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«Männlichkeit wird nach wie vor viel zu stark mit Dominanz gleichgesetzt»

Schriftsteller Donat Blum hält Männlichkeit für ein soziales Konstrukt und will ihr ­Empathie entgegensetzen. Psychologe Ahmad Mansour widerspricht und kritisiert die Verteufelung «alter weisser Männer». Ein Streitgespräch über Gendern, ­muslimischen Antisemitismus und Zärtlichkeit.

«Männlichkeit wird nach wie vor viel zu stark mit Dominanz gleichgesetzt»
Ahmad Mansour und Donat Blum, fotografiert von Ioannis Politis.

Zum Einstieg: Was ist ein Mann?

Blum: Ein soziales Konstrukt.

Mansour: «Mann» ist die biologische Bestimmung eines Menschen, die sich durch die Sozialisation in den letzten Jahrtausenden sehr verändert hat. Aber seine primären Merkmale sind geschlechtlich.

 

Was ist Ihr Verständnis von Männlichkeit?

Mansour: Sie ist vollständig abhängig von Kultur und Sozia­lisation. Bis vor 100 Jahren war sie äusserst homogen. Was wir nun erleben, ist das Auseinanderdriften sehr ­verschiedener Formen von Männlichkeit.

Blum: Ich stimme weitgehend zu. Die Männlichkeit wird fluider. Und das macht das Individuum wichtiger als die Fremdzuschreibungen.

 

Wie hat sich Männlichkeit verändert, seitdem Sie ein Kind ­waren?

Mansour: Ich wuchs in einem muslimisch-arabischen Dorf in Israel auf. In der dortigen Kultur bestand Männlichkeit vor allem darin, die weiblichen Familienmitglieder zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass keiner meine Mutter oder meine Schwester beschimpft, ihnen nahekommt oder ihre Ehre in Frage stellt. Stärke zu zeigen bestand darin, andere zu Opfern zu machen und laut zu sein. Nachdem ich den Führerschein bekommen hatte, bestand mein Sport darin, durch das Dorf zu fahren und ganz laut Musik zu hören – um zu zeigen, dass ich da bin und das beste Auto habe. Eine betont männliche Haltung entsprach meinen Vorstellungen von Männlichkeit, und ich habe das nicht in Frage gestellt. Als ich dann zum Studium nach Tel Aviv kam, lernte ich andere Formen von Männlichkeit kennen. Ich sah säkulare Juden, Männer mit Pistolen und erstmals auch Homosexuelle. Das hat mich damals überfordert.

Blum: Ich bin in Schaffhausen aufgewachsen, einer Schweizer Stadt mit 30 000 Einwohnern. Bis ich im Alter von 19 Jahren weggezogen bin, kannte ich in der Stadt keine offen queer lebende Person – und bis heute auch keine Trans-Menschen. Inzwischen ist alles fluider geworden und es gibt auch ein Bewusstsein dafür, welche ­Aspekte der Männlichkeit zugeschrieben werden und welche davon in Biologie gründen. Letztere sind aber nicht so wichtig, denn diskutieren können wir nur über den sozialen Anteil. Die Verhandlungsmöglichkeiten und der Freiraum, welche die Option «nonbinär» in den letzten Jahren eröffnet hat, sind sicherlich der grösste Unterschied zu früher.

 

Was war Ihr erster Eindruck urbaner Männlichkeit?

Blum: In Zürich gewann ich den ersten Eindruck grossstädtischer Männlichkeit, als ich mit meinem Vater die Street Parade besuchte. Dort sah ich einen Mann nackt tanzen. Das beschämte und faszinierte mich so, dass ich mich nicht traute, mich zu bewegen. Ich war geschockt von all dem Hedonismus und bemerkte nicht, wie jemand auf meinem Fuss stand. Der grosse Zeh war danach ganz blau.

