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Magische «150»

Der Markt ist eine kulturelle Errungenschaft der neolitischen Revolution. Doch auch wenn die Menschen inzwischen seit über 10’000 Jahren sesshaft sind, so sind die Kategorien der Jäger und Sammler dennoch weiterhin präsent: unser Gehirn ist biologisch an ein Leben in Gruppen angepasst, die nicht mehr als 150 Personen umfassen. Auf die Herausforderungen durch grössere Kollektive muss mit Lei-stungen der Kultur reagiert werden.

Europas schreibende Zunft mokiert sich gerne über den Glauben an die Schöpfungsgeschichte, der wissenschaftlich verbrämt als Theorie des «intelligent design» im US-amerikanischen «bible belt» immer offensiver auftritt. Dabei helfen nicht wenige von ihnen mit, dass sich im alten Europa eine Mentalität breitmacht, die letztlich ebenfalls auf einer Spielart des geschmähten «intelligent design» beruht.

Die Rede ist von der vor allem in Europa um sich greifenden Ablehnung des ungeplanten, ergebnisoffenen Freihandels und der ungebremsten Globalisierung der Märkte. Mehr als die Hälfte der Deutschen lehnt inzwischen die Marktwirtschaft ab. Fast drei Viertel der Franzosen sind sogar davon überzeugt, ihrem Land ginge es besser, wenn alle Beamte wären. Statt sich den neuen Herausforderungen zu stellen, flüchten sich immer mehr Menschen unter staatliche Bevormundung. Nur folkloristisch aufgemachte Wochen- und Jahrmärkte und von der Politik künstlich geschaffene Spielwiesen, wie der Handel mit Treibhausgas-Emissionsrechten, stehen in Europa noch relativ hoch im Kurs. Selbst in den USA finden protektionistische Bestrebungen immer mehr Anhänger.

Das lässt die Frage aufkommen, ob und inwieweit die freie Marktwirtschaft überhaupt mit der menschlichen Natur vereinbar ist. In den USA gehen unter anderen Leda Cosmides und John Tooby (Santa Barbara), die die Schule der der «Evolutionären Psychologie» begründet haben, dieser Frage nach. Ihr Ansatz: Wenn das Schlagwort «eine Welt» einen Sinn haben soll, muss man Psychologie, Soziologie oder Ökonomie bis zu einem gewissen Grad als Zweige der Biologie behandeln dürfen. So untersucht die Evolutionäre Psychologie unter anderem, wie und unter welchen Voraussetzungen Kollektive zu intelligenteren Entscheidungen gelangen können als isolierte Individuen. Wir wissen schon lange, dass grosse Kollektive nicht unbedingt klüger entscheiden als der einzelne. Aus der Massenpsychologie von Gustave Le Bon ist uns seit mehr als einem Jahrhundert bekannt, dass Intelligenz, anstatt durch Kooperation zu wachsen, sich in Menschenmassen auch leicht verflüchtigen kann. Die moderne Hooligan-Forschung bestätigt: ein Mob ist dümmer als das dümmste seiner Mitglieder. Viele Menschen zusammen sind nur unter bestimmten Bedingungen klüger als einzelne.

Eine der Voraussetzungen kluger kollektiver Entscheidungen ist die Bildung hierarchisch strukturierter Gemeinschaften, beginnend mit der Familie als Urzelle und deren Zusammenschluss zu einer grösseren Gruppe, die der geordneten Auswertung, dem Austausch und der Weitergabe von Erfahrungen über Generationen dient. Etwa anderthalb Millionen Jahre lang lebten die Menschen als Jäger und Sammler in Gruppen von höchstens 150 Mitgliedern, die von einem ausgeprägten Wir-Gefühl, einem «Stammesegoismus» und einer damit verbundenen feindlichen Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Stämmen zusammengehalten wurden. Unser Hirn ist an das Leben in solchen kleinen Gruppen und die dort auftretenden täglichen Probleme angepasst.

