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Liberal digital: vier Probleme, vier Lösungen

Wie der Liberalismus die Probleme der Digitalisierung beseitigen kann.

Der Technooptimismus in liberalen Demokratien ist einem Technopessimismus gewichen: Mit einer Mischung aus Neid und Furcht blickt man auf autoritäre Systeme, die neue Technologien augenscheinlich konsequenter, vielleicht auch besser zu nutzen wissen. Die letzte Welle des technologischen Fortschrittes, oft zusammengefasst als digitale Transformation, scheint nicht nur Unternehmen, sondern auch Staaten vor Rätsel und Probleme zu stellen. Doch weder utopischer Technooptimismus noch paranoider Technopessimismus ist angebracht: Der Liberalismus enthält weiterhin die richtigen Rezepte für den erfolgreichen Umgang mit dem technologischen Fortschritt.

Wie Liberale bestens wissen, stellen Märkte, eingebettet in entsprechend gestaltete Institutionen, die Koordination zwischen verschiedenen Akteuren auf effiziente Weise sicher. Es ist der Rechtsstaat, der individuelle Freiheitsrechte von der Privatsphäre und Redefreiheit bis zur wirtschaftlichen Freiheit garantiert, womit die Rahmenbedingungen für Innovation und ein konstantes Hinterfragen des Hier und Jetzt zugunsten einer noch besseren Zukunft geschaffen werden – Meinungsfreiheit und Anreize für neue Ideen machen es möglich. Schliesslich setzen Liberale nicht alles auf eine Karte oder Person, sondern auf Dezentralisierung und Machtbegrenzung, um flexibel reagieren zu können und um Machtungleichgewichte möglichst zu verhindern.

Dennoch ist die Politik offenbar überfordert: Entweder vergessen die Politiker ihre liberalen Überzeugungen, oder sie wenden diese nicht konsequent auf die durch den technologischen Wandel geschaffenen neuen Herausforderungen an. Die überforderte Politik ist gut beraten, sich auf die Kernelemente des Liberalismus zu besinnen und diese konsequent im digitalen Kontext anzuwenden: erstens die Rolle von Institutionen und Märkten, zweitens die individuellen Freiheitsrechte, drittens die Innovationsfähigkeit und das stete Hinterfragen des Status quo sowie viertens Machtbegrenzung und Dezentralisierung. Diese vier Elemente legen den Grundstein für den bisherigen Erfolg liberaler Systeme, gerade dann, wenn es um den Umgang mit technischem Fortschritt geht. Sie bilden nicht nur einen Rahmen für die Schaffung technischen Fortschritts, indem zum Beispiel Anreize für neue Erfindungen existieren, sondern sie stellen bei funktionierenden Institutionen auch sicher, dass der technische Fortschritt möglichst grossen Teilen der Gesellschaft nützt.

Nachfolgend werden die vier Probleme inklusive Lösungsansätze genauer ausgeführt:

I. Schritthalten mit der technischen Entwicklung

Problem: Der Gesetzgeber muss sich wie in einem Hamsterrad vorkommen: Kaum startet die Debatte über eine Technologie, ist sie auch schon wieder obsolet, weil sie sich weiterentwickelt hat. Das ist zwar kein neues Phänomen, doch die höhere Geschwindigkeit der Entwicklung und insbesondere der Verbreitung neuer Produkte und Dienstleistungen unterscheidet das digitale Zeitalter vom früheren technologischen Wandel. Da die Politik aber nicht tatenlos bleiben will, versucht sie, mit der Entwicklung schrittzuhalten, indem sie bei besonders aufsehenerregenden Konsequenzen des technologischen Wandels eine «Lösung» für den Einzelfall entwickelt, die dann aber oft nicht technologieneutral ist. So aber entsteht ein Flickenteppich, es kommt zu Regelkonflikten und -lücken. Gut zu beobachten war das bei der Diskussion um eine «Lex Booking», benannt nach der entsprechenden Online-Buchungsplattform, oder auch die verschiedenen «Uber»-Gesetzesvorschläge zur Regulierung von neuen Mobilitätslösungen in der letzten Legislaturperiode. Hier geht es um mehr als klassisches Lobbying von Interessengruppen, die ihr Geschäft durch neue Konkurrenz herausgefordert sehen und nach politischem Schutz rufen. In beiden Fällen wurden die neuen Akteure durch Technologien möglich gemacht und haben sich ex­trem schnell verbreitet und aufgrund teils sehr aggressiver Methoden auch für entsprechende Medienaufmerksamkeit gesorgt. Entsprechend sah sich die Politik zu reagieren genötigt.

«Was wir oft als Stärke autoritärer Systeme wahrnehmen – etwa kurze Entscheidungswege und Technologieeinsatz zum Machterhalt –, maskiert lediglich die Schwäche solcher Systeme: die Angst vor dem freien Individuum.»

