Liberalismusdebatte: Handbremse lösen!
Der aktuelle Richtungsstreit über den Liberalismus darf nicht in persönliche Verunglimpfungen münden; er bedarf einer sauberen Argumentation. Denn damit das freiheitliche Denken endlich wieder Fahrt aufnehmen kann, sind einige wichtige Kurskorrekturen notwendig. Eine Duplik auf Cora Stephan.
Die Marginalisierung des politischen Liberalismus ist frappant. In der Schweiz sieht es so aus, als ob die FDP in den anstehenden Wahlen zulegen kann, doch in Deutschland müssen die Liberalen um ihr Überleben kämpfen. Auch jenseits des Politikbetriebs war der Liberalismus schon überzeugender. Einige der jüngst im «Schweizer Monat» erschienenen Ansätze zur Diagnose und Therapie des zunehmenden Bedeutungsverlusts gaben hilfreiche Anregungen. Schlicht kontraproduktiv indes war die jüngste Replik Cora Stephans auf Karen Horn. Statt sauber ein Argument zu entwickeln, begab sich Stephan auf das Niveau billiger «Inversionsrhetorik», wie der verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher es ironisch nannte, wenn jemand einem anderen das Wort im Mund herumdreht. Horn hatte dazu aufgerufen, sich sachlich und gedanklich präzise über heikle Themen auseinanderzusetzen, frei von Hass und reaktionärem Ressentiment. Daraus das Gegenteil zu folgern, nämlich dass Horn alle verurteile, die diese heiklen Themen aufs Tapet bringen wollten, ist intellektuell unredlich. Der in einer solchen Sinnverdrehung zum Ausdruck kommende, sich in letzter Zeit ausbreitende Mangel an Anstand schadet dem freiheitlichen Denken und dessen Verbreitung. Als konstruktiver Gegenentwurf sei hier darum in sechs Thesen ein neuer Versuch zu der Frage unternommen, was der Liberalismus braucht, um nicht länger mit angezogener Handbremse unterwegs zu sein.
These 1: Ein klares Bekenntnis zur Moderne ist überfällig
Liberale pflegen ihre ideengeschichtlichen Traditionen besonders intensiv. Das ist dem Reichtum dieses Erbes einerseits angemessen; andererseits ist der ständige Blick in den Rückspiegel aber auch gefährlich. Wenn der Liberalismus nur mehr museal daherkommt, ist er tot. Zudem bahnen sich so Wege für geistige Koalitionen mit anderen Denktraditionen an, die ebenfalls stark in die Vergangenheit schauen: dem Konservatismus. Das ist nicht per se verwerflich und hat sich in den letzten Jahrzehnten (als «fusionism» betitelt) mitunter als opportun erwiesen – wegen des verwandten Wirtschaftsverständnisses. Das Gesellschaftsverständnis von Liberalen und Konservativen indes unterscheidet sich diametral. Liberale können gar nicht anders, als sich zur Moderne zu bekennen – das Leben ist ein einziges Wandeln und Werden. Es geht nicht um «das Moderne», dem immer Beliebigkeit anhängt, oder gar um die «Mode», sondern um «die Moderne», die uns heute in der Gestalt der offenen Gesellschaft, der globalisierten Ökonomie und der Digitalisierung begegnet. Noch nie war es so leicht, die Arbeits- und Wissensteilung mit anderen Menschen aufzunehmen, also in die Pedale der Fortschrittsvehikel von Adam Smith und Friedrich Hayek zu treten. Konservative haben aber nur zu oft ein Problem damit. Mit ihnen im Kampf gegen den dominierenden Sozialdemokratismus Koalitionen einzugehen, über solche Gräben hinweg, kann absurde Züge annehmen. Nicht alles, was nicht links ist, kann schon deshalb mit Fug und Recht beanspruchen, als Liberalismus zu gelten.
These 2: Liberale sind keine Untergangspropheten
Liberalen sollte nichts fremder sein, als sich als Untergangspropheten zu produzieren. Natürlich leben wir in einer Zeit multipler Krisen, und es gilt diese ernst zu nehmen. Aber gerade hier muss die Abgrenzung sowohl nach der sozialistischen als auch nach der konservativen (Schlag-)Seite erfolgen – sowohl gegenüber Marx’schen Determinismen als auch gegenüber Spengler’schen Untergangsvisionen, die beide Träumereien vom Ende der Moderne sind. Konkret: ja, die Eurokrise birgt gewaltige Risiken, und es ist nicht klar, welche Dynamik die Flüchtlingskrise entwickeln wird. Was aber den Liberalen konstitutiv von seinen rechten und linken Konkurrenten unterscheidet, ist sein Vertrauen auf die Kreativität des einzelnen und auf dessen Fähigkeit zur Selbstorganisation, um Probleme zu lösen. Um vor Zentralismus und nationenübergreifender Sozialisierung zu warnen, muss man nicht den im eigentlichen Wortsinne politisch inkorrekten, weil in der liberalen Demokratie völlig unangemessenen Begriff der «EUdSSR» in den Mund nehmen und davon träumen, dass das ganze europäische Einigungsprojekt platzen möge. Und wer weiss, vielleicht lassen sich gerade von den Migranten, die sich nichts so sehr wünschen wie ein freies, besseres Leben, wieder Initiative und Selbstverantwortung jenseits der sozialen Hängematte lernen. Wer überall eine schiefe Ebene hin zu dem von Hayek skizzierten «Weg zur Knechtschaft» zu sehen wähnt, hat die Vordenker des Liberalismus nicht verstanden.
