Machtverhältnisse
im 21. Jahrhundert
Mit dem Wiederaufstieg Chinas entsteht ein US-amerikanisch-asiatisches Duopol der Weltmächte. Das alte Europa ist marginalisiert. Was sind die Folgen?
Eine «einfachere» Zeit, in der man weiss, wo Freund und Feind stehen – das ist gegenwärtig die Sehnsucht mancher Europäerinnen und Europäer. Dabei sind solche Zeiten noch gar nicht so lange her: Der Kalte Krieg zog während Jahrzehnten einen tödlichen, eisernen Vorhang zwischen die Länder Europas, und jedermann wusste, dass namentlich das zweigeteilte Deutschland zum Schlachtfeld würde, sollte es zum nuklearen Schlagabtausch zwischen den USA und der UdSSR kommen. Das Böse immerhin war aber einfach zu verorten: die Sowjetunion war das «Evil Empire» der westlich-freiheitlichen Welt, so jedenfalls bezeichnete es Ronald Reagan.
Heute befindet sich die Welt in einem ungleich volatileren Zustand. Zwar gibt es, von Syrien abgesehen, derzeit keinen grösseren Krieg. Doch die Zahl der Kleinkonflikte und vor allem das akute Krisenpotenzial in einer Reihe von Weltgegenden bestärken in der Öffentlichkeit das Gefühl, dass wir in einer besonders gefährlichen Zeit leben. Akzentuiert wird die Ungewissheit und Unsicherheit auf der einen Seite durch terroristische Gefährdungen. Andererseits erfassen Krisenfronten heute Länder, die man bis vor kurzem noch als Anker der Stabilität betrachtet hat – namentlich die Mitglieder der EU und die USA. Entscheidend zur Unsicherheit trägt schliesslich bei, dass wir derzeit Zeugen eines Jahrhundertereignisses sind: der Wiederauferstehung von China als Weltmacht.
Seit Urzeiten herrscht zwischen sesshaften Kulturen und Prädatoren ein unerbittlicher Überlebenskampf. Während sesshafte Zivilisationen Vorräte anlegen, Investitionen tätigen und an einem Erbe arbeiten, das den nachfolgenden Generationen vermacht werden kann, nehmen sich Prädatoren, was sie zum Leben brauchen, durch Gewalt und Raub. Beispiele dafür gibt es zuhauf: der Nieder- und spätere Untergang des Römischen Reichs während der grossen Völkerwanderung; die Vernichtung der Inka- und Aztekenreiche durch die spanischen Konquistadoren; die Feldzüge der Hunnen und Mongolen nach Europa; die Mongoleneinfälle in China; die Vorstösse der Afghanen nach Indien.
Nachdem auf diese Weise die ganze Welt «entdeckt» war, nachdem die industrielle Revolution den Vormarsch der westlichen Zivilisation in die entferntesten Ecken auf dem Globus ermöglicht hatte und nachdem der moderne Nationalstaat mit seiner Grenzziehung die letzten weissen Flecken auf den Landkarten beseitigt hatte, wurde das gemeinhin als Sieg der sesshaften Zivilisationen betrachtet. Der Globalisierungsenthusiasmus der vergangenen zwei Jahrzehnte war schliesslich der Höhepunkt eines von westlichen Werten getriebenen Machbarkeitswahns.
Der Aufstieg des IS
Warnzeichen, dass möglicherweise nicht alles geregelt war, waren etwa im Zerfall Afghanistans nach der Beseitigung der russischen Besetzung zu erkennen. Wie schon die Briten auf dem Höhepunkt ihres Empire, so mussten erst die Russen und seit dem Irakkrieg auch die Amerikaner erkennen, dass der «Imperial Overstretch» die eigene Machtstellung mit langfristigen negativen Konsequenzen erschüttern kann. Für die Briten waren die Afghanistanfeldzüge und das Vorrücken gegen den Mahdi im Sudan keine Notwendigkeiten zur Erhaltung des Empire – im Gegenteil. Für die UdSSR war die Besetzung Afghanistans keine existenzielle Notwendigkeit – im Gegenteil. Und für die USA war der Irak keine Priorität zur Absicherung des Supermachtstatus – im Gegenteil.
Viele im Westen, in unseren Breitengraden verfolgten lange Zeit das Geschehen im Mittleren Osten, in Afghanistan und Pakistan nach dem Motto von Goethes «Faust»:
«Nichts Bessres weiss ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit in der Türkei,
Die Völker aufeinanderschlagen.»