Lösung: Fokus! Eine Besinnung auf liberale Kernelemente hilft, die richtige Frage zu finden. Es geht nämlich nicht um Schnellschüsse, sondern um die Frage, wie eine technische Entwicklung Märkte und Institutionen beeinflusst. Tendiert ein Geschäftsmodell beispielsweise zur Monopolbildung? Führt eine neue Technologie zur Entstehung neuer Arbeitsmodelle? Aus diesen Erkenntnissen lässt sich dann ableiten, wie die relevanten Institutionen – zum Beispiel das Wettbewerbsrecht oder die Sozialwerke – angepasst werden könnten. Nicht zu vergessen ist hierbei, dass Technologien oft einen Einfluss auf Transaktionskosten haben, weil sie beispielsweise die Koordination vereinfachen. So werfen sie auch die Frage des Verhältnisses zwischen Staat und privaten Akteuren auf, denn Transaktionskosten sind ein Haupttreiber des institutionellen Designs. Dank des technischen Fortschritts ist es also beispielsweise möglich, dass der Staat seine Dienstleistungen zu geringeren Kosten erbringen kann. Andererseits können Technologien die Transaktionskostenstruktur auch so ändern, dass eventuell andere Akteure plötzlich in einer besseren Position sind, gewisse Leistungen zu erbringen. Zusammenfassend muss sich die Politik fragen, was die grundlegende Veränderung neuer Technologieanwendungen ist, wie diese die Transaktionskostenstruktur ändern, und entsprechend überlegen, wie existierende Institutionen daran angepasst werden könnten.

II. Eine ganzheitliche Betrachtung

Problem: Eng zusammen mit Problem eins hängt Problem zwei: das Fehlen einer ganzheitlichen Betrachtung und stattdessen die Fokussierung auf einzelne Aspekte. Um die tatsächliche oder wahrgenommene Komplexität des technologischen Wandels zu reduzieren, erfolgt die Beurteilung und Planung von Entwicklungen anhand einfacher Kennzahlen oder einzelner Aspekte: So wird Technologie oft nur durch die Brille des Effizienz- oder Sicherheitsgewinns gesehen. Das blendet andere wichtige Aspekte aus, zum Beispiel die Frage, was politisch gewollt und demokratisch legitimiert sein kann. In der Diskussion um sogenannte Smart Cities beispielsweise wird der Nutzen von Technologien wie Sensoren oder Big-Data-Analysen oft unter dem Gesichtspunkt einer effizienteren Mobilität diskutiert. Mögliche Einschränkungen der Grundrechte, die dabei in der Bewegungsfreiheit oder beim Recht auf Privatsphäre entstehen, werden entweder gar nicht erst diskutiert oder dann mit Verweis auf die Effizienzgewinne abgetan. Es herrscht bei Anbietern, Anwendern und Regulatoren noch zu wenig Bewusstsein über die Auswirkungen von Technologien auf Grundrechte, weshalb Nutzen und Kosten auch nur unzureichend abgewogen werden können.

Lösung: Die individuellen Freiheitsrechte müssen bei der Diskussion um eine technologische Anwendung stets im Auge behalten werden. Dabei muss der Grundsatz gelten, dass die Anwendung neuer Technologien diese Rechte stärken statt unnötig einschränken sollte. Es bleibt etwa zu hoffen, dass liberale Stimmen bei Fragen wie dem grossflächigen Einsatz von Gesichtserkennungssoftware oder der anlasslosen Massenüberwachung lauter und kritischer werden, als das heute der Fall ist. Auch der hochsensible Markt von Gesundheitsdaten ist ein Bereich, in dem es gilt, Vorteile der Datensammlung und -nutzung sorgfältig gegenüber den Auswirkungen auf Freiheitsrechte zu diskutieren.

III. Alte Rezepte

Problem: Beschliesst die Politik, im Umgang mit den Konsequenzen des technologischen Wandels aktiv zu werden, hat sie meist nicht nur einen falschen Fokus, sondern bedient sich auch veralteter Rezepte. Sie handelt dann so wie Firmen, die in Zeiten der digitalen Transformation ihr Businessmodell nicht hinterfragen. Ein Beispiel der vergangenen Legislaturperiode wären auf Schweizer Ebene die Netzsperren als Teil des revidierten Geldspielgesetzes oder auf europäischer Stufe die Einführung von Upload-Filtern. Beide Rezepte sind veraltet: Wenn einem etwas nicht gefällt, sperrt man einfach den Zugang dazu. Dieses Denken stammt aus einer anderen Epoche. Doch trotz Widerstand von Experten geniessen sie in der Politik hohes Ansehen. Das ist ein Problem.

