alles normal bleiben muss. Vielleicht ist das die falsche Annahme. Wir müssen lernen, mit dem Ausnahmefall zu leben und in unseren Plänen Raum für Unerwartetes zu lassen. Spannend finde ich, dass unsere Desorientierung oft aufgrund von Überraschungen erfolgt, die eigentlich gar nicht so bedrohlich sind. Wir Menschen sind sehr schreckhaft geworden, weil wir an kein gemeinsames Narrativ mehr glauben, das unsere Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft verbinden könnte. Früher war man sich in allen politischen Lagern einig, dass die allgemeine Fahrtrichtung stimmte und technologische Lösungen die Probleme der Zeit bewältigen würden. Man hatte das Gefühl, dass die Reise positiv ende. Dieses Gefühl hat man in der Moderne nicht mehr. Was uns fehlt, ist eine Story, die das Kollektiv verbindet und ihm ein Ziel gibt. Genau das war es, was Emmanuel Macron 2017 in der sogenannten Septemberrede versuchte. Mit dem Narrativ «Europa» wollte er den Staatsbürgern der Europäischen Union eine Zukunft ­aufzeigen.

Dieses gemeinsame Narrativ der europäischen Integration ist aber auch in einer Krise. Ist es trotz der zunehmenden Fragmentierung der Öffentlichkeit überhaupt möglich, koordinierte stabile Strukturen aufzubauen und aufrechtzuerhalten?

Vielleicht ist die Integration in Zukunft nicht mehr das Ideal, momentan jedenfalls gibt es starke Stimmungen dagegen. Derzeit ist kein Wille erkennbar für die Entstehung eines Superstaates. Es gibt aber viele Bereiche, bei denen eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern der Europäischen Union unabdingbar ist, beispielsweise bei der Immigration oder der Klimapolitik. Doch auch hier braucht es eine Zielvorstellung: Was für eine Rolle soll die EU spielen? Es ist erstaunlich, wie wenig klare Linien vorhanden sind.

Welche Rolle könnte die Schweiz in diesem europäischen Projekt spielen?

Ich habe grossen Respekt vor der Schweiz, darum halte ich mich in dieser Frage zurück! Oftmals wird vergessen, was für eine bedeutende Rolle die Schweiz in Europa spielt. Es wird beispielsweise oft behauptet, die Revolution habe in Paris angefangen. Das stimmt nicht: Sie begann in der Schweiz mit dem Sonderbundskrieg. Die ganze Welt hat damals auf diesen kleinen Krieg geschaut und ihn als Testfall für die Revolution betrachtet. Die Frage nach der Mitgliedschaft der Europäischen Union wurde bereits oft gestellt und von der Schweizer Bevölkerung auch klar beantwortet. Andererseits ist die Schweiz ein Mitglied der Efta und insofern auch an die Gesetzgebung der Union gebunden. Wie sich dieses Verhältnis weiterentwickelt, bleibt offen.

Die von Ihnen angesprochene Ambivalenz ist interessant: Die Schweiz als europäische Pioniernation einerseits, die sich andererseits auf Distanz zu Europa hält.

Die Schweiz ist wie eine fraktale Welt; man entdeckt immer wieder Welten innerhalb von Welten. Verallgemeinerungen sind nie möglich, selbst zwischen den Kantonen erkennt man teils grosse politische Unterschiede. Die Frage nach der inneren Organisation der Schweiz musste im Verlauf der Geschichte immer wieder neu beantwortet werden. Die Schweiz kennt eine äusserst lebendige Verfassungsgeschichte, insofern ist sie eine Art Mikrokosmos für die föderalen Lösungen Europas. Mein Doktorvater Jonathan Steinberg behandelt in seinem Buch «Why Switzerland» die Frage, weshalb die Schweiz überhaupt existiert. Warum gibt es sie eigentlich? Wieso hat sich die italienischsprachige Schweiz nicht den Italienern angeschlossen? Wieso ist die Romandie nicht an Napoleon gegangen? Die Schweiz gibt es, weil sie nicht in das Grössere aufgehen wollte. Es wäre überraschend, wenn die Schweiz nun plötzlich zur Europäischen Union verschmelzen würde. Die Existenzgrundlage dieses Staates basiert auf der Nichtbereitschaft, sich aufzugeben.

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