Das Aufkommen der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) hat dieser kleinbürgerlichen Selbstzufriedenheit einen mächtigen Schlag versetzt. Anschläge, die demokratische Rechtsstaaten verwunden und erschüttern sollen, sind nichts Neues. Neu dagegen seit dem Aufkommen von Al-Qaida ist die Verschränkung von Religion und Terror, also die Instrumentalisierung einer Religion, Islam, als Ideologie für einen Krieg gegen die Werte und Institutionen des Westens. Der Nihilismus des IS ist noch radikaler als der von Al-Qaida; er kulminiert in höhnischen Sprüchen wie: «Ihr im Westen liebt das Leben, wir lieben den Tod!»
Die besondere Natur des islamistischen Terrors fordert die liberalen Rechtsstaaten auf eine neue Weise heraus, die nichts mehr mit den Supermachtrivalitäten des Kalten Kriegs zu tun hat. Entsprechend muss die Abwehr gegen die inneren und äusseren Feinde der Demokratie kalibriert werden. Natürlich haben Sicherheitsmassnahmen zunächst und zuvörderst mit der Bereitstellung der nötigen Hardware und der nötigen Manpower zu tun. Ebenso wichtig ist aber auch, dass wir im Westen die Bedrohung auf der intellektuellen Ebene ernst nehmen. Sei es in der islamischen Welt, sei es in unseren Breitengraden: wir müssen dem Feind deutlich machen, dass wir zu unseren Werten und Institutionen stehen und dass wir nie und nimmer, unter welchen Vorwänden auch immer, diese Werte und Institutionen kompromittieren werden. Wenn es um die Fundamente der westlichen Zivilisation geht, gibt es keinen Raum für Kompromiss.
«Eine offene Gesellschaft hat viele Feinde und sie muss diese abwehren können.»
Diese im eigentlichen Sinne selbstverständliche Position beinhaltet nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch eine Reaktivierung und Promotion aufklärerischer Ideale. Zuallererst gilt es, an den eigenen Schulen und Universitäten wieder vermehrt das Bewusstsein für den einzigartigen Wert der liberalen Demokratie, der Menschen- und Bürgerrechte, der Rechtsstaatlichkeit, des Pluralismus, des Minderheitenschutzes etc. zu schärfen. Die Geschichte ist, wie wir inzwischen zur Genüge wissen, mit dem Sieg der freien Demokratien über den nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismus eben doch nicht zu ihrem Ende gekommen. Vielleicht stärker als je zuvor sind alle diese Errungenschaften, die seit der Aufklärung haben hartnäckig erkämpft und verteidigt werden müssen, in Gefahr.
In diesem Kontext ist es wichtig, eine vernünftige Politik im Umgang mit Zuwanderern zu entwickeln. Wer in die neue Gemeinschaft aufgenommen werden soll, muss sich zu deren Grundwerten bekennen. Eine offene Gesellschaft hat viele Feinde und sie muss diese abwehren können. In diesem Kontext sind die liberalen, aufklärerischen Kräfte auch gefordert, wirksam den billigen Populismus zu bekämpfen, dem im rechten wie im linken Spektrum der Politik allzu viele Menschen auf den Leim kriechen.
Der Wiederaufstieg von China
Das wichtigste weltpolitische Ereignis der letzten dreissig Jahre ist der rasante Wiederaufstieg der Volksrepublik China zur Weltmacht, der bis anhin bemerkenswerterweise ohne grösseren Konflikt verlaufen ist. Dies braucht nicht auf alle Zeiten hinaus so zu bleiben, und in der Tat haben wir in jüngsten Zeiten ja auch mehrere Indizien sammeln können, die Peking auf einem selbstbewussteren, nationalistischeren, aggressiveren Pfad zeigen. Die Auseinandersetzung um die Inseln und Seewege im Südchinesischen Meer zwischen der Volksrepublik China und mehreren südostasiatischen Staaten datieren teilweise sogar mehrere Jahrzehnte zurück, sind aber erst in jüngster Zeit in den Fokus der Weltmedien gerückt. Schuld daran ist im wesentlichen die demonstrative Unnachgiebigkeit Pekings und natürlich die beschleunigte Schaffung von Tatsachen durch Landaufschüttungen, durch den Bau von Flugpisten und Militärstützpunkten sowie durch Aufklärungspatrouillen zu Wasser und in der Luft.
