Lou Andreas-Salomé: Ichgeburt in der Weltfremde
Keiner, der ihr begegnete, vermochte sich dem Reiz dieser Persönlichkeit zu entziehen. Fast stereotyp fielen die Komplimente aus. Denn stets aufs neue rühmte man an Louise von Salomé ihren «scharfen, klaren Verstand» (Paul Deussen), den «königlichen Geist» (Felix Salten), nannte sie «ein Genie» (Peter Gast), wo nicht gar «das begabteste, nachdenkendste Geschöpf, das man sich denken kann» (Friedrich Nietzsche), oder «ein ganz ausserordentliches Wesen» (unisono Ferdinand Tönnies, Rainer Maria Rilke, Viktor von Weizsäcker und Sigmund Freud); entsprechend tritt uns diese intellektuelle Brillanz auch aus ihren Schriften entgegen. Dabei reicht aus heutiger Perspektive Lou Andreas-Salomés Bedeutung über die Faszination eines ebenso klugen wie souveränen Menschen hinaus. Weit mehr als nur Muse zentraler Repräsentanten der Moderne, darf sie auf ihre Weise selbst als eine Verkörperung der geistigen Weichenstellungen um 1900 gelten, von denen unser Selbstverständnis nach wie vor stark beeinflusst ist. Als Schriftstellerin, Psychologin und frühe Kulturwissenschafterin bündelt sie wichtige Erkenntnisse dieser Schwellenzeit. Der ihren Leistungen gebührende Rang wird noch längst nicht in wünschenswertem und angemessenen Masse wahrgenommen. Wie zum Zeichen dafür gibt es immer noch keine Werkausgabe (zumal seit der Erstveröffentlichung die wenigsten ihrer über 130 Essays und anderen, zu wichtigen zeitgenössischen Foren beigesteuerten kurzen Arbeiten überhaupt noch greifbar sind).
Dass sie ohne den Glanz der berühmten Namen bestehen kann, zeigt sich besonders eindrucksvoll dort, wo ihre Interessen stets aufs neue zusammenlaufen: im Nachdenken über Religion. Auf eigenständige und bedeutsame Weise nimmt Lou Andreas-Salomé hier teil am Diskurs einer epochalen Veränderung: dem Schwinden normativer Bindungskraft des Theismus christlicher Prägung. Sie erfährt die Krise der Glaubenstradition als höchst individuelle Problematik, die bei ihr lebenslang im Vordergrund steht, auch deshalb, weil sie von der eigenen Zeittiefe ihren Ausgang nimmt. «Meine früheste Kindheitserinnerung», schreibt die 31jährige, «ist mein Umgang mit Gott.» Der Verlust dieses «Unsichtbaren», doch «immer Gegenwärtigen» trifft Lou mit der Wucht eines Initiationserlebnisses, wird zugleich aber als konstitutiv für die Entwicklung hin zur Autonomie gedeutet. Als notwendiger «Urchoc aller Menschen beim bewussten Erwachen zum Leben» geht von ihm der Anstoss aus, «im Realen – im ‹Gottlosen› heimisch zu werden». Dabei führt der Verlust keineswegs zur Irreligiosität, sondern zu einer Neu-Verortung der früher durch die Gottesgestalt verbürgten Qualitäten. Nach deren Verschwinden gerät ein allumfassender Lebensbegriff zum funktionalen Ersatz, der sich durch zahlreiche ihrer Werke zieht: die Selbstvergewisserung «mitten in der Totalität» der Natur. Im Rahmen einer grossen wechselseitigen Verbundenheit des rein Immanenten bleiben für die Autorin Elemente ihres vormaligen Gottesbezugs gegenwärtig. Praktisch läuft dies, wie sie in ihrem erst aus dem Nachlass herausgegebenen «Lebensrückblick» betont, auf die Hoch-schätzung religiöser Werte als Bedingung eines humanen Grundverhältnisses zum Leben hinaus: «Denn wirklich ist mir lebenslang kein Verlangen unwillkürlicher gewesen als das, Ehrfurcht zu erweisen …: müsste Ehrfurcht der Menschheit verlorengehn, so wäre jede Art von Gläubigkeit, sogar absurdeste, dem vorzuziehen.»