Mansour: Für mich wäre es undenkbar gewesen, mit meinem Vater an eine solche Veranstaltung zu gehen. In der Moschee, die ich besuchte, wurde mit Freude zur Kenntnis genommen, dass sich eine Krankheit namens Homosexualität in den Grossstädten Europas breitmache, die irgendwann auch den Kontinent erledigen werde.

Ahmad Mansour, fotografiert von Ioannis Politis.

Sie haben beide Ihr Heimatland verlassen. Was war Ihr ­Eindruck von der Männlichkeit, die Sie in Berlin kennengelernt haben?

Mansour: Das lässt sich eher anhand einzelner Begegnungen festmachen, an Individuen, die ich traf und auf die ich manchmal mit Überforderung und Angst reagierte, weil mir die Männlichkeit, die sie verkörperten, nicht vertraut war. Das ist etwas, das mir heute in meiner Arbeit in Gefängnissen wiederbegegnet, wo die Ablehnung der Homosexualität sehr gross ist. Jedenfalls habe ich selbst in einem langen Prozess Toleranz entwickelt, auch weil ich einmal eine ­lesbische Chefin hatte. Heute ist einer meiner besten Freunde ein schwuler, verheirateter Mann. Meine Tochter ist mit den Kindern dieses Paares befreundet. Ich denke, das fasst meinen Weg gut zusammen – und ich bin Deutschland dankbar dafür, dass es mir diese Möglichkeit eröffnet hat.

Blum: Männlichkeit wird nach wie vor viel zu stark mit ­Dominanz gleichgesetzt. Es gibt ein krasses Bedürfnis nach Dominanz seitens Menschen, die als männlich wahr­genommen werden wollen. Schwäche und Verletzlichkeit zu zeigen ist ihnen nicht möglich, obwohl das essentielle Eigenschaften sind, um zwischenmenschliche Verbindungen herzustellen. Ich lebe seit knapp zehn Jahren permanent in Berlin. Ich habe mich in dieser Stadt immer freier gefühlt als in der Schweiz. In Berlin kann ich als männlich gelesene Person einfach Männer in der U-Bahn anschauen, ohne dass dies als Angriff missverstanden wird. Das ist ­etwas Subtiles, das für mich ein Stück Freiheit bedeutet.

«Es gibt ein krasses Bedürfnis nach ­Dominanz seitens Menschen, die als männlich wahr­genommen werden ­wollen. Schwäche und Verletzlichkeit zu zeigen ist ihnen nicht möglich.» Donat Blum

Mansour: Auch in Neukölln?

Blum: Auch in Neukölln. In Berlin höre ich nicht auf, die Hand eines Mannes zu halten. Aber je weiter es in diesen Stadtteil reingeht, desto mehr scanne ich die Umgebung, ob es okay ist. Doch selbst in dieser Gegend habe ich als weisse Person den Eindruck, ich würde im Zweifelsfall von den Leuten rundherum genügend Solidarität erfahren.

 

Ist Neukölln ein bestimmter Problemfall oder «überall», wie Heinz Buschkowsky, der ehemalige Bürgermeister des Stadtteils, einmal schrieb?

Mansour: Am Beispiel Neukölln zeigt sich, dass die sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte nicht alle Menschen in der Gesellschaft mitnehmen. Schlimmer noch, unter uns leben Gruppen, die diese Veränderungen verachten. Die Gründe dafür können kulturell oder religiös sein, mit durchaus gefährlichen Folgen.

Blum: Ich würde das grundsätzlicher fassen. Alle Menschen haben das Potenzial zu Gewalt, und der Machtrausch ist der ­Geschlechtskategorie «Männlichkeit» fast schon immanent. Das ist das Problem. In allen Gruppierungen – auch in queerfeministischen Kreisen – gibt es Menschen, die Macht ausüben und zerstören wollen. Als Menschheit müssen wir damit umgehen lernen.