Oberflächliche Kommentatoren sehen im Kontext von Chinas Wiederaufstieg und der damit verbundenen Supermachtrivalität zwischen der Volksrepublik und den Vereinigten Staaten bereits eine Neuauflage des Kalten Kriegs. Zunächst steht aber fest, dass sich die Geschichte nie wiederholt, da die Umstände sich kontinuierlich verändern. Zu bedenken ist ferner, dass der Kalte Krieg, der zwar in der Regel als Ost-West-Konflikt bezeichnet wurde, in sehr erheblichem Masse eine innereuropäische, innerwestliche Angelegenheit war. Sowohl Adam Smith als auch Karl Marx waren Europäer, und sowohl die UdSSR als auch die USA waren in ganz wesentlicher Hinsicht europäisch geprägte Zivilisationen.
Nun, im asiatischen Jahrhundert, das mit der Jahrtausendwende begann, ist der europäisch geprägte Westen im Wettbewerb mit einer ganz anderen, von asiatischen Werten und asiatischen Religionen geprägten Welt. Das Reich der Mitte ist ausserdem kein Neuankömmling im Konzert der Weltmächte, sondern war in zurückliegenden Zeiten schon einmal das Zentrum der Welt. Es darf aber auch nicht vergessen werden, dass China im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gravierende Verletzungen und Erniedrigungen durch auswärtige Mächte hat hinnehmen müssen und dass die dabei erlittenen Wunden tiefe Spuren hinterlassen haben.
Auch wenn wir es also auf eine absehbare Zukunft hinaus mit einem amerikanisch-chinesischen Duopol zu tun haben werden, lässt sich dieser Sachverhalt nicht leichtfertig mit dem amerikanisch-sowjetischen Duopol während des Kalten Kriegs vergleichen. China hat eine sehr eigenständige, durch eine lange Geschichte und bemerkenswerte kulturell-zivilisatorische Kontinuität geprägte Auslegung seiner Rolle als Weltmacht. Im wesentlichen haben wir es nun mit einer Rückkehr des Hegemons zu tun.
Alter und neuer Hegemon China
Im Selbstverständnis des Hegemons stellt dieser das Zentrum der zivilisierten Welt dar. Je weiter entfernt vom Hegemon ein Land liegt, ein Volk lebt, desto barbarischer ist es. Dem Hegemon geht es deshalb primär darum, dass die nahen und fernen Nachbarn ihre Ehrbezeugung an den Hegemon richten, ihren Kotau vor dem Hegemon vollziehen. In einzelnen Fällen kann dies mit einer Tributzahlung verbunden sein, was allerdings nicht zwangsläufig ist. Eine rein demonstrative Anerkennung, dass der grösste Herrscher der Welt in Peking residiert, kann ausreichend sein.
Das Selbstverständnis des Hegemons China unterscheidet sich allerdings vom Selbstverständnis einer imperialen Macht. Während Holland, Grossbritannien und Frankreich sich in Südostasien ganze Länder unter den Nagel rissen, existierten die dortigen chinesischen Überseegemeinschaften unter der lokalen Herrschaft. Zur Zeit der holländischen Kolonialherrschaft im heutigen Indonesien gab es dort viel mehr Chinesen als Holländer, doch dachten jene nie daran, Indonesien in eine Kolonie zu verwandeln. Sie hätten dafür auch gar nie die Unterstützung vom Mutterland erhalten. Dies alles heisst indessen nicht, dass die Chinesen nie andere Völker unterworfen haben, wie einige naive China-Verehrer uns weismachen wollen. Denken wir an die Tibeter, an die Uiguren oder die Mongolen.
Im Verhalten des Hegemons fallen ferner die Ablehnung des Multilateralismus und die Hinwendung zum Merkantilismus auf. Im Falle des Südchinesischen Meers weist es China zurück, mit dem Regionalverband Asean in Verhandlungen zu treten. Vielmehr soll jedem einzelnen der südostasiatischen Länder klargemacht werden, dass China den Ton angibt. Dieser Merkantilismus dient dem Streben nach der optimalen Maximierung der eigenen Assets, sei es in der Form von Rekorddevisenreserven, sei es in der Form von exklusivem Zugang zu Rohmaterialquellen oder sei es in der Abschirmung von Heimmärkten gegenüber internationaler Konkurrenz.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Peking die im Nachgang zum Zweiten Weltkrieg entstandene Welt- und Werteordnung nicht akzeptieren kann. So verschwand Anfang 2016 das bisherige Monopol der Bretton-Woods-Institutionen, indem – auf massgebliches Betreiben der Chinesen hin – die Asia Infrastructure Investment Bank (AIIB) ins Leben gerufen wurde. Niemand wird bestreiten können, dass Chinas beachtenswerte Modernisierung primär der Exportindustrie zuzuschreiben ist, die vom existierenden Freihandelsregime profitieren konnte. Nun ist, nicht zuletzt aus der Sicht der derzeitigen amerikanischen Administration, der Zeitpunkt für «pay back» gekommen.