In einem Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel «Gottesschöpfung», dem vielleicht wichtigsten in einer Reihe von Essays aus den 1890er Jahren zu diesem Thema, unterscheidet Lou drei, individuell wie für die kollektive geschichtliche Entwicklung gültige, Stadien des religiösen Prozesses. Demnach folgt auf «die ursprüngliche Gottesbildung» einer frühen Zeit – Gott als das «Phantasieprodukt des Menschen, geschaffen aus seinen Ängsten und nach seinen Bedürfnissen» – die «Gottesentfremdung», ausgelöst durch das Erwachen des Verstandes und die Zunahme des Wissens. Bei dieser Negation bleibt es aber nicht. Möglich, ja wünschenswert nämlich ist eine spätere Beerbung religiöser Empfindungen, eine «religiöse Hingebung, die an die Stelle des alten Glaubens» tritt und die (so wird sie später ergänzen) ihr höchstes Wesen im Zustand der Lebensunmittelbarkeit findet, in der Liebe und der Kunst vor allem. Grundsätzlich aber gilt, dass es sich bei Religion in all ihren Transformationen um eine anthropologische Konstante handelt. «Gott» wird damit zum Symbol für das Phänomen der Selbst-Transzendierung des Menschen, «die Thatsache, … dass wir nämlich in unserm höchsten Erleben uns an dem Weh und den Wonnen des Daseins weit über uns selbst hinaus steigern».
«Gott», so wendet sie später noch gegen Freuds negatives Urteil über religiöse «Wunschbildungen» ein, sei ein Synonym für «Lebenszuversicht», mag diese damit auch «erkennerisch schief ausgedrückt» sein. «… der Traum von Gott als dem Leben des Lebens», heisst es im Aufsatz «Religion und Cultur», «– der ist wahr geworden und beseligend vielleicht nur an den zwei äussersten Endpunkten menschlicher Entwicklung: tief unten im Dunkel, wo der Mensch als Mensch erst geboren wurde, indem er von einem Gott zu stammen wähnte – und hoch oben, auf den feinen, letzten Spitzen der Kultur, wo der Mensch sich erst wahrhaft Mensch wähnt, wenn er den Gott gebärt.» Fortschritt und spirituelle Produktivität bedingen und stützen einander, wobei diese stets die vollzogene Abkehr von überkommenen Glaubensformen voraussetzt. Ohne «tiefere Deutung» – die konstruktivistische Tätigkeit, «Ideale zu erzeugen» – kommt menschliche Existenz nicht aus.
Mithin bedeutet Religion letztlich einen kreativen Stimulus, wie es sich umgekehrt bei der Kreativität um einen wesentlich «religiösen Affekt» handelt. Deshalb auch ist die Religion «der Mutterschoss aller kunstartigen, aller erkenntnisartigen, aller moralbildenden Elemente lange ehe diese zu eigenem Leben geboren werden». Erst allmählich lösen sie sich von ihrem Ursprung. Eine religiöse Tönung aber eignet ihnen weiterhin.
Gedanken wie diese sind lebensgeschichtlich unterfüttert. Lou wird 1861 in St. Petersburg als Tochter eines im russischen Armeedienst stehenden Generals deutsch-baltischer, ursprünglich hugenottischer Herkunft geboren. Nur mehr pro forma hält die Heranwachsende am frommen Regelwerk des streng protestantischen Elternhauses fest. Sie verweigert lange die Konfirmation und tritt aus der Kirche aus. Unter Anleitung von Pastor Hendrik Gillot, eines liberalen Star-Predigers der niederländischen Gesandtschaft, setzt sie sich systematisch mit philosophischen und religiösen Texten auseinander. Umfang und Intensität ihres Lerneifers finden in zahlreichen Notizheften ihren Niederschlag. Aber die Interaktion mit Gillot reicht weit darüber hinaus. Von ihrer Seite findet eine Art Übertragung des kindlichen Gottesbezugs auf einen realen «Menschen» statt, in dem sich «die nämliche Allesenthaltenheit und Allüberlegenheit» ereignet. Diese Aura des verheirateten Mannes schwindet jedoch, als er ihr seine Liebe gesteht und sie bittet, seine Frau zu werden.
Ihrer ungewöhnlichen Begabung bewusst, will Lou ihr Leben ihren Anlagen gemäss gestalten. Sie setzt durch, dass sie zum Studium an die Universität nach Zürich gehen kann, die (als eine der ersten) auch Frauen zulässt. Im September 1880 reist sie in Begleitung ihrer Mutter dorthin ab. Sie belegt vor allem religionswissenschaftliche Veranstaltungen, daneben schreibt sie weltanschaulich inspirierte Gedichte, die sie Gottfried Kinkel, Kunstgeschichtsprofessor mit literarischer Vergangenheit, zur Begutachtung vorlegt. Der Ausbruch einer Lungenkrankheit erzwingt die Unterbrechung des Studiums. Warmes Klima soll die Heilung fördern, und so treffen die beiden Frauen im Februar 1882 in Rom ein, wo Malwida von Meysenbug, eine weithin bekannte progressive Schriftstellerin, Lou in ihren Salon einführt. Einen Monat später stösst der 32jährige Philosoph Paul Rée dazu, der sofort für sie entflammt ist. Er weist seinen Freund Friedrich Nietzsche auf die ungewöhnliche junge Frau hin, der zuvor schon von Malwida auf sie eingestimmt worden war: «Ein sehr merkwürdiges Mädchen …, scheint mir ungefähr im philosophischen Denken zu denselben Resultaten gelangt zu sein, wie bis jetzt Sie.»
