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Märchen für Erwachsene

Es war einmal eine Prinzessin namens soziale Marktwirtschaft. Sie war freundlich, bewies in ihrem Tun stets Augenmass, und alle fanden Gefallen an ihr. Doch schon bald trat ein böser Raubritterclan auf den Plan und trieb sein Unwesen. Diese Bösewichte trugen im Volksmund den Namen «die Neoliberalen», drangsalierten die soziale Marktwirtschaft, wo sie nur konnten, und […]

Es war einmal eine Prinzessin namens soziale Marktwirtschaft. Sie war freundlich, bewies in ihrem Tun stets Augenmass, und alle fanden Gefallen an ihr. Doch schon bald trat ein böser Raubritterclan auf den Plan und trieb sein Unwesen. Diese Bösewichte trugen im Volksmund den Namen «die Neoliberalen», drangsalierten die soziale Marktwirtschaft, wo sie nur konnten, und spannten mit einem anderen, recht wohlhabenden Clan zusammen, den Bankern. Diese hatten nur ein einziges Ziel: den Staat zu erpressen, der dem Prinzesslein hätte zu Hilfe eilen können. Sie hatten Erfolg. Unter den wehenden Bannern des Neoliberalismus herrschten alsbald Privatisierung und Deregulierung in allen Teilen des Königreichs, der Prinzessin blieb nichts anderes übrig, als sich vor diesem Raubritterkapitalismus ins Exil zu flüchten. Und den anständigen Menschen, die sich nach den guten alten Zeiten sehnten, blieb nur eins übrig: sich aufzulehnen und sich mit dem darniederliegenden Staat zu verbünden.

Es ist ein schönes europäisches Märchen, zumal wenn man bereit ist, sich zu den Guten zu zählen. Jenen, die der Gegenwart nicht indifferent gegenüberstehen, bietet es für ihr gefühltes Unbehagen eine Erklärung, die den Mindeststandard von Plausibilität erfüllt. Es gibt nur ein Problem: Das Märchen ist – ein Märchen.

Das Märchen ist – erstens – ideengeschichtlich zu schön, um wahr zu sein. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft ist eine Erfindung ordoliberaler Ökonomen, also der deutschen Neoliberalen der Freiburger Schule (Rüstow, Erhard, Röpke, Müller-Armack). Es beruht auf dem letztlich simplen Gedanken, durch den sich die Ordoliberalen von den klassischen Liberalen des 19. Jahrhunderts abgrenzten: Wettbewerb ergibt sich nicht spontan im Markt, sondern muss durch den Staat hergestellt bzw. gesichert werden. Die Neoliberalen sind also keineswegs Staatshasser – sie sind vielmehr diejenigen unter den Liberalen, die im Staat den edlen Ritter sehen. Die angeblichen Raubritter machen der Prinzessin in Wahrheit den Hof.

Das Märchen ist – zweitens – faktisch zu schön, um wahr zu sein. Im Deutschland der 1950er und der 1960er Jahre,  wo sich dank Ludwig Erhards mutigem Alleingang die Marktwirtschaft halbwegs entfalten konnte, betrug die Staatsquote (Anteil der Staatsausgaben am BIP) rund 30 Prozent. Im Klartext: der Staat gebot schon damals über jede dritte erwirtschaftete Mark. Und heute, nach dem angeblichen Beutezug der kapitalistischen Raubritter? Deutschland hat je nach Berechnungsart eine Staatsquote von rund 50 Prozent. Im Klartext: es ist der Staat, der in jedem zweiten Fall bestimmt, was gebaut, subventioniert, unterstützt, investiert, konsumiert wird. Unsere Prinzessin ist also gar nicht geflüchtet, sie dient ganz brav dem wahren König: Vater Staat.

Das Märchen ist – drittens – sachlich zu schön, um wahr zu sein. Zuerst einmal sind Banken nicht einfach Banken. Es gibt jene, die Zugang zum Tresen der Zentralbanken haben, und jene, die keinen Zugang haben. Nennen wir sie der Einfachheit halber Geschäftsbanken und Privatbanken. Im Märchen geht es allein um erstere. Die angeblich bösen Geschäftsbanken, die die Staaten plündern, sind in Wahrheit deren Komplizen. Sie profitieren von verschiedenen gesetzlichen Privilegien, u.a. von niedrigen Kern- bzw. Eigenkapitalquoten (nach Basel III ganze 7 Prozent) und billigem Zentralbankgeld (gratis). Im Gegenzug sind die Geschäftsbanken so freundlich, die Schuldpapiere der Staaten aufzukaufen, die sie wiederum dank Privilegierung als hervorragende Sicherheiten in ihre Bücher nehmen dürfen. Sollten ihre Aktiven und ihr Eigenkapital jemals plötzlich dahinschmelzen, werden sie vom Staat nur allzu gerne gerettet. Auch die bösen Geschäftsbanker dienen Vater Staat.

Peter Sloterdijk spricht wie immer souverän aus, was andere lieber verschweigen. In seinem neuen Werk «Zeilen und Tage», einem Kondensat kritischer Zeitzeugenschaft, heisst es in einer Notiz: «Es gehört zu den desinformierenden Wirkungen der üblichen Sprachspiele über das ‹Soziale›, zu suggerieren, die heutige ‹Gesellschaft› bewege sich auf das äusserste Stadium des Beutekapitalismus zu, während wir unserem faktischen Modus vivendi zufolge (…) längst in einem Semisozialismus bzw. einem socialism au ralenti angelangt sind, der seinen Namen nicht zu nennen wagt.»

Ach wie gut, dass niemand weiss, dass ich Semisozialismus heiss.

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