Erschwert wird die ganze Situation noch dadurch, dass China in mancher Hinsicht ein Koloss auf tönernen Füssen ist, also viele Verletzlichkeiten aufweist. Nehmen wir als Beispiel den Yuan Renminbi: Peking ist offensichtlich bemüht, seine Währung zu den globalen Leitwährungen aufsteigen zu sehen. In einem ersten, wichtigen Schritt hat der Internationale Währungsfonds (IMF) den Renminbi als internationale Reservewährung anerkannt. Allerdings ist es kein Geheimnis, dass die eigene Bevölkerung dem Renminbi nicht traut und, so es nur möglich ist, in internationale Hartwährungen wechselt. Ferner weist die Volksrepublik bei der Modernisierung ihrer politischen Institutionen gravierende Defizite auf. Sie sind systembedingt und entziehen sich deshalb einer grundlegenden Reform. Schliesslich bietet auch die Milliardenbevölkerung mit all ihren sozialen und ökologischen Implikationen zahlreiche Angriffsflächen, die China sehr verletzlich machen. Um bei den sogenannten «Soft Factors» auch nur annähernd an die USA heranzukommen, benötigt China noch viel Zeit, enorme Ressourcen sowie eine drastische Überholung seiner verkrusteten Politikstrukturen.
Die Redimensionierung der Supermacht USA
Noch sind, wenn man allein auf militärische Hardware und auf den Umfang von Verteidigungsbudgets blickt, also die USA die unbestrittene und einzige Supermacht der Welt. China wird, ungeachtet eines massiven Ausbaus des Verteidigungshaushalts, auf lange Zeit hin nicht mit den USA gleichziehen können. Kritiker der Trump-Administration werden die Verantwortung für die Redimensionierung beziehungsweise den Niedergang des Einflusses und der Handlungsfähigkeit der Supermacht USA Präsident Trump zuschieben. In Tat und Wahrheit jedoch hat die Redimensionierung schon vor einiger Zeit begonnen. Kulmination der Weltgeltung der USA war ohne Zweifel das Ende des Kalten Kriegs, das mit einem eindeutigen Sieg der USA über die Sowjetunion zusammenfiel.
Mit grosser Ernüchterung mussten die europäischen Nato-Verbündeten der USA vernehmen, dass sie künftig erheblich mehr für den Verteidigungsschirm der Amerikaner bezahlen sollen. Auch Japan hat sich darauf einstellen müssen, dass es inskünftig von Washington stärker zur Kasse gebeten wird. Angesichts der Tatsache, dass die USA im eigenen Lande von der Infrastruktur bis zum Gesundheitswesen riesige Defizite zu decken haben und dass grosse Teile der absteigenden Mittelschichten in den USA zu den Verlierern der Globalisierung gehören, war und ist es nur logisch, dass die Trump-Administration ihr Wahlkampfmotto «America first» in erster Linie als eine Redimensionierung der US-Position in der Welt betrachtet. Gleichwohl wird eine Redimensionierung der Supermacht USA nicht gleichbedeutend sein mit einer vollständigen Verabschiedung von bestehenden Auslandengagements – sei es im Mittleren Osten, in Afghanistan oder im Fernen Osten.
Der Beginn des amerikanisch-chinesischen Duopols
Kurzum: es gibt nach wie vor kaum Zweifel, dass die Amerikaner die ambitionierten Chinesen im Süd- und Ostchinesischen Meer in die Schranken weisen können. Die zentrale Frage lautet allerdings, ob sie dies auch zu tun beabsichtigen. Im Rahmen der erwähnten Redimensionierung der amerikanischen Weltmacht ist es wahrscheinlich, dass Washington die Dominanz Chinas vor allem im Südchinesischen Meer als vollendete Tatsache hinnimmt. Alle bisherigen Schritte der USA lassen darauf schliessen; schliesslich ist der Aus- und Aufbau von chinesischen Stützpunkten auf mehreren umstrittenen Inseln und Atollen bereits seit einiger Zeit im Gange, ohne dass Washington schärfer reagiert hätte, als die Chinesen zur Beachtung der internationalen Verkehrswege zu ermahnen und mit Flottenpräsenz und Überflugmanövern die Ansprüche auf Bewegungsfreiheit zu unterstreichen.