Die erste Begegnung der beiden findet Ende April im Petersdom statt, wo Rée in einem Beichtstuhl Notizen für seine Arbeit zu machen pflegt. Nietzsches Anrede ist ausgesucht poetisch: «Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?» In Erweiterung eines zunächst nur auf Rée bezogenen, gegen alle Regeln der damaligen Gesellschaft verstossenden Plans liebäugelt Lou mit der Vorstellung einer «gemeinsamen Zukunft zu Dritt» in Form einer geschwisterlichen Studien- und Wohngemeinschaft. Ausdrücklich ist sie nur an geistiger Verbindung interessiert. Für den 17 Jahre älteren Nietzsche, der noch diesseits der Schwelle seines Ruhms steht, wird die Bekanntschaft mit der «jungen Russin» zum aufrührenden seelischen Erlebnis. Wie sein Freund bewundert, verehrt und liebt er sie. Zugleich mischen sich auch vereinnahmende Züge in die Leidenschaft, etwa wenn er in Lou seine «Erbin» sieht. Zwei seiner Heiratsanträge weist sie ab. Ein Ausflug zum Monte Sacro am oberitalienischen Orta-See beschränkt sich wohl nicht nur auf das intellektuelle Gespräch. Eigenem Bekunden zufolge verdankt Nietzsche diesem Tag «den entzückendsten Traum meines Lebens». Von ihm selbst arrangiert, entsteht wenig später in Luzern die bekannte Photographie, auf der Lou, mit einer kleinen Peitsche in der Hand, die beiden Herren vor ihren Karren gespannt hat.
Höhepunkt des Umgangs miteinander sind drei Augustwochen im thüringischen Tautenburg. Stundenlang streifen Nietzsche und Lou täglich durch die Wälder. Ihre Debatten erstrecken sich oft bis tief in die Nacht hinein. Endgültig erlebt der Philosoph die junge Frau hierbei als «Geschwistergehirn». «Erst seit diesem Verkehr war ich reif zu meinem Zarathustra», hält er fest. Auch Lou betont ihre gerade im «religiösen Grundzug … tiefverwandten Naturen». Für sie ist ihr Gesprächspartner von Anfang an (und bleibt es bis in ihre spätesten Äusserungen über ihn) sehr dezidiert «ein religiöses Genie». Dessen «leidenschaftliche Bekämpfung der Religion, des Gottesglaubens und des Erlösungsbedürfnisses» interpretiert sie in ihrem Nietzsche-Buch von 1894 – die erste und, nach dem begründeten Urteil Karl Löwiths, lange die gewichtigste Arbeit über den Philosophen – aus einer «gefährlichen Näherung» an diese: der «tragische Conflict seines Lebens» habe darin bestanden, «des Gottes zu bedürfen und dennoch den Gott leugnen zu müssen».
Die vor allem an Nietzsches Frustra-
tion über sein unerfülltes Werben schliesslich zerbrochene Freundschaft macht Lou zur Schriftstellerin. Bei ihrem Roman «Im Kampf um Gott» (1885) handelt es sich um das einzige von der Gegenwart des Philosophen unmittelbar angeregte literarische Werk überhaupt. Nietzsche selbst findet darin «hundert Anklänge an unsere Tautenburger Gespräche». Auch sonst sind bereits fast alle Themen der Erzählungen versammelt – «Ruth» (1895), «Aus fremder Seele» (1896), «Fenitschka» (1898), «Menschenkinder» (1898), «Ma» (1901) oder «Im Zwischenland» (1902) –, mit denen Lou um die Jahrhundertwende zur vielbeachteten Autorin aufsteigt. «… immer eine wahre Fundgrube von psychologischen Entdeckungen» seien sie, notiert die Frauenrechtlerin Helene Stöcker, «sie geben seltene, intime Aufschlüsse über das komplizierte, tausendfach zusammengesetzte Wesen der modernen Frauenseele …» Ihre ältere Kollegin Marie von Ebner-Eschenbach schlägt die gleiche Saite an: «… unter den heutigen Dichterinnen die geistigste, die psychologisch tiefste», nennt sie Lou in einer zeitgenössischen Rezension: «– das unterschreibe ich mit Buchstaben so hoch wie der Uspenski-Dom.»
