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Libertopia ruft noch immer

Libertopia ruft noch immer

Die Aufgabe, die konkrete Vision einer freien Gesellschaft zu entwerfen, bleibt eine unabgeschlossene Herausforderung für alle Liberalen und Libertären.

 

Während in der Schweiz die FDP zwei Bundesratssitze hat, finden sich Liberale heute mehrheitlich in der Opposition wieder und sind als solche fast nirgends ein Faktor – mit der partiellen Ausnahme der USA, in denen zumindest die Wirtschafts­liberalen organischer Teil der Republikanischen Partei waren und sind. Dass dort eher linke gesellschaftliche Milieus als «liberals» firmieren, mag als unfreiwillig ironisches Moment der ­Kapitalismushistorie verstanden werden. In den Zweiparteien­systemen Grossbritanniens, das traditionell wirtschaftsliberal ausgerichtet war, hatten Liberale traditionell keine Chance, zum Format der Konservativen oder der Sozialdemokraten aufzusteigen. Hinzu kommt, dass ein solcher Aufstieg lange noch nicht gleichbedeutend mit guter Arbeit ist. In Deutschland war die lange Regierungsbeteiligung der FDP alles andere als glorreich. Nach 46 Jahren als Koalitionspartner vornehmlich mit der CDU, aber auch mit der SPD, hat sie das Land mit den höchsten Ab­gaben innerhalb der OECD-Staaten hinterlassen, was nahelegt, dass dort der Weg das Ziel gewesen sein könnte. Die Forderungen ihres 2016 verstorbenen Bundesvorsitzenden Guido Westerwelle, dass Steuern und Abgaben niemals mehr als 33% des Lohnbruttos betragen sollten, scheinen als Anspruch und Selbstverständnis längst vergessen. Dass daraus Konsequenzen nicht nur für Ökonomie und Politik folgen, sondern auch für die Gesellschaft, ist evident.

Die Vision einer freien Gesellschaft nicht preiszugeben, sondern mit gelassener Beharrlichkeit an dieser zu arbeiten, ist eine Herausforderung, die sich diese dem Liberalismus verpflichtete Zeitschrift durchgehend stellt. Bisweilen ist dafür aber auch gezielt auf Neues zu setzen. Als Milosz Matuschek im Februar 2020 dieses Laboratorium eröffnete, schickte sich das Liberty Lab an, etwas Totgesagtem neue Ideen zuzuführen – in der Hoffnung, dass der Freiheitsidee durchaus überraschende wie vielversprechende Wendungen gegeben werden können, wenn es denn gewagt wird, unkonventionelle Pfade einzuschlagen. Die Beiträge, die wir in dieser Reihe dokumentiert haben, bewiesen, dass es sich tatsächlich lohnt, jenseits der gewohnten Bahnen zu denken. Sie betonten und erprobten von Ausgabe zu Ausgabe Unterschiedliches, jeweils inspiriert vom Anspruch, über das Bestehende hinaus­zudenken. «Wenn wir nicht wollen, dass der Liberalismus im ­Museum endet, müssen wir ihn einem lebendigen Umfeld aus­setzen», forderte Matuschek damals und nannte die Herausfor­derung eine visionäre – «Libertopia».

Dass es zu einem solchen historisch selbstredend nicht nur blosse Ansätze, sondern elaborierte Ausformulierungen gegeben hat, sei an dieser Stelle nochmals in Erinnerung gerufen. Einer davon, Ayn Rands Monumentalroman «Atlas Shrugged», lässt sich zugleich das Problem, das sich Libertären nach wie vor stellt, für diese Artikelserie abschliessend erläutern: nämlich, was ihren eigenen utopischen Horizont anbelangt. Im dritten Teil des 1957 veröffentlichten dystopischen Politthrillers, der zugleich eine philosophisch-literarische Abhandlung ist, hat sich eine Reihe an produktiven Individuen in eine Schlucht zurückgezogen, um dem Verfall der USA in den Kollektivismus zu trotzen. Sie haben sich aktiv, das heisst als Streikende, dem Einfluss einer sie nicht wertschätzenden Gesellschaft entzogen, die keinen Sinn ­dafür hat, dass Erfindungsreichtum und Produktivität dem geis­tigen Vermögen einzelner entspringen, und überlassen diese Gesellschaft nun sich selbst. Während sich die Vereinigten Staaten mit bekannten Folgen für das Individuum rasant in eine Volks­republik transformieren, trotzen sie als abgeschiedene Gemeinschaft der Freien dem Untergang.

«Die Beiträge, die wir in dieser Reihe dokumentiert haben,

bewiesen, dass es sich tatsäch­lich lohnt,

jenseits der gewohnten Bahnen zu denken.»