Die Folge davon muss aber kein neuer Kalter Krieg sein. Allein schon die Tatsache, dass es in Asien keine Militärbündnisse wie die Nato und den (verblichenen) Warschauer Pakt gibt, verunmöglicht eine Neuauflage. China hat den USA bereits deutlich gemacht – und Washington hat es auch akzeptiert –, dass es als asiatischer Hegemon mit Nachbarn, ob freundlich oder weniger freundlich gesinnt, bilateral und nicht multilateral umgeht. Das Zeitalter des amerikanisch-chinesischen Duopols hat somit eindeutig begonnen. Im Umfeld dieses Duopols können Mächte wie Russland und Indien eine Rolle spielen, doch steht fest, dass jede Idee einer multipolaren Welt nichts als eitel Spekulation ist. Die Welt, insbesondere auch Europa, muss sich damit abfinden, dass das Schicksal der internationalen Ordnung und der Weltwirtschaft im Guten wie im Schlechten vom chinesisch-amerikanischen Duopol bestimmt wird. Dies birgt neue Opportunitäten, aber auch neue Risiken.
Der demografische und geopolitische Abstieg Europas
Unmittelbar nach den euphorischen Momenten des Falls der Berliner Mauer und der Beseitigung des Eisernen Vorhangs hatte es die Option eines wiedervereinten europäischen Kontinents mit entsprechendem Status in der Welt gegeben. Europa hat diese Chancen nicht wahrgenommen, und mit einer Wiederholung der damals bestehenden günstigen Umstände ist nicht zu rechnen. Statt eines geeinten Europas mit entsprechendem Einfluss in der Welt haben wir heute ein dreigeteiltes Europa, das seine Stellung in der Welt mit anwachsender Geschwindigkeit schwinden sieht. Die Teilung, die teils formal, teils informell ist, untergliedert Europa in den russischen Einflussbereich, in ein faktisches EU-Kerneuropa und ein Peripherie-Europa, das sowohl Staaten umfasst, die nicht der EU angehören, als auch Staaten, die die EU (noch) nicht verlassen haben.
«Auch zu den besten Zeiten der EU war diese nie in sich selbst ein Machtfaktor in der Welt.»
Europas Schicksal ist durch eine Reihe von historischen Entscheiden bestimmt worden. Erstens wurde die Chance des Projekts Grosseuropa vertan. Zweitens wurde mit dem Euro-Regime ein Spaltpilz in die Nord-Süd-Achse Europas eingebracht. Drittens schafft der Brexit neue Optionen der innereuropäischen Positionierung, die auch über das Vereinigte Königreich hinaus tektonische Verschiebungen auslösen können. Letzteres kann, wenn es denn zu einem Kerneuropa führen sollte, Europa ein neues Fundament verschaffen, von welchem wieder mehr europäische «Soft Power» in der Welt ausgehen könnte. An der schlichten Tatsache, dass Europas Stellung in der Welt in den kommenden Jahrzehnten schrumpfen wird, wird das alles aber nichts verändern.
Auch zu den besten Zeiten der EU war diese nie in sich selbst ein Machtfaktor in der Welt. Sie hat zwar diplomatische Vertretungen rund um den Globus und vor den Botschaften der Mitgliedsstaaten flattert getreulich auch die blaue Fahne mit den goldenen Sternen. Doch wenn es um handfeste wirtschaftliche und diplomatische Interessen geht, handelt jeder Mitgliedsstaat auf sich selbst gestellt. Deshalb wird die EU auch bei einer deutlichen Redimensionierung der Weltmacht USA nicht in das neugeschaffene Vakuum vordringen können. Im Mittleren Osten nicht und erst recht nicht im Fernen Osten und im Südchinesischen Meer. Die EU steht vor zwei vordringlichen strategischen Entscheiden: Wie kann der Brexit bestmöglich in die Hauptaufgabe der europäischen Einigung eingebunden werden? Und wie lässt sich eine solide Strategie im Umgang mit der Russischen Föderation entwickeln – mit realistischen, langfristig ausgerichteten Zielen?
