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Ludwig Lessing, ermordet 1835 in Zürich

Jodocus Temme lässt den Leser in einem realen Fall ermitteln

«Wer der Mörder sei, blieb ein Geheimniss. Es wird gelöst werden. Die Acten enthalten einmal einen Fingerzeig. Er wurde nicht beachtet.» Mit diesen Worten endet Jodocus Temmes 1872 erstmals veröffentlichte «Criminalgeschichte» vom Mord am Studenten Ludwig Lessing, geschehen am 4. November 1835 beim Zürcher Sihlhölzli.

Für den Leser von Kriminalgeschichten ist dieser Schluss vorerst eine Enttäuschung. Bemerkenswert ist aber die Aufforderung an den Leser. So schreiben die Herausgeber der Neuauflage in ihrem Nachwort: «Am Ende des detektivischen Verwirrspiels sieht sich der Leser mit folgenden Fragen konfrontiert: Haben Sie das Rätsel gelöst? Haben Sie den nicht beachteten Fingerzeig aus den Akten bemerkt? Wird der ‹Studentenmord in Zürich› doch noch eine Aufklärung finden?»

Der aus Westfalen stammende Jurist Jodocus Temme (1798 – 1881), 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung, wanderte 1852 aus politischen Gründen aus Deutschland aus und erhielt an der Universität Zürich eine Professur, die allerdings zuerst unbesoldet blieb. Dies zwang ihn dazu, seinen Lebensunterhalt mit schriftstellerischer Tätigkeit zu verdienen. Seine Kriminalgeschichten hatten Erfolg. Temme war ausserdem ein seriöser Strafrechtler und beeinflusste mit seinen Schriften das schweizerische Strafrecht, das damals noch nicht vereinheitlicht war.

Mit seiner Analyse des Mordes von 1835 kehrte er in die eigene demokratisch-revolutionäre Vergangenheit zurück. Denn das unaufgeklärte Verbrechen war eng verquickt mit den Umtrieben deutscher Emigranten, die nach 1830/32 in die Schweiz geflüchtet waren. Sie waren Altersgenossen von Temme, der damals aber noch seine juristische Karriere in Preussen verfolgte und sich erst später politisch engagierte.

Zu den Exponenten des «Jungen Deutschland» gehörte etwa der Göttinger Privatdozent Johann Hermann von Rauschenplat (Bei Temme «Rauschenblatt«), der die Einwohner des Baselbieter Dorfes Diepflingen dazu brachte, die Republik auszurufen. Die Versuche, von der Schweiz aus die europäische Revolution zu proklamieren, waren ebenso auffällig wie dilettantisch. 1834 wurden die deutschen Aufrührer unter dem Druck des konservativen Auslands aus dem Kanton Bern ausgewiesen. In Klaus Urners Standardwerk «Die Deutschen in der Schweiz» (1976) ist zu lesen: «Als im November 1835 der Lockspitzel Ludwig Lessing unter mysteriösen Umständen ermordet und die erwähnten Putschvorbereitungen bekannt geworden waren, schritten die Zürcher Behörden zu Verhaftungen; im Mai und Juni kam es zu einer eigentlichen ‹Flüchtlingshatz›, und die Ausweisungswelle griff auf andere Kantone über.»

Auch in der Darstellung von Temme wird bald deutlich: der aus Berlin stammende Lessing war ein agent provocateur und Spion für die preussischen Behörden. Der mit 49 Messerstichen abgeschlachtete 23jährige war nicht das Opfer eines Raubmordes, sondern eines politischen Verbrechens. Die letztlich erfolglosen Untersuchungen wurden – wie bei Urner nachzulesen – von einem eingebürgerten Deutschen geleitet, dem Kantonsprokurator Joseph Schauberg. Temme erwähnt seinen Namen nie; die Herausgeber geben dafür keinen Grund an, sie sprechen im Titel des Nachworts vielmehr von einem «Detektivroman ohne Ermittler». Das ist insofern zu korrigieren, als es in der Erzählung einen Ermittler gibt – den Autor selbst.

Hält sich dieser an die Spielregeln des fiktionalen Detektivromans, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert formuliert wurden, dann muss irgendwo der entscheidende Hinweis versteckt sein. Der Leser muss (zumindest scheinbar) eine Chance haben; das macht den anhaltenden Reiz dieser Art von Literatur aus. Mit dem Hinweis am Ende seiner Criminalgeschichte übernimmt Temme dieses Element aus der in Entstehung begriffenen fiktionalen Welt des Kriminalromans. Der Leser wird aufgefordert, den entscheidenden «Fingerzeig» zu suchen. Es sei gewagt; an zentraler Stelle sind vier Briefe wiedergegeben, die Lessing an unbekannte Adressaten geschrieben hat und die seine Tätigkeit als Spitzel belegen. Darin berichtet er, dass sein Reisegefährte, der Medizinstudent Julius Thankmar Alban, «sich einen ganz neuen langen Dolch» habe machen lassen. Deshalb könne er ihn nicht allein ziehen lassen, denn man würde ihn verantwortlich machen, wenn «eine Ermordung bedeutender Art» vorfiele. Handelt es sich bei dem Dolch um die Tatwaffe? Alban wurde zusammen mit zwei Kollegen verhaftet und «genug inquiriert». Doch sie konnten ein Alibi für den betreffenden Abend vorweisen und «keiner von ihnen verwickelte sich in irgend einen Widerspruch.» Sie mussten entlassen werden. Die Lösung ist vielleicht zu einfach. Aber nach den Regeln des Kriminalromans kann nur eine der in der Erzählung eingeführten Personen der Mörder sein. Es kann lesend weiterermittelt werden.

Jodocus Donatus Hubertus Temme: «Der Studentenmord in Zürich.» Criminalgeschichte, herausgegeben von Paul Otto und Kurt Stadelmann. Zürich: Chronos Verlag, 2006.

Christof Wamister, geboren 1950, ist Literaturhistoriker und Redaktor der Basler Zeitung.

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