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Lohnende Gewalt

Wenn die repräsentativen Strukturen eines Landes schwach ausgebildet sind, wenn sie Anliegen und Interessen der gesellschaftlichen Basis nur in kleinen Teilen repräsentieren; wenn darüber hinaus Möglichkeiten basisdemokratischer
Selbst- und Mitbestimmung gänzlich fehlen – dann ist der Rückgriff auf funktionale Äquivalente systemisch vorgeplant, mutiert mitunter auch Gewalt zum faktisch anerkannten Medium politischer Kommunikation. Frankreich gibt ein wunderbares Beispiel ab.

Die Bilanz gibt zu denken. Gemessen an Umfang und Dauer, stellen die jüngsten Ausschreitungen in der französischen Banlieue den grössten Aufruhr seit Mai 1968 dar. Es gab vier Todesopfer. Mehr als 300 Gemeinden waren betroffen, darunter die meisten grossen Städte des Landes. Rund 20’000 Privatautos wurden zerstört, Amtsgebäude, Fabriken, Supermärkte, Schulen, Turn- und Lagerhallen gingen in Flammen auf, ebenso eine grosse Anzahl von Bussen öffentlicher Verkehrsbetriebe. Der Sachschaden wird auf über 200 Millionen Euro geschätzt. Rund 3000 Personen wurden, zumindest vorübergehend, festgenommen.

Schlechte Schulen, Arbeitslosigkeit, soziale Benachteiligung, Schikanen der kleineren und grösseren Art, Integrations- und Generationenkonflikte, bedrückende Lebensumstände, Unsicherheit und Angst: über die komplexen sozialen, sozioökonomischen und sozialpsychologischen Hintergründe dieser neuesten Welle von Gewalt ist vieles geschrieben worden; wenig oder gar nichts hingegen zu Möglichkeiten kausaler Zusammenhänge zwischen der Beschaffenheit oder Leistungsfähigkeit eines politischen Systems und der Anwendung von Gewalt. Die vielleicht bekannteste Ausnahme ist der französische Philosoph und Schriftsteller André Glücksmann. Im Rahmen einer Diskussionssendung zu den Krawallen in der Pariser Banlieue liess er eine scheinbar absurde Bemerkung fallen, die zumindest neugierig macht: was hier geschehe, sei politische Akkulturation in bester französischer Manier. «Ces jeunes savent déjà les règles du jeu.»

Akkulturation durch Gewalt? Glücksmann ist um Argumente nicht verlegen; sein Standpunkt lässt sich sinngemäss so umschreiben: Die Jugendlichen – schon diese kleinsten und jüngsten Republikaner – bringen «Regeln» zur Anwendung, die zwar nicht in der Verfassung stehen, dafür aber in der politischen Kultur des Landes um so fester verankert sind. Sie tun, was in Frankreich alle Gruppen oder «Interessen» tun, wenn sie von der Regierung etwas wollen: sie entwickeln und manifestieren ein Drohpotential, das dann im Zentrum beurteilt und vermessen wird. Wie eine Regierung reagiert, «wie viel sie gibt», hängt ab von Umfang und Beschaffenheit der jeweils aufgefahrenen Droh- und Störmöglichkeiten.

Allein, warum denn Gewalt? Weil ohne sie in vielen Fällen wenig zu erreichen ist. Gewalt bietet sich dort als Ersatzhandlung an, wo andere Ventile, andere Möglichkeiten der Einflussnahme oder Mitbestimmung nicht vorhanden sind oder nichts bewirken. Um beim aktuellen Beispiel zu bleiben: nicht seit Monaten, sondern seit Jahren protestieren die Bürgermeister der Banlieue gegen die Kürzung ihrer Mittel. Vergeblich hatten Soziologen und Sozialarbeiter in den längst bekannten «einschlägigen» Quartieren vor einer Eskalation gewarnt. «Was mich und meine Freunde in der Kultur- oder Sozialarbeit deprimiert, ist vor allem, dass wir nichts in Händen haben … um Einfluss zu nehmen und Veränderung zu bewirken», schreibt François Bon in der «Neuen Zürcher Zeitung».