Europa leidet heute darunter, dass es nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Sensitivitäten der Russen nicht respektiert hat. Denn seit Napoleons Zeiten ist Russland die Macht, die Europas Schicksal massgeblich mitgeprägt hat, und daran wird sich auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nichts ändern. Erinnern wir uns doch wieder einmal daran, dass die Sowjetunion und der Sowjetblock (von Ex-Jugoslawien abgesehen) ohne militärische Katastrophe in sich zusammengebrochen sind. In der Vergangenheit sind grosse Reiche nicht einfach stillschweigend von der Weltbühne abgetreten.
Bemerkenswert ist, wie sich die russische Bevölkerung schlicht damit abgefunden hat, dass ihr Land vom Status einer Supermacht zu jenem einer Regionalmacht, eindeutig im zweiten Glied hinter den USA und der Volksrepublik China, herabgestuft worden ist. Solche Verwundungen können tiefe Spuren hinterlassen und allerlei extremistische Ideologen und Populisten beflügeln. Wir mögen gegenüber Wladimir Putin grosse Vorbehalte haben und seine imperialistischen Vorstösse kritisieren. Doch macht es Sinn zu bedenken, welche Alternativen es zu Putin auch hätte geben können. Über kurz oder lang müssen sich die Europäer, insbesondere die EU, klarwerden, welche langfristigen Perspektiven sie in der Welt und vor allem in Asien zusammen mit der euroasiatischen Landmacht Russland realisieren wollen.
Akute nukleare Bedrohungen
Während des Kalten Kriegs war die Bedrohung durch einen Nuklearkrieg auch in der Schweiz stark im öffentlichen Bewusstsein verankert. Die ausgedehnten öffentlichen und privaten Zivilschutzanlagen, die dazu dienen sollten, im Falle eines Atomkriegs eine Überlebenschance zu haben, mahnen bis heute daran. Zum Glück musste man sie nie auf ihren tatsächlichen Wert hin testen. Dass nach den beiden auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfenen Atombomben keine Kernwaffen mehr zum kriegsmässigen Einsatz gekommen sind, hat die Menschen aber in der Meinung bestärkt, dass Atomkriege schlicht nicht stattfinden werden – eine Ansicht, die durch das Ende des Kalten Kriegs nur noch bekräftigt worden ist. Dass man sich im Frieden sicher wähnt, ist eine Errungenschaft. Zur Hysterie, die während der grossen Krisen im Kalten Krieg (Ungarn, Kubakrise, Berlinkrise, Tschechoslowakei) Europa und damit auch die Schweiz heimsuchte, will niemand zurückkehren. Die Frage aber bleibt, wie weit man sich tatsächlich in Sicherheit wiegen darf.
Die Atombomben sind nicht aus den Arsenalen verschwunden, mithin ist auch die Gefahr eines Atomkriegs nicht gebannt. Allerdings: sie hat eine neue Dimension angenommen, mit zwei akuten nuklearen Konfliktherden in Asien, auf dem Indischen Subkontinent und auf der Koreanischen Halbinsel. Bei Nordkorea haben wir es mit einem völlig unberechenbaren Regime zu tun, über das selbst das mächtige China keinen verlässlichen Einfluss auszuüben vermag. Pjöngjang hat sein Kernwaffen- und Raketenprogramm während der vergangenen drei Jahrzehnte gegen alle Widerstände entwickelt. Heute steht das Armenhaus Nordkorea gar kurz davor, mit nuklear bestückten ballistischen Raketen das amerikanische Festland erreichen zu könnten.
In Südasien dominiert seit der Teilung des Indischen Subkontinents nach dem Abzug der Briten der pakistanisch-indische Bruderkonflikt. Dieser hat in den vergangenen vier Jahrzehnten ebenfalls eine nukleare Dimension erhalten, wobei die Kürze der Warnzeiten und eine ungenügende strategische und technologische Untermauerung der gegenseitigen nuklearen Abschreckung die Risiken eskalieren lassen. Noch viel alarmierender ist aber, dass bei einer Machtübernahme von islamistischen Fundamentalisten in Islamabad das pakistanische Atomarsenal in die Hände von Fanatikern geriete, die die «islamische Bombe» gegen alle Häretiker und Glaubensfeinde einsetzen könnten.
Weit über den Indischen Subkontinent hinaus wird Pakistan folglich auf absehbare Zukunft hinaus ein nukleares Bedrohungspotenzial von gefährlichen Dimensionen besitzen. Es ist, sagen wir es offen, so gross, dass auch das scheinbar ferne Europa davon betroffen ist.