Mansour: Sieht man sich Neonazis, bildungsferne Teile der hiesigen oder auch manche Aspekte der russischen Gesellschaft an, stösst man auf mehr Homosexuellenfeindlichkeit als anderswo. Die soziokulturellen Gründe für diese Ablehnung finden sich auch in ­Afrika, wo sie im Namen des Christentums kultiviert werden, oder unter Evangelikalen in den USA. Das betrifft also nicht nur den Islam.

 

Was sind denn spezifische Probleme, die mit diesem zusammenhängen?

Mansour: Teile seines Weltbilds migrieren mit oder entstehen in unserer Gesellschaft, und darüber müssen wir reden. Auch Femizide gibt es überall, Ehrenmorde haben jedoch andere Gründe als etwa ein Familiendrama am Weihnachtstisch, wenn ein deutscher Mann seine Ehefrau ermordet. Dieser Täter wird nie von seiner Verwandtschaft Anerkennung erfahren und diese Tat nie mit etwas namens Ehre in Verbindung bringen. Wir können gern über allgemeine Fragen reden, umso dringender müssen wir allerdings über Spezifisches wie religiös begründete Probleme sprechen.

Blum: Dem will ich nicht grundsätzlich widersprechen. Wenn ich etwas vermeiden möchte, dann Pauschalisierungen und Vorverurteilungen aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten. Die Antworten auf Fragen, wie wir zu einer gewaltfreieren Gesellschaft kommen, müssen jeweils dem Kontext angepasst werden. Für mich ist Empathie eines der wichtigsten Gegenkonzepte zu Männlichkeit. Versucht man, sich in bestimmte Gruppierungen reinzudenken und nachzuvollziehen, warum sie dieses oder jenes machen, kann man auch nachvollziehen, was wir am besten dagegen tun können.

Mansour: Der Anspruch, nicht rassistisch sein zu wollen, ist zweifelsfrei eine Errungenschaft der letzten Jahrzehnte. Er darf aber nicht dazu führen, sprachunfähig zu werden und bestimmte Phänomene nicht mehr benennen zu können.

Blum: Das sehe ich mittlerweile auch so. Der Gesprächsabbruch ist das Dümmste, was wir machen können.

Mansour: Gefühlte oder reale Sprechverbote befeuern ­Rassismus, statt ihn zu bekämpfen. Es gibt eine sehr ­interessante Forschung dazu, dass die Diskriminierungs­bereitschaft nach Diversity-Trainings in Firmen steigt, anstatt abzunehmen. ­Aggressive Vorwürfe oder im Namen von Antirassismus wieder Menschen nach Hautfarbe einzuteilen und alles in ­Kategorien zu packen, statt den einzelnen Menschen zu sehen – das ist etwas, das ich geradezu pervers finde.

 

In den Gender Studies ist der Begriff der «hegemonialen ­Männlichkeit» sehr populär. Können Sie damit etwas ­anfangen?

Mansour: Zunächst einmal die wichtigere Frage: Was sind Gender Studies eigentlich? Wir brauchen sicher eine akademische Geschlechterforschung, aber bestimmt keine zehn Fakultäten davon, die solche Begriffe hervorbringen.

Blum: So dominant ist dieses Fach doch nicht.

Donat Blum, fotografiert von Ioannis Politis.

In Deutschland gibt es 173 Professuren für Gender Studies. Das sind nicht nur volle Professuren, sondern auch Teil­denominationen, aber insgesamt doch mehr als beispielsweise für Pharmazie.

Mansour: Diese überproportionale Beschäftigung mit dem Thema «Gender» wird nicht dazu führen, dass die Leute diesbezüglich offener werden. Veränderungen brauchen Zeit.

«Diese überproportionale Beschäftigung mit dem Thema ‹Gender› wird nicht dazu führen, dass die Leute diesbezüglich offener werden.