Nicht, dass gewalttätige Kinder mit Bürgermeistern und Sozialarbeitern unter einer Decke stäken. Unabhängig von konkreten Motiven aber, und vielleicht unbewusst, spielt diese – offenbar doch gelehrige! – Jugend meisterhaft auf der Klaviatur des politischen Systems. Sie schafft ein Szenario, das – mit Flammen, Rauch, Ruinen und Wracks – bedrohlicher kaum hätte ausfallen können. Und das Zentrum reagiert. Beschwichtigend zunächst, dann besorgt, zuletzt in einer Panik, die man vorab daran erkennt, was und wieviel da plötzlich versprochen wird. Der Premierminister tritt persönlich vor die Nationalversammlung und entfaltet einen ganzen Fächer sozial- und erziehungspolitischer Hilfsmassnahmen zugunsten einer marginalisierten Vorstadtjugend. Von der Vorgängerregierung gestrichene Staatssubventionen werden wieder ausgeschüttet. Jugendliche sollen neu schon mit 14 Jahren eine Lehrstelle antreten können. Bürgernahe Quartierposten der Polizei, in naher Vergangenheit aus Spargründen abgeschafft, werden wieder eingeführt. Und die bemerkenswerteste aller Massnahmen – zum Schluss, weil sie die schiere Abgehobenheit, aber auch die Hilflosigkeit einer technokratischen Elite sui generis schaurig-schön erhellt: «Neue Stipendien» und darüber hinaus «ein erleichterter Zugang zu Eliteschulen» sollen dem (oft schwach oder kaum alphabetisierten) Nachwuchs aus den Vorstädten endlich Perspektiven geben!

Gewalt bewegt etwas – zumindest in der kurzen Frist. Sie zwingt dem Staat Konzessionen ab, hastig zusammengestellte Initiativen und Programme, die Einsetzung von Kommissionen. Das Schema hat eine lange und traurige Tradition. Auch jetzt wieder werden Gelder fliessen – wenn auch nicht für lange. Sobald die Situation sich beruhigt, kehrt die Technokratie in ihre Welt zurück, und in schönem Einklang mit dem politischen Diskurs versiegen auch die Mittel.

Was bleibt, ist hässliche Realität in einem Land, das sich nicht nur in rechtsstaatlicher Hinsicht gern als Vorbild versteht: Gewalt als zwar primitives, aber effizientes Medium politischer Kommunikation. Sie begleitet das Referendum der Strasse, immer häufiger ersetzt sie es. So wirkungslos, so bedeutungslos sind die regulären, institutionellen Kanäle politischer Kommunikation, dass Bauern gar nicht erst Bittbriefe an eine Amtsstube schreiben, bevor sie sie verwüsten. Die legale Prozedur wird übersprungen, um in Ermangelung eines normal erreichbaren Dialogs Ersatz auf einer anderen Ebene zu erzwingen – in Form eines Kräftemessens der rustikalen Art. Fluglotsen und Primarlehrer, Assistenzärzte und Gymnasiasten, Museumsangestellte, Jäger und Fischer mögen vielleicht auf die Strasse gehen – Fuhrunternehmer und Chauffeure aber, Küstenfischer und Taxifahrer schalten lieber sofort einen Gang höher und blockieren gleich Autobahnen, Häfen, Tankstellen und ganze Ölraffinerien. Man hält Schiffe besetzt, fackelt McDo-Imbissstuben ab; von Entlassung bedrohte Arbeitnehmer drohen mit der Vergiftung des Trinkwassers.

Nach wie vor leidet die repräsentativ ausgestaltete Demokratie Frankreichs an schwerwiegenden Dysfunktionalitäten schon allein struktureller Art; die Macht- und Einflusslosigkeit des Parlaments ist nur die wichtigste davon. Andere, direkte Formen der Demokratie sind in der Sache inexistent; das Referendum nach Art. 11 der Verfassung kann nur von oben ausgelöst werden. Seit nunmehr 200 Jahren entbehren die Bürger Frankreichs jeder legalen und selbst initiierten Möglichkeit, Form und Inhalt des Gemeinwillens verbindlich mitzubestimmen. Niemand hat diese älteste Aporie der französischen Demokratie besser in Worte gefasst als François Robert im Jahre 1793: «Il ne faut pas une insurrection; il faut une institution qui en tienne lieu.» Das Problem bleibt ungelöst. Kann es aus dieser Sicht überraschen, wenn es diesem Land partout nicht gelingt, den Rückgriff auf Gewalt institutionell aufzufangen und zu kanalisieren? Verbrannte Autos, zerschlagene Schaufenster und verwüstete Amtsstuben versprechen bis heute schnellere, bessere Resultate als Formulare und Briefe an ein Ministerium.

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