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Lyrik, keine Performance

Die Gedichte des Schweizers Clemens Umbricht

Lyriker haben es schwer, nicht nur hierzulande. Doch nicht allein unpoetische Zeiten und ein harter Markt sind für ein schwindendes Publikum verantwortlich – ganz unschuldig an der prekären Lage sind auch die Vertreter der literarischen Königsgattung nicht.

Einerseits verlor sich die dichterische Produktion in einer unübersichtlichen Vielfalt von Sprachmoden und Schreibmustern. Alles schien möglich und erlaubt, die ästhetischen Ansprüche oft gering. Andererseits wurde und wird vom deutschsprachigen Feuilleton oft genug eine artifizielle, sich einer fassbaren Aussage verweigernde Lyrik präferiert. Die Suche nach Brüchen und Schnittstellen im Sprachgefüge, die Sprengung gewohnter Satz- und Sinnstrukturen produziert jedoch nicht zwangsläufig Neues und Notwendiges.

Was sich vom Verschwinden bedroht sieht, wird zunächst einmal laut. Die Stille scheint immer weniger ein Geschäft der Poesie zu sein, Einzug halten die Performer. Clemens Umbricht, der 1997 den «Orte-Lyrik-Preis» erhielt und nun mit «Alonsos Lächeln» bereits die sechste Lyrikpublikation vorlegt, gehört zu den Dichtern, die wenig Aufhebens von sich machen und ganz hinter das gedruckte Wort zurücktreten.

Das Fenster steht still,

die Dunkelheit ist unterwegs.

Während die Passagiere

einander zunicken,

fährt der Zug in einen Tunnel ein,

und es wird hell draussen.

So war die Sonne nicht gemeint,

ruft eine ältere Dame

und wechselt das Abteil.

Der Mann, der hinter mir hustet,

sieht müde aus.

Erkenntnis ist für ihn kein Wort,

sondern ein Streichholz.

(…)

Ein Fenster, das stillsteht, eine Dunkelheit, die unterwegs ist. Denkbar einfach sind die beiden Eröffnungssätze, doch in ihrer Kombination weitet sich das Lakonische ins schillernd Unergründliche. Nicht der Zug, sondern die Dunkelheit fährt. Eine Abweichung vom erwarteten Sinnbezug, die überrascht. Ein ganzer Bogen möglicher Fragen und versteckter Aussagen fächert sich vor dem Leser auf. Wer ruht, und wer bewegt sich eigentlich? Das Fenster steht still – erliegen die Fahrgäste bloss der Täuschung, unterwegs zu sein?

Fenster öffnen Aussichten, lassen erkennen. Doch um einen Erkenntnisgewinn sieht sich der Fahrgast geprellt, denn draussen herrscht Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die gleichzeitig beunruhigender Mitfahrer ist und die Stille bedroht. Unversehens wird die Zugfahrt zum Bild irdischer Existenz: wir wissen nicht, woher wir kommen, wohin wir fahren, erkennen nicht einmal die Landschaft, durch die uns das Leben führt.

Die Relativität der Standpunkte, die Umkehr gewohnter Relationen gehören zu den Merkmalen von Clemens Umbrichts Lyrik. Nicht dunkel wird es draussen, wenn der Zug in den Tunnel einfährt, sondern hell. Ist es diese plötzliche Helle, die jähe Erkenntnis, dass wir der Tunnelenge im Leben nicht entfliehen können, die obige Dame erschreckt das Abteil wechseln lässt? Der Mann, der hinter dem mitfahrenden Ich hustet, bleibt auf jeden Fall sitzen, für ihn ist ja die Erkenntnis auch bloss ein Streichholz.

Wenn die «Sonne», die uns wärmt, nicht die reale ist, sondern die unsichere der Erkenntnis, dann gibt es keinen festen Boden, auf dem der Mensch geht, keine feste Wortstütze, an der sich der Leser festhalten kann. «Bitte keine Täuschungen», sagt Alonso im Eingangsgedicht des schmalen Bandes, «ich bin flüchtig, ich bin da.» Erst im Vergehen leuchtet Dasein auf, ungreifbar, «flüchtig» und gerade darum eben trügerisch. Und doch versucht der Dichter, den entschwindenden Augenblick in Sprache zu bannen. Am eindrücklichsten gelingt ihm das dort, wo er dem Wort ganz vertraut:

Einmal sah ich einen Leguan,

gross wie ein Regenschirm.

Dann bat mich Fletcher Christian

um Feuer, sehr elegant.

Das Meer, sagte er, ist nicht blau.

Hemingway nickte, in flatternden Hosen

stand er auf einer Veranda aus

weissem, vom Salz zerfressenem Holz.

(…)

So Disparates wie Leguan und Regenschirm, Christian Fletcher (Held aus dem Roman «Meuterei auf der Bounty» von Charles Nordhoff) und Hemingways flatternde Hose finden zu einer ungewohnten, irritierenden und doch stimmigen ästhetischen Ordnung. Bei genauerer Lektüre entpuppt sie sich als subtiles Spiel der Kontraste, Kultur und Natur stehen in delikater Balance: Feuer und Wasser, weiss und blau, flatternde Hose und Holz, the old man and the sea. Im weiteren Verlauf des Gedichts werden Hemingways «ausgefeilten Dialoge» und «kurzen Sätze» erwähnt und damit auch auf eine ästhetische Vorgabe für das Gedicht selbst verwiesen.

Fast «kunstlos», prosanah sind auf den ersten Blick Umbrichts Sätze, kunstvoll und klug kalkuliert jedoch ihre Reihung. Daraus ergibt sich das poetische Moment, das Unaussprechbare schwingt zwischen den Zeilen mit. Oder wie es der Autor ausdrückt: «und doch ereignet sich das, / was sich ereignet, dazwischen.» Wahrnehmung der Aussenwelt und Reflexion gehen in den Gedichten des vorliegenden Bandes eine enge Verbindung ein, das Konkrete findet seine wechselnden Schatten in einem gedanklichen Hintergrund (mit «Metaphysik» ist auch eines der Gedichte überschrieben). Die thematisierte Einsicht in die Unzulänglichkeit der Sprache und die ihr eingeborene Subjektivität vermag aber – zum Glück für den Leser – das inspirierte Sprechen nicht zu verhindern: «Heute, sagt er, sei er Ich-Erzähler. / Dass ihn die eigenen Gedanken täuschen, / weiss er, aber er fällt darauf herein.»

Nicht deutschsprachigen Dichtern wird die Reverenz erwiesen. Seine literarischen Verwandten scheint der Autor eher in Übersee zu haben als im deutschsprachigen Raum, die Stimmen von Mark Strand oder Charles Simic sind ihm auf jeden Fall vertraut. In der Auseinandersetzung mit dem Fremden hat Clemens Umbricht einen eigenen, unverwechselbaren Ton gefunden, und man kann nur hoffen, dass dieser Autor mehr ins Zentrum der literarischen Öffentlichkeit rückt.

Clemens Umbricht, «Alonsos Lächeln». Eric van der Wal, Holland 2003.

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