These 3: Staatsskepsis ja, Staatshass nein
Ein Kardinalfehler ist Hass gegenüber dem Staat und der Demokratie. Hass ist nie produktiv. Vor allem aber führt es von der liberalen Kernbotschaft weg, wenn man dem Staat, der in der Demokratie nichts anderes als die Ausübung der politischen Freiheit des Bürgers ist, per se die Legitimität abspricht. Zwar weisen die real existierenden Formen der Demokratie in Europa und den USA in der Tat bedrohliche Defizite auf. Deshalb tun Liberale gut daran, die Schwächen der Parteiendominanz, des Mangels an direkter Demokratie und vor allem des nur attrappenhaften Föderalismus in vielen Ländern an den Pranger zu stellen – gerade unter Berufung auf das Gegenbeispiel der Schweiz. Das Prinzip der Demokratie und die Bedeutung der politischen Freiheit aber grundsätzlich anzuzweifeln oder gar die Grenzen, die sich für jedermann aus dem Rechtsstaat ergeben, mit den Zwängen der totalitären Sowjetunion gleichzusetzen, wie es im hasserfüllten Überschwang bisweilen geschieht – das ist nicht nur geschichtsblind, sondern schlicht masslos und gefährlich. Wer so daherredet, erklärt den Hume’schen Skeptizismus für unbrauchbar, verfremdet grobschlächtig die Hayek’sche Demokratiekritik und schlägt die Röpke’sche Anmahnung von «Mass und Mitte» in den Wind.
These 4: Markt und Bürgergesellschaft gehören zusammen
Zwei Gruppen haben sich separiert, die nicht nur den politischen Liberalismus, sondern auch die freiheitliche Ideengeschichte der vergangenen Jahrzehnte ausgemacht haben: einerseits die Gruppe der Sozial-, Links-, Bürgerrechts- oder Bürgergesellschaftsliberalen und andererseits die Wirtschafts-, Markt-, Klassisch- oder Neoliberalen. Eine schier unendliche Energie fliesst in das Pflegen des trennenden Grabens. Dabei haben beide Liberalismen denselben, unteilbaren Kern: das Vertrauen auf die Selbstorganisation der Individuen in ihrer freiwilligen Interaktion als Quelle des Fortschritts. Es ist nicht einzusehen, wieso sich die Liberalen auf jeweils nur ein gesellschaftliches Subsystem spezialisieren, die Bürgergesellschaft oder den Markt. Hier gilt es sich auf die grundlegenden liberalen Kategorien zu besinnen. Es gilt voneinander zu lernen und Brücken zu bauen, die ein ganzheitliches liberales Denken ermöglichen.
These 5: Wider Sektierertum und Wagenburgmentalität
Höchst befremdlich ist die Neigung, nach dem «echten», «konsequenten», «radikalen» oder gar «reinen» Liberalismus zu suchen und sich in Sektiererei zu üben. Statt Linientreue und Personenkult braucht es die seriöse Beschäftigung mit politökonomischen und sozialphilosophischen Fragen. Deren Fehlen schadet dem Liberalismus auch an einer Stelle, die als Quelle der Erneuerung unverzichtbar ist: in der Wissenschaft. Viele Universitätslehrstühle für Wirtschaftspolitik, die über Jahrzehnte eine wichtige Verbindung zwischen wissenschaftlicher Ökonomik und politischem Liberalismus darstellten, sind inzwischen weggefallen. Die liberalen Ökonomen tragen einen Teil der Schuld daran selbst: Man hat den Vorwurf nicht entkräften können, dass man Ahnenpflege anstelle nach vorne gerichteter Forschungsprogramme betreibe. Unter jungen Freiheitlichen gibt es heute zwar erfreulich pluralistische Entwicklungen wie die «European Students for Liberty». Doch auch die Wagenburgmentalität lebt fort, indem Säulenheilige wie Hayek, Mises, Rothbard, Rand oder Hoppe als Entdecker der Wahrheit gepriesen und alle anderen Quellen als Denkfehler zur Seite geschoben werden. Hier drängen sich Analogien zum Sektierertum der extremen Linken der siebziger Jahre auf – kein Ruhmesblatt.
These 6: Zivilisierte Umgangsformen sind unerlässlich
Cora Stephan hoffte, dass ihr Aufsatz «vielleicht die Fronten klärt». In einem zivilisierten Binnendiskurs der Liberalen haben Fronten nichts zu suchen. Auch ein neuerdings immer wieder anzutreffender Sprachgebrauch, der Begriffe wie «Wahn», «Irrsinn», «Betrug», «Verrat» und «Gleichschaltung» salonfähig macht, ist inakzeptabel. Doch es ist in der Tat zentral, sich als Liberaler des inhaltlichen Kerns des eigenen Denkens bewusst zu sein und argumentativ für diesen zu kämpfen. Genauso wichtig ist es, sich nach aussen abzugrenzen, um der Verlockung gefährlicher Koalitionen zu widerstehen. In der notwendigen Abgrenzung nach links sind Liberale seit Jahrzehnten gut geübt, aber spätestens die Flüchtlingskrise zeigt eindrücklich, wie dringend auch die Abgrenzung nach rechts ist. Wer pauschal gegen Flüchtlinge hetzt, wer vor allem Islamischen warnt und damit die Islamophobie schürt und den Untergang des Abendlandes heraufziehen sieht, katapultiert sich aus dem freiheitlichen Diskurs heraus, mag er auch noch so bemüht sein, sein Ressentiment mit liberalen Konzepten zu dekorieren.
Machen wir uns nichts vor: Die Liberalen sind heute eine kleine Minderheit. Dennoch können sie eine wichtige Rolle spielen – als Ideengeber und Vordenker von Lösungen für drängende Probleme. Der Liberalismus wird jedoch erst dann wieder Fahrt aufnehmen können, wenn sich die angezogene Handbremse löst. Wenn Inhalt und Form, Botschaft und Rhetorik wieder zusammenpassen.