Veränderungen brauchen Zeit.» Ahmad Mansour

Blum: Das Problem liegt bei Cis-Männern, sich nicht mit ­ihrer eigenen Geschlechtlichkeit auseinanderzusetzen. Den Diskurs pauschal zu beenden, indem mit der eigenen ­Dominanz eingefordert wird, darüber nicht zu sprechen – das finde ich krass. Wenn ich will, dass die Gesellschaft im Gespräch bleibt, bedingt das auch, dass ich mich um mein Gegenüber bemühe.

 

Nochmals zum Begriff «hegemoniale Männlichkeit», bitte.

Blum: Das ist für mich ein rein deskriptiver Begriff, der ­darauf hinweist, dass es eine Form von Männlichkeit gibt, die eine gesellschaftliche Dominanzrolle einnimmt.

Mansour: Wie sieht diese Männlichkeit aus?

Blum: Schauen Sie auf die Geschäftsleitungen der Unternehmen, neun von zehn Personen sind dort noch immer Männer. Selbst für Cis-Frauen ist es sehr schwer, in solche geschlossenen Wirtschaftseliten vorzustossen. Hegemoniale Männlichkeit hält sich selbst an der Macht, indem sie andere unterdrückt. Daran zeigt sich auch die gesellschaftliche Wirkungsmacht der Bilder, die dem Geschlecht zu­geschrieben werden. Der queere Gedanke lautet hingegen: Lasst uns die Wirkungsmacht von Geschlechtszuschreibungen überwinden!

Mansour: Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass Männlichkeit nicht verteufelt werden sollte. Wir können sie anders besetzen und Alternativen anbieten. Aber das Abwerten von Männern und der Gebrauch von Begriffen wie «Cis-Männern» werden nur dazu führen, dass diese noch aggressiver werden. Was die Unternehmensführungen angeht, sollte jeder eine Chance bekommen, der leistungsbereit ist – egal, ob Mann, Frau, divers, ob mit oder ohne Migrationshintergrund.

«Was die Unter­nehmensführungen angeht, sollte ­jeder eine

Chance bekommen, der leistungsbereit ist – egal, ob Mann, Frau, divers, ob mit oder ohne Migrations­hintergrund.» Ahmad Mansour

Blum: Männlichkeit darf man in dem Sinne verteufeln, dass es ein Gender ist, bei dem man sich fragen muss: Was bringt das als Geschlechtskategorie überhaupt? Cis-Männer sollten jedoch schon deshalb nicht verteufelt werden, weil Menschen grundsätzlich nicht verteufelt werden sollten – egal, wer sie sind. Wir wollen mehr Verbindung, Liebe und Empathie statt Trennendes, Spaltung und Hass.

Mansour: Das kann ich ja alles unterschreiben, aber es ­werden doch ständig «alte weisse Männer» verteufelt – und Individuen, die aus der Reihe tanzen, ohnehin. Ich leide tagtäglich darunter, wenn ich muslimischen Antisemitismus thematisiere oder feststelle, dass die Ereignisse der Kölner Silvesternacht mit patriarchalen Strukturen zu tun hätten. Wo ist denn die Toleranz auf einmal hin, wenn es um solche Angelegenheiten geht?

Blum: Alle Menschen haben das Potenzial zur Gewalttätigkeit. Da ist selbstkritisch draufzuschauen und auch als queere oder als queerfeministische Community müssen wir uns ­fragen, wo wir etwas nur für unsere Machtlust tun statt für das Miteinander.

 

Gibt es weitere Beispiele, die das veranschaulichen?

Mansour: Ja, die Reaktionen auf die Arte-Dokumentationsreihe wie «Naked» etwa. Dort ging es um Fragen zu Geschlecht und Sexualität, und es kamen auch Personen zu Wort, die darauf bestehen, dass es nur zwei Geschlechter gibt oder Operationen bei Heranwachsenden nicht nur positiv zu bewerten sind. Diese Leute werden von der Queer-Community massiv angefeindet – und nicht im Sinne von Meinungsverschiedenheit, sondern mit dem Vorwurf an den Sender, unliebsamen Personen dürfe keine Plattform gewährt werden.