Lösung: Nicht nur die Wirtschaft, auch die Politik sollte sich stets hinterfragen und wo nötig neu erfinden, um ihrem Auftrag gerecht zu werden. Politische Instrumente und Konzepte, die aus anderen Industrien und Epochen vertraut sind, müssen auf deren Wirksamkeit im neuen Kontext hinterfragt werden. Statt Wissenslücken durch vorgefertigte Positionen von Interessengruppen zu stopfen, darf auch in einem Milizpolitbetrieb ein Mindestmass an kritischem Denken und technologischer Neugier vorausgesetzt werden. Wie beeinflussen neue Technologien die politische Toolbox? Was funktioniert nicht mehr, was ist neu möglich? Liberale Stimmen dürfen hier auch lauter zum Experimentieren aufrufen. Wie könnte Technologie selbst einen Beitrag zu einem besseren Politbetrieb ermöglichen? Beispielsweise durch Crowd­sourcing von Vernehmlassungsverfahren oder die Nutzung von Regulatory Technology, um die Erarbeitung und die Kosten der Umsetzung von Regulierungen in den Griff zu bekommen.

IV. Globales Schritthalten

Problem: Während sich die genannten drei Probleme relativ unabhängig vom politischen System stellen, stehen liberale Demokratien noch vor einer vierten Herausforderung: Sie kommen nämlich zunehmend unter Druck durch autoritäre Systeme, die den Eindruck erwecken, Technologien nicht nur besser kontrollieren und in die gewünschte Richtung fördern zu können, sondern dieses Know-how auch in andere Staaten exportieren zu können. Sie nagen somit am ohnehin etwas ramponierten Erfolgsnimbus liberaler Gesellschaften. Entgegen dem anfänglichen Glauben, dass technologischer Wandel automatisch zu einer Demokratisierung führen müsse, scheint es, dass nichtliberale Systeme mindestens so gut, wenn nicht besser darin sind, neue Technologien zu entwickeln und zum Machterhalt- und -ausbau einzusetzen. Das wohl klarste Beispiel hierfür stellt China dar, das mit Technologieprojekten wie dem Sozialkreditsystem intern um den Machterhalt kämpft, aber auch mit Strategien wie «Made in China 2025» einen globalen Anspruch anmeldet, wenn es um die Gestaltung internationaler Normen und Institutionen geht, zum Beispiel im Bereich künstliche Intelligenz.

Lösung: Technologien führen weder zu liberalen Demokratien noch zu autoritären Systemen. Westliche, bewährte Systeme mögen derzeit etwas langsam erscheinen, doch sie haben etwas, wovon autoritäre Systeme nur träumen können: Resilienz. Was wir oft als Stärke autoritärer Systeme wahrnehmen – etwa kurze Entscheidungswege und Technologieeinsatz zum Machterhalt –, maskiert lediglich die Schwäche solcher Systeme: die Angst vor dem freien Individuum. Für Bürger, die nicht zur relevanten Elite gehören, verliert ein autoritäres System, Wirtschaftswachstum hin oder her, auf lange Sicht die Attraktivität. Doch auch Systemgewinnler dürften aufgrund des fehlenden Rechtsstaates kaum ruhige Nächte verbringen. Dreht der Wind, kann ihre erlangte
Position rasch wieder verlorengehen.

V. Fazit

Steht also alles zum Besten, weil sich liberale Demokratien im globalen Wettbewerb auf ihre höhere Attraktivität verlassen können? Nein, denn diese Attraktivität ist nicht gottgegeben. Sie muss immer wieder aktiv erarbeitet werden mittels einer aktiven Orientierung an den genannten Kernelementen. Und sie hat zugegebenermassen in der Vergangenheit gelitten, als die Kluft zwischen liberalem Anspruch und liberaler Realität grösser wurde: Individuelle Freiheitsrechte stehen aktuell bis weit in urliberale Demokratien zur Debatte, oft geopfert auf dem Altar der Sicherheit oder der Effizienz. Unfreien Märkten und der Bildung von Monopolen wird nur widerwillig entgegengetreten. Zentrale In­stitutionen stehen von diversen Seiten unter Beschuss. Soll das liberale System seiner theoretischen Attraktivität gerecht werden, braucht es wieder ein überzeugtes Eintreten für die Kernelemente des Liberalismus, national, regional und international. Dann wird auch das globale Schritthalten keine unüberwindbare Herausforderung mehr sein. Denn wir wandeln uns vom Getriebenen zum Taktgeber.

Festzuhalten bleibt: Digitale Technologien eröffnen ungeahnte Möglichkeiten, die sowohl positiv, aber auch sehr negativ sein können. Gesellschaften und die Politik müssen sich deshalb von der Illusion lösen, dass der technologische Fortschritt gewissermassen per Autopilot Gutes bringt. Befürworter liberaler Demokratien sollten aber auch nicht zu pessimistisch sein, denn der Liberalismus behält weiterhin seinen Nutzen für das digitale Zeitalter. Um sicherzustellen, dass liberale Gesellschaften weiterhin an der Spitze des technologischen Fortschritts stehen und von ihm profitieren, benötigt es jedoch Kräfte, die sich im Angesicht der digitalen Transformation für liberale Kernelemente einsetzen: für freie Märkte und Institutionen, individuelle Freiheitsrechte, Innovationen und Dezentralisierung sowie Machtbegrenzung.

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