Erst vor etwa 10’000 Jahren, im Neolithikum, sind die Menschen infolge des Übergangs zu Ackerbau und Viehzucht zur Bildung grösserer Gemeinschaften übergegangen. Die dank den neuen Techniken der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Kleidung erzielbaren (bescheidenen) Überschüsse ermöglichten die Gründung erster Städte mit Bewohnern, die nicht mehr darauf angewiesen waren, ihren Lebensunterhalt mit der Jagd oder der Landbewirtschaftung zu verdienen. Die biologische Organisation des menschlichen Hirns konnte sich jedoch auf dem Wege des evolutionären Wechselspiels von Mutation und Selektion an diesen fundamentalen Wandel der Lebensbedingungen bis heute kaum anpassen, weil der kurze Zeitraum von etwa 10’000 Jahren dafür nicht ausgereicht hat: Wir müssen uns in der modernen Welt mit Hilfe des Erbes unserer Steinzeit-Hirne zurechtfinden und durchschlagen.

Nach wie vor ist das menschliche Hirn biologisch nicht darauf angelegt, Probleme in Kollektiven von mehr als 150 Personen zu lösen. Über die «magische Zahl» 150, die einen Umschlagpunkt markiert, wurde in den letzten Jahren viel geschrieben, etwa in dem Bestseller «The Tipping Point» (2000) des amerikanischen Journalisten Malcolm Gladwell. Die Regel, Gemeinschaften, die auf mehr als 150 Mitglieder anwachsen, in zwei oder mehr relativ selbständige Gemeinden aufzuteilen, wird inzwischen auch von manchen international erfolgreichen Grosskonzernen befolgt. Nicht zufällig übersteigt die Zahl der Einträge in den Adressbüchern durchschnittlicher Zeitgenossen nur selten die «magische Zahl» von 150. Mehr Menschen kann kaum jemand zur gleichen Zeit persönlich kennen, einschätzen und in ihrer Entwicklung verfolgen.

Um Probleme in über 150 Personen umfassenden Kollektiven anzugehen, hat die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte im Prinzip nur zwei Methoden gefunden: den Markt und die Bürokratie. Der Markt als Methode dafür, die Bedürfnisse und Wünsche vieler Menschen mit dem Wissen über deren Befriedigungsmöglichkeiten in Einklang zu bringen und so das Überleben grösserer Kollektive zu sichern, ist deutlich erfolgreicher als die Bürokratie. Von Ausgrabungen wissen wir, dass schon die Menschen von Cro-Magnon Arbeitsteilung und Fernhandel praktizierten, was es ihnen ermöglichte, die letzte Eiszeit zu überleben. Die zur gleichen Zeit in Europa auch noch lebenden körperlich stärkeren Neandertaler schafften das nicht, vermutlich weil sie die mentale Hürde zwischen dem rein persönlichen Austausch in der Horde und dem unpersönlichen Austausch auf dem grossen Markt nicht zu meistern vermochten.

Erst durch das Ablegen der Scheu vor dem Fernhandel mit Fremden sowie dem unpersönlichen Austausch wurde der Mensch zum Homo sapiens. Dieser unterscheidet sich – wie schon Friedrich August von Hayek, der Wirtschaftsnobelpreisträger von 1974, klar herausarbeitete – von seinen auf den persönlichen Austausch in der Horde beschränkten Vorgängern dadurch, dass er lernen muss, ständig in zwei verschiedenen Welten zu leben: in einem «warmen», durch Familienbande zusammengehaltenen Mikrokosmos und in einem «kalten» Makrokosmos, das heisst in der unpersönlichen, durch abstrakte Regeln geprägten Ordnung des Marktes.

Wir wissen nicht, ob unsere vorgeschichtlichen Ahnen von nackter Not zum Fernhandel getrieben wurden oder nicht. Geholfen haben ihnen aber wahrscheinlich «Hirnstrukturen»: der Eigentumsinstinkt sowie die Fähigkeit, die Gefühle anderer mit Hilfe der sogenannten «Spiegelneuronen» zu verstehen, eine Fähigkeit, die mit der Bereitschaft zusammenhängt, anderen selbstlos zu helfen und sich mit unbekannten Dritten zu gegenseitigem Vorteil auszutauschen.