Blum: In dem Moment, wenn Sie von «der» Queer-Community sprechen, nehmen Sie eine Pauschalisierung vor, die bereits problematisch ist. Wir sollten die Methoden kritisieren, nicht die Menschen oder die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen. Wo es kritisch hinzuschauen gilt, ist die Macht der sozialen Medien, die permanent von allen Seiten missbraucht wird. Auch von queerfeministischen Gruppierungen, und auch ich habe da schon mitgemacht, das muss ich selbstkritisch einräumen.

Mansour: Ich werde primär von Linken diffamiert und frage mich oft, wo denn all die anderen Linken sind, die mit diesen Attacken nicht einverstanden sind. Und genauso frage ich mich, wo denn all die Queers sind, die «Nicht in unserem Namen!» sagen, wenn «Queers for Palestine» gemeinsam mit Terrorunterstützern auf die Strasse gehen. Als ob ein queerer Mensch dort einen Tag überleben könnte.

Blum: Es gibt doch viele queere Menschen auch in Gaza.

Mansour: Aber keine sichtbaren.

Blum: Nach Erzählungen, die mir zugetragen wurden, schon.

Mansour: Absolut nicht! Das war schon bei mir im Dorf nicht möglich, und dieses Dorf liegt in Israel. Im West­jordanland ist im vergangenen Jahr ein palästinensischer Homosexueller von seiner eigenen Familie in eine Falle gelockt und enthauptet worden. In einer der bekanntesten Moscheen der Region hat ein Imam kürzlich vor Tausenden Gläubigen beim Freitags­gebet den queeren Palästina-Unterstützern im Westen mitgeteilt, dass sie keinen Fuss auf heiligen Boden setzen würden. Es ist ein grotesker und naiver Fehler, anzunehmen, dass queere Menschen in von Terrororganisationen beherrschten Gebieten überhaupt überleben könnten. Der IS hat das doch deutlich gemacht.

Blum: Was ich gesehen habe, war «Queers for Palestine» und nicht «Queers for Hamas». Letzteres wäre natürlich völlig in­akzeptabel.

Mansour: Gegen Solidarität mit der palästinensischen Zivil­bevölkerung spricht nichts. Man kann aber nach dem 7. Oktober nicht auf die Strasse gehen und für die palästinensische Sache demonstrieren, ohne das schwerste antisemitische Pogrom seit dem Zweiten Weltkrieg zu ver­urteilen. Und ich bin enttäuscht, dass aus der queeren Community keine klar vernehmbaren Stimmen zu hören waren, die den Terror der Hamas verurteilt haben.

Blum: Das hat doch einen anderen Grund. Wer sind denn bekannte queere politische Stimmen, die eine Reichweite über die queere Community hinaus haben? In Deutschland gibt es sie kaum, und in der Schweiz noch weniger. Anna Rosenwasser vielleicht.

 

Wie schätzen Sie die globalen Veränderungen hinsichtlich ­Geschlecht seit dem vergangenen Jahrhundert ein?

Mansour: Die Veränderungen in der islamischen Welt waren in den vergangenen 50 Jahren erheblich. Der politische Islam kam über die Schriften des islamistischen Vor­denkers Muhammad el-Ghazzali nach Europa. Ihm galten Coca-Cola, Weltmeisterschaften, Popmusik und Homo­sexualität als Versuche, den Islam zu zerstören, weswegen westliche Gesellschaften abzulehnen und zu unterwandern seien. Die Abwehrhaltung verstärkt neben patriarchalem Verhalten die unentwegte Unterscheidung von Männern und Frauen in allen sozialen Belangen und die Tabuisierung von Sexualität. So wird Männlichkeit niemals in Frage gestellt.