Lous literarischer Erstling besichtigt die Aporie, dass man redlicherweise nicht mehr glauben kann, angesichts des – wie ein von Nietzsche geborgter Begriff – «intellectuellen Gewissens, welches das Denken zu rücksichtsloser Consequenz erzieht», dass man aber dennoch auf Religion als den innersten Kern des Menschen angewiesen bleibt – als dasjenige, was er als Höchstes verehrt, aus dem und auf das hin er seine gesamte Existenz definiert. Die geforderte Sinngebung des Sinnlosen stellt sich als eine «Riesenaufgabe» dar: «Je nichtiger das Leben, desto grösser der Mensch, der es zu adeln weiss.» Gott liegt im Menschen beschlossen und muss von diesem zutage gefördert werden: «immer wieder ist in jedem wahrhaft religiösen Moment das tiefste Empfinden dem Gott gegenüber dadurch bedingt, dass wir ihn unbewusst aus uns selbst heraus reproduciren, als Höchstes und Begeisterungsvollstes nur fassen können, indem wir ihn in dem schauen, was unsere eigene höchste Begeisterung und unser tiefstes Verständniss ausmacht.» Mit der Fremdheit Gottes rechnet eine solche Denkform nicht. Wohl aber stellt Lou hier dar, was sie später mit Blick auf Nietzsche resümiert. Richtigerweise nämlich habe der Philosoph «im religiösen Phänomen die ungeheure Auslebung des individuellsten Verlangens, den Willen nach höchster Selbstbeseligung» am Werke gesehen.
Obwohl sie, selbst eine Person von herausfordernder Selbständigkeit und Unabhängigkeit, zur Frauenbewegung ihrer Zeit kühle Distanz wahrt, richtet sich ebenfalls schon hier der Fokus drastisch auf die Konflikte junger Frauen zwischen traditionellen Vorstellungen und einem neuem Selbstbewusstsein, zwischen Ich-Behauptung und Demut. «… wodurch sollte dem Manne eine Grösse möglich sein, die mir abgeht?», fragt eine der Protagonistinnen zu Beginn ihres Medizinstudiums. Und eine andere äussert im Widerspruch zu den Subordination fordernden Vorstellungen ihres Mannes den Wunsch «nach einer Aufgabe, einem Wirkungskreise, der mich ganz und gar erfüllt».
Lous Aufsatz «Der Mensch als Weib» (1899) zufolge gründet das Feminine in einer die gesamte Wesensstruktur der Frau prägenden Erotik. Diese Position, in der man (wie die englische Literaturwissenschafterin Brigid Haines) das Plädoyer zugunsten von «a sex in her own right» wahrgenommen hat, weist bis zu einem gewissen Grad auf aktuelle Debatten über sexuelle Differenz voraus. Zugleich sind hohe Risiken damit verbunden. Die sie auszeichnende Hingabebereitschaft der Frau nämlich – die zugleich auch Kennzeichen des Religiösen ist – geht in der Regel mit einer Idealisierung des Mannes einher. Nicht selten wird er ihr sozusagen zum Gott, wie Lou selbst dies bei Gillot erlebt hatte. Mit dem Verhängnis solcher Überhöhung des Gegenübers und den fatalen Folgen seiner «Entgötterung» für die Frau, setzt sie sich wiederholt auseinander (so in ihrem Buch «Henrik Ibsens Frauengestalten», 1892). Der «Lebensrückblick» macht auf «geheime Reste der Identität von Gottverhältnis und Liebesverhalten» aufmerksam.
«Idealisierende Liebe» aber, heisst es schon zu Beginn von Lous schriftstellerischer Tätigkeit, «ist die grösste, ehrfürchtigste Liebe, welche ihr Geliebtes … in dem Höchsten liebt, in das Heiligste einschliesst, das sie kennt.» Ihr eignet gleichsam eine hellseherische Qualität, in deren Folge die Person, auf die sie sich richtet, zur innersten Wahrheit voranzuschreiten imstande ist. Antizipierend verhilft der liebende Blick zur Erkenntnis der Möglichkeiten, wie ein Mensch sein könnte, wenn er sich selbst am nächsten kommt, mag das zu Verwirklichende auch noch ausstehen. Dieses Vermögen ist mit der authentischen künstlerischen Phantasie verwandt, hinter der die Realität ebenfalls notorisch zurückbleibt und die doch zugleich das Wesen ihres Objekts herausarbeitet. Prototypisch gewinnt hier das Doppelgesicht des in der Moderne geforderten religiösen Prozesses Konturen: «Was einerseits als höchste Offenbarung an uns erscheint, ist von der andern Seite zugleich höchste Schöpferkraft.»