An den diesbezüglichen Passagen des Romans gibt ein Detail zu denken. Die Figuren begegnen sich in der Schlucht mit gegenseitiger Zustimmung – bei allen Gelegenheiten und in allen Angelegenheiten. Es scheint keinerlei persönliche Auseinandersetzung, kein politischer Konflikt mehr zu existieren. Industrielle und andere gut Betuchte scheuen sich nicht, sogenannten niederen Tätigkeiten nachzugehen und sich im Wortsinn die Hände schmutzig zu machen – «there is no such thing as a lousy job – only lousy men who don’t care to do it», bekundet Ellis Wyatt, der in seinem alten Leben Ölmagnat war, zu Romanheldin Dagny Taggart, die ihrerseits an der Spitze ihres Eisenbahnunternehmens stand. Die in der Abgeschiedenheit vorherrschende Übereinkunft in allen das Leben betreffenden Fragen entspringt dem Objektivismus, den Ayn Rand parallel zum Abfassen des Romans als philosophische Radikalisierung und Präzisierung des originären libertären Gedankenguts entwickelt hatte. In jenem Romanteil erprobte sie literarisch, wie eine prototypische Gesellschaft der Freien aussehen könnte: Frei von Neid im besonderen, der als Conditio humana gilt, denn die Schluchtbewohner haben diesen Affekt mit Hilfe der eigenen Ratio überwunden und trachten nicht nach dem Erfolg der anderen. Sie haben sich damit eine Umgebung erschaffen, die sich frei von destruktiven Tendenzen dem Schöpferischen verschrieben hat und jede Arbeit als eine gewinnbringende begreift. Das hebt, so das Szenario, sämtliche zwischenmenschliche Konflikte auf; die Übereinkunft im Alltäglichen ergibt sich fast von selber. Diese Vorstellung unterläuft unmissverständlich den Marxismus und macht zumindest mit dem Gebot der Neidlosigkeit Anleihen beim Christentum.

Nicht zufällig dürften deshalb Ähnlichkeiten der Schlucht mit der Vorstellung sein, die sich Christen einst vom Paradies machten, oder aber mit Karl Marx und Friedrich Engels, die sich den Kommunismus als Beginn der eigentlichen Menschheits­geschichte imaginierten. Zwar ist zu Ayn Rands Verteidigung ­hervorzuheben, dass das Stimmungsbild in der von Bergen geschützten Abgeschiedenheit die Fähigkeit zur Übereinkunft wertschätzen sollte. Dass Individuen überhaupt noch Vereinbarungen treffen können, während in der Welt um sie herum staatliche Verordnungen, Zwänge, Willkür und Gewalt herrschen, ist möglicherweise als literarische Verneigung vor dem zivilisatorischen Sinn und Zweck der Urteilskraft zu verstehen – die Anerkennung des menschlichen Vermögens, sich eigenmächtig über primitive Impulse zu stellen, die auch David Boaz in seinem Beitrag erwähnt.

Allerdings wird hier noch etwas anderes kenntlich, denn an der Schlucht als Sinnbild lässt sich ein Dilemma nachweisen, dem Libertäre bis heute ausgesetzt sind. Wenn das maximale litera­rische Exempel einer «Philosophie der Freiheit» schlechthin, das bislang verfasst wurde – und Literatur, daran sei hier kurz erinnert, soll ja das Unmögliche denkbar werden lassen, damit es real möglich werden kann, – sich darauf beläuft, dass sich einige wenige in der Abgelegenheit temporär einzurichten wissen und dort, in ihrer gewählten Isolation, in nahezu allem übereinstimmen, um später die Welt zu revolutionieren, folgt daraus, dass die weitreichendste politische Vision des Libertarismus noch immer der Fiktion zufällt.

Daraus sind nun die Schlüsse zu ziehen, was den Beitrag von David Boaz betrifft. Hier wird an die historischen Errungenschaften derjenigen erinnert, die sich der Herrschaft der Willkür nicht beugen wollten und die unter bisweilen lebensgefährlichen oder schwerwiegenden Folgen gegen ein erdrückendes Gegengewicht ankämpften: den Staat, zerstörerische politische und religiöse Kräfte, die Gefahr, die von der Masse ausgeht. Macht, also auch Willkür, unter das Gesetz gebracht zu haben, vor dem alle gleich sind, ist eine der wesentlichen zivilisatorischen Errungenschaften. Deshalb macht uns Freiheit zu besseren Menschen, wie Boaz schreibt, was in Zeiten drohender Unfreiheit auf dem technologischen Niveau des 21. Jahrhunderts sogar in Erinnerung gerufen werden muss. In einer massenmedialen Epoche, in der die Überwachung freiwillig in der Hosentasche mitgetragen wird, erscheint die Zukunft des Liberalismus alles andere als verheissend, zumal allzu viele eher daran interessiert zu sein scheinen, in einer amorphen, sich paradoxerweise für «divers» haltenden Masse aufzugehen – einer Masse wohlgemerkt, die im aktuellen politischen Klima ihre einzelnen Bestandteile obendrein noch dazu anhält, in anderen nur noch Repräsentanten unveräusserlicher Merkmale zu sehen. Wohl noch nie zuvor konnten destruktive Vorstellungen von Vermassung und Neid so taktisch, so konstant und, sofern man mindestens seinen Fernseher nicht abgeschafft hat, so nachhaltig eingeflösst werden.

Das ist weder ein Horrorszenario noch Ernüchterung, sondern das Wissen darum, dass das Individuum stets aufs neue Herausforderungen zu trotzen hat, die die vorherigen noch übertreffen. Sich dem zu stellen, hat von Mary Wollstonecraft über John Stuart Mill zu Zora Neale Hurston, von Rose Friedman zu Deirdre McCloskey sehr unterschiedliche Antworten hervorgebracht, an die es sich, stets nach vorne blickend, zu erinnern lohnt. Auch wenn wir das «Liberty Lab» hiermit beschliessen: Der «Schweizer Monat» bleibt dran.

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