Blum: Über Geschlechternormen und Sexualität können Menschen kontrolliert und Machtinteressen durchgesetzt werden. Frauen wurde im Westen bis zur 68er-Revolution die sexuelle Lust abgesprochen, um sie staatlicherseits zu unterdrücken und zu kontrollieren. Das gibt es überall. Auch all diese Cis-Männer, die überall blind mitlaufen, erleben sehr viel Unterdrückung, weil sie sich einspannen lassen für die Machtinteressen anderer.

Mansour: Warum machen Sie einen Unterschied geltend zwischen Zürich und Berlin oder zwischen der Schweiz und Deutschland, den es sicher gibt, aber nicht zwischen Europa und der muslimischen Welt?

Blum: Weil ich denke, dass es nicht nötig ist, den Unterschied auf dieser Ebene zu machen. Auf sozialer und historischer Ebene gibt es ganz sicher viele Unterschiede, die zu unterschiedlichen Prägungen führen. Auf menschlicher Ebene passiert das aber auch hier. Wenn in den USA ein Präsidentschaftskandidat sich mit dem Hauptthema profiliert, gegen «Woke» zu sein, ist das nichts anderes, als mit Hilfe von Populismus auf dem Rücken einer marginalisierten Gruppe die eigene Macht zu vergrössern. Das ist doch dasselbe in der christlichen Variante.

Mansour: Sie können doch nicht leugnen, dass es statistisch gesehen für sichtbare Homosexuelle oder für queere Menschen in manchen Ländern viel gefährlicher ist als ­andernorts.

Blum: Ja sicher, Saudi-Arabien etwa.

 

Wir haben nun viel über negative Aspekte der Männlichkeit ­geredet. Fehlt in der hiesigen Gesellschaft ein positives ­Männerbild?

Beide: Ja!

 

Was ist denn die beste Sorte Mann?

Blum: Zärtliche Männer, die Zugang zu ihrer Verletzlichkeit haben, die reflektiert sind und nicht alles unter­drücken – das ist doch etwas unglaublich Schönes. Das öffnet mir das Herz, ist aber nichts, das ich oft erlebe. Auch in schwulen Kreisen nicht. Ein schönes Mannsbild wäre für mich ein Mann, der alles, von Schwäche bis zum Gedanken an Rache, an sich eingestehen kann. Der um die Kraft von Empathie und Solidarität weiss und nicht dauernd dominieren will, der keine Lust auf Egoismus hat, sondern Lust darauf, auf Augenhöhe mit anderen zu interagieren.

«Zärtliche Männer, die Zugang zu ihrer Verletzlichkeit haben,

die reflektiert sind und nicht alles unterdrücken –

das ist doch ­etwas unglaublich Schönes.» Donat Blum

Mansour: Ich möchte weinen können, schwach sein dürfen und eine Ehefrau haben, der ich auf Augenhöhe begegne. Und meiner Tochter habe ich nicht nur symbolisch die Windeln gewechselt. Das ist etwas ganz anderes als zu Zeiten meines Vaters. Wenn ich Serien schaue, entdecke ich dort viel eher potentielle Vorbilder als in der Politik. Auf keinen Fall jemand wie Olaf Scholz oder Robert Habeck. Dafür aber Männer, die mündig sind, die aus der Reihe tanzen, kritisch denken und Sachen sagen, die ungern gehört werden – Männer, die den Diskurs auch dann suchen, wenn es unbequem wird. Das sind meine Vorbilder, und davon gibt es zum Glück auch genügend.

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Ahmad Mansour und Donat Blum, fotografiert von Ioannis Politis.
«Männlichkeit wird nach wie vor viel zu stark mit Dominanz gleichgesetzt»

Schriftsteller Donat Blum hält Männlichkeit für ein soziales Konstrukt und will ihr ­Empathie entgegensetzen. Psychologe Ahmad Mansour widerspricht und kritisiert die Verteufelung «alter weisser Männer». Ein Streitgespräch über Gendern, ­muslimischen Antisemitismus und Zärtlichkeit.

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