Zeigt sich die künftige Tiefenpsychologin schon im Verstehen Nietzsches sowie in den Themen und Figuren ihrer Bücher, so verstärkt sich ihr entsprechendes Interesse durch die Beziehung der 36jährigen zu dem über 15 Jahre jüngeren Rilke. Diese nimmt ihren Ausgang von Lous Aufsatz «Jesus der Jude» (1896), wo der Nazarener ebenfalls teilweise vor dem Horizont ihrer eigenen Lebensphilosophie interpretiert wird. Rilke, der hier eine Gleichgestimmtheit zu seinem lyrischen Zyklus «Christus-Visionen» erkennt, sucht nach der Lektüre des Essays den Kontakt zur Verfasserin. Zwei Russland-Reisen (1899/1900) werden zur gemeinsamen spirituellen Erfahrung. Zuerst als Geliebte, dann als vertraute Ansprechpartnerin und Mentorin nimmt Lou bis zu Rilkes Tod 1926 an dessen Angefochtenheiten teil und verhilft ihm zur Reifung seiner Kreativität. «Du allein weisst, wer ich bin», schreibt er ihr, «ergriffen davon, dass Du heller Stern gerade über der Stelle stehst, wo ich am bangsten und dunkelsten bin.»
Solche Erlebniszusammenhänge hat Lou im Blick, wenn sie später schreibt, rückerinnernd wolle ihr «scheinen, als ob mein Leben der Psychoanalyse entgegengewartet hätte, seitdem ich aus den Kinderschuhen heraus war». Den schwedischen Nervenarzt Poul Bjerre, einer ihrer wechselnden Liebhaber und Gefährten, begleitet sie 1911 zum Weimarer Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft, wo sie Freud kennenlernt und bald, als eine der ersten Frauen, Aufnahme in dessen Kreis von Mitarbeitern und Anhängern findet. Wie dankbar sie für diese «Schule» war, hat sie nicht verschwiegen («Mein Dank an Freud», 1931). Umgekehrt attestiert ihr der verehrte Lehrer «Ihre Überlegenheit über uns alle, entsprechend den Höhen, von denen herab Sie zu uns gekommen sind».
In der neuen Wissenschaft sieht sie selbst eine Fortsetzung dessen, was sie zuvor in ihren literarischen Arbeiten unternommen hatte. Als 1923 Theodor Reiks Untersuchung «Der eigene und der fremde Gott. Zur Psychoanalyse der religiösen Entwicklung» erscheint, reagiert sie euphorisch: «… welche Freude ich an seinem Buch habe», schreibt sie an Freuds Tochter Anna, «es ist mir ein Labsal; gerade diese Probleme, die mich schon von so lang her, schon vor allem ps.a. [psychoanalytischen] Denken, intim beschäftigen, finde ich ausgezeichnet angepackt.» Folgerichtig befasst sie sich gleich in ihrer ersten psychoanalytischen Studie just mit dem Thema des frühen Gottesverhältnisses. Das Ineinander des «Allesbeherrschenden» und «Aller-Intimsten» in Gott erklärt sie nun durch kindliche Projektion narzisstischer Allmachtsvorstellungen (wobei ihr Narzissmus-Begriff, anders als bei Freud, nicht pathologisch, sondern ambivalent besetzt ist). Erst indem man aus diesen «herauskatapultiert» wird, vermag sich «die Ichgeburt in der Weltfremde» zu vollziehen.
Bis ins hohe Alter hinein praktiziert Lou Andreas-Salomé in Göttingen als Analytikerin und Therapeutin. Am Abend des 5. Februar 1937 stirbt diese bedeutende Intellektuelle an einer durch ihre Diabetes verursachten Urämie, neun Tage vor ihrem 76. Geburtstag.
Eine aktuelle Darstellung von Lou Andreas-Salomés Leben und Werk findet sich in der von Ursula Welsch und Dorothee Pfeiffer herausgegebenen Bildbiographie (Reclam, 2006).
HANS-RÜDIGER SCHWAB, geboren 1955, ist seit 1996 Professor für Kulturpädagogik/Ästhetik und Kommunikation an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen. Im Januar erscheint eine von ihm besorgte Neuausgabe von Lou Andreas-Salomés Erstlingsroman «Im Kampf um Gott» (dtv).