Obwohl die Menschheit höchstwahrscheinlich ihr Überleben der Arbeitsteilung und dem Freihandel verdankt, gaben die Menschen immer wieder der Versuchung nach, bürokratische Grossorganisationen aufzubauen und diesen zu vertrauen. Um zu einem «ausgewogenen» Verhältnis von Bürokratie und Markt zu gelangen, um sicherzustellen, dass Neid und Anspruchsdenken nicht jegliche Innovation im Keim ersticken, müsste sich die Politik in erster Linie als Ordnungspolitik begreifen, die die Aufgabe hat, den jeder Bürokratie innewohnenden Drang zum eigengesetzlichen Ausufern zu bremsen und dafür zu sorgen, dass dem Ausprobieren neuer Ideen, im freien Spiel von Versuch und Irrtum, auf dem Markt genügend Raum bleibt.

Für eine Ausgeburt bürokratischen Hochmuts halte ich etwa die kurz vor der Verabschiedung stehende EU-Chemikalienverordnung REACh (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals). Laut «Weissbuch zur Chemikaliensicherheit» hätten die Hersteller, Verarbeiter und Anwender von Chemikalien Tests mit mehr als 40 Millionen Versuchstieren durchführen und etwa 100 Millionen Chemical Safety Reports (CSR) von jeweils bis zu 200 Seiten Umfang anfertigen müssen, um den neuen Vorschriften zu genügen. Wer hätte die lesen, verstehen und umsetzen sollen? Inzwischen ist am REACh-Entwurf manches verbessert worden. Gerade hinter solch gutgemeinten, aber in der Praxis nicht umsetzbaren Regulierungsversuchen wie REACh schimmert der Anspruch eines «intelligent design» durch. Man meint, von vornherein wissen zu können, was sich als nachhaltig erweisen wird. Aber nicht nur beim Wechselspiel von Angebot und Nachfrage auf dem Markt, sondern auch bei bürokratischen Problemlösungsversuchen kommt bekanntlich am Ende fast immer etwas heraus, das so niemand gewollt hat. Allerdings gibt es dabei in der Regel nur auf dem Markt angenehme Überraschungen, während die Ergebnisse bürokratischer Ansätze meistens enttäuschen.

Auf dem Markt geht es zwar zu wie in der natürlichen Evolution. Aber weil unser Hirn grösstenteils an die Lebensbedingungen der Jäger und Sammler angepasst ist, erscheint es als wenig wahrscheinlich, dass wir bei Problemen des Ressourcen-, Risiko- und Wissensmanagements spontan marktwirtschaftliche Lösungswege einschlagen. Spontan entstehen, unter dem Druck der Not, allenfalls Schwarzmärkte, aber vermutlich keine nachhaltig lebensfähige marktwirtschaftliche Ordnung. Funktionsfähige Märkte bedürfen, so paradox das für manche auch klingen mag, der bewussten und planmässigen Förderung wettbewerbsfreundlicher kultureller und rechtlicher Rahmenbedingungen.

Der Aufbau einer nachhaltigen marktwirtschaftlichen Ordnung ist eine Kulturleistung, die sich auch gegen die Reflexe unseres in der frühen evolutionären Menschheitsgeschichte geprägten Gehirns durchzusetzen hat. Deshalb kommt der familiären und schulischen Erziehung eine zentrale Bedeutung zu. Sie muss den Menschen Mut machen, Ungewissheiten auszuhalten und den Entdeckungsleistungen globalisierter Märkte zu vertrauen. Darin sehe ich die wichtigste Voraussetzung, um in der grösser und schwerer überschaubar gewordenen Europäischen Union zu einer rationalen Bewertung der Risiken von Chemikalien oder neuer Techniken zu gelangen.

EDGAR GÄRTNER ist Hydrobiologe und Fachjournalist für Chemie und Energie.

Er leitet seit 2005 das Umweltforum des Centre for the New Europe (CNE), eines liberalen Think-Tanks